30. September 2008

Was ist da im US-Repräsentantenhaus passiert? Über die Angst von Abgeordneten und die Gefahren des Populismus

Wie konnte so etwas passieren? Wie konnte eine Mehrheit der Abgeordneten im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten so unvernünftig, ja so verantwortunglos sein, den zwischen den Parteien ausgehandelten Rettungsplan abzulehnen, der den amerikanischen Finanzmarkt, vielleicht die Finanzmärkte der Welt vor dem Kollaps bewahren sollte?

Die Abgeordneten sagten nein. Mit dem ersten absehbaren Effekt, daß die New Yorker Börse "zusammenklappte", wie es das Wall Street Journal formulierte ("Broad Stock-Market Swoon"). Was noch alles an schwarzen Schwänen auftauchen wird, weiß niