14. November 2007

Verbrechen der Sowjetkommunisten: Ein paar Fakten, die Sie wahrscheinlich nicht kannten

Hand aufs Herz: Denken Sie, daß Sie über die Verbrechen Stalins einigermaßen Bescheid wissen? Dann wissen Sie schon nicht Bescheid. Denn es ist ein verbreiteter Irrtum, daß die Verbrechen des Sowjet- Kommunismus die Verbrechen Stalins waren.

Gewiß war Stalin einer der Hauptverbrecher innerhalb dieses Systems. Aber weder hat er mit diesen Verbrechen begonnen - das waren Lenin und Trotzki -, noch endeten sie mit seinem Tod. Die Konzentrationslager für politische Häftlinge wurden erst 1986/87 durch Gorbatschow abgeschafft.

Als Gorbatschow damals daran ging, das Verbrecherische des kommunistischen Systems zu beseitigen, gab er zugleich diesem System selbst den Todesstoß. Denn dieses System war von Anfang an auf Verbrechen gegründet und ohne Staatsverbrechen überhaupt nicht lebensfähig.



Die Fakten, die ich jetzt aufliste und von denen ich vermute, daß sie den meisten Lesern ebenso neu sind, wie sie mir waren, entnehme ich der aktuellen Ausgabe des Nouvel Observateur. Sie enthält u.a. ein Interview mit Anne Applebaum, die 2005 ein Standard- Werk über den Gulag publiziert hat, Zeugenaussagen von Überlebenden und Auszüge aus zwei noch unveröffentlichen Werken von Solschenizyn.
  • Lange bevor es die KZs der Nazis gab, wurden in der Sowjetunion die ersten Konzentrationslager eingerichtet. Und zwar unter dem Namen. "Kontslager", zu dem Lenin und Trotzki das deutsche "Konzentrationslager" abgewandelt hatten. Ende 1919 gab es bereits 21 Konzentrationslager in der Sowjetunion, ein Jahr später schon 107. Die Tscheka erhielt den Auftrag, "wichtige Mitglieder der Bourgeoisie, Industrielle, Händler, konterrevolutionäre Priester und sowjetfeindliche Offiziere" festzunehmen und in diese Lager zu verbringen.

  • Unter Lenin wurden die Insassen dieser Lager isoliert, gequält oder ermordet. Stalin entdeckte die Möglichkeit, sie in großem Stil als Arbeitssklaven für den Aufbau des Sozialismus einzusetzen. Auf diese Idee hatte ihn ein gewisser Nephtali Frenkel gebracht, zunächst selbst Insasse eines Konzentrationslagers. Er entwickelte einen Plan zur Ausbeutung der Insassen von Konzentrationslagern, der Stalin faszinierte: Sie sollten Zwangsarbeit im Akkord leisten und zu Höchstleistungen angespornt werden, indem ihre tägliche Brotration von der jeweiligen Arbeitsleistung abhängig gemacht wurde. Als Organisation zur Verwaltung dieses neuen Systems gründete Stalin 1930 die "Zentrale Leitung der Lager", abgekürzt GULAG. Mit der Arbeit der Hälftlinge sollte der 1929 verkündeten Fünfjahresplan realisiert werden.

  • Das GULAG- System war die entscheidende Grundlage für die Industrialisierung der Sowjetunion. Die Lager wurden vor allem in den unwirtlichen Gebieten errichtet, in denen sich die für die Industrialisierung benötigten Rohstoffe (Kohle, Gas, Holz, Gold) überwiegend befanden. Dorthin ging kaum jemand freiwillig. Der GULAG löste dieses Problem.

  • Die meisten Häftlinge schufteten nicht etwa zur Zeit der Stalin'schen Verfolgungen oder im Zweiten Weltkrieg in diesen Lagern, sondern in den fünfziger Jahren. Nach neuen Unterlagen aus den Archiven des NKWD waren es damals 460 "Komplexe", von denen jeder Dutzende bis Hunderte Lager umfaßte. Die genaue Zahl der Lager läßt sich nicht mehr ermitteln; es waren aber mit Sicherheit mehrere tausend.

  • Zwischen 1930 und 1953 wurden, ebenfalls nach den Unterlagen des NKWD, 18 Millionen Menschen in diesen Lagern inhaftiert. Die höchste Zahl der gleichzeitig Inhaftierten wurde mit 2,5 Millionen im Jahr 1951 erreicht.

  • Anfangs - unter Lenin - waren die Insassen, wie erwähnt, überwiegend "Bourgeois", Industrielle, Offiziere und Priester gewesen. Unter Stalin änderte sich das. Jeder beliebige Sowjetbürger konnte unter irgendeiner Beschuldigung inhaftiert werden, damit die jeweils für ein Gebiet festgelegte Zahl von abzuliefernden Häftlingen erreicht wurde. Die meisten Insassen waren nicht politisch aktiv gewesen; es waren Bauern und Arbeiter, auf die der berüchtigte Paragraph 58 ("antisowjetische Agitation") angewandt wurde. Während des Kriegs kamen Angehörige von Nationalitäten (vor allem Ukrainer und Balten) hinzu, die man des Antisowjetismus verdächtigte. Nach Kriegsende wurden zurückgekehrte Kriegsgefangene in die Lager eingeliefert, denen allein aufgrund des Umstands, daß sie sich den Deutschen ergeben hatten, "Spionage" vorgeworfen wurde.

  • Die Zahl der Todesopfer ist nicht mehr genau zu ermitteln. Während des "großen Terrors" 1937/38 wurden ungefähr 800 000 Menschen hingerichtet; ein Teil davon (ungefähr 350 000) im GULAG. Die Hinrichtungen erfolgten so, daß die Delinquenten in größeren Gruppen in einen Wald geführt und dort mit Maschinengewehren erschossen wurden. Die meisten Opfer kamen aber durch Krankheiten, Verhungern, Erschöpfung und aufgrund von Mißhandlungen ums Leben. In den Lagern lag die Todesrate aus diesen Ursachen bei bis zu 60 Prozent. Viele Insassen starben an Skorbut und Tuberkulose. Da der Nachschub mühelos zu organisieren war, hatten die Lagerkommandant kein Interesse daran, ihre Häftlinge am Leben zu erhalten. Die offizielle Zahl der Todesopfer in den Akten des NKWD ist 1,6 Millionen. Anne Applebaum hält diese Zahl für viel zu niedrig, weil sie die (sehr zahlreichen) auf den Transporten ums Leben Gekommenen nicht enthält und weil Lagerkommandanten die Zahl der Todesopfer in der Regel unvollständig angaben.

  • In den fünfziger Jahren wurde GULAG als Organisation aufgelöst, aber die Konzentrationslager bestanden weiter. 1970 gab es immer noch 10 000 politische Gefangene in solchen Lagern. Sie wurden erst von Gorbatschow aufgelöst.

  • Einer der Zeugen, die im Nouvel Observateur zu Wort kommen, Gueorgui Khomizuri, wurde noch 1983 unter der Beschuldigung, verbotene Bücher zu besitzen, zu sechs Jahren Lager verurteilt und in ein Lager in Mordovien verbracht. Als er wegen der unmenschlichen Haftbedingungen in den Streik trat, wurde er eine Woche lang in eine Zelle mit einer Wandlänge von 1,30 m gesperrt. Er mußte den ganzen Tag über stehen und konnte sich nicht einmal an die Wand lehnen, weil die Wände mit spitzen Stacheln versehen waren. Nachts erhielt er eine Pritsche ohne Bettzeug, auf der er zusammengekrümmt liegen konnte. Er zittere so vor Kälte, daß er selten schlafen konnte. Er wurde 1987 aufgrund von Gorbatschows Amnestie für politische Gefangene freigelassen.

  • Die Erinnerungen der anderen Zeugen datieren weiter zurück. Einer, Juri Fidelgolts, war 1948 wegen "antisowjetischer Agitation" verurteilt worden. Er mußte in einem Lager in Bratsk, nah dem Baikalsee, beim Bau eines Elektrizitätswerks arbeiten. Da er schwach war, erhielt er eine seiner Arbeitsleistung "entsprechende" Nahrungsration - 300 g Brot am Tag. Später kam er in ein Lager bei Kolyma, das einer Metallfabrik angeschlossen war. Die Bedingungen dort waren so mörderisch, daß von 10 Häftlingen 8 starben.

  • Und so fort - ein 11-Stunden-Arbeitstag in einer Mine; bei 400 Gramm Brot am Tag. Arbeiten auch bei minus 40 Grad; Schlafen in der Arbeitskleidung auf Pritschen ohne Decken. Die Herrschaft der Kapos, meist gewöhnliche Kriminelle. Im Krieg das Angebot der Freilassung, wenn man sich zur Roten Armee zum Einsatz in der vordersten Frontlinie meldet. Ein Streikversuch im Lager Norilsk (Abbau von Kobalt, Nickel, Kupfer und Kohle) wurde dadurch unterbunden, daß mit Maschinengewehren in die Gruppe der Streikenden hineingeschossen wurde; es starben Hunderte.
  • Ja, gewiß, das ist Jahrzehnte her. Sollte man es also nicht besser vergessen?

    Gueorgui Khomizuri erhielt für vier Jahre Konzentrationslager eine Entschädigung von 1000 Rubel. Er hat mehrfach an Putin geschrieben mit der Aufforderung, der Staat möge sich bei ihm für das angetane Unrecht entschuldigen. Er erhielt nicht einmal eine Antwort.

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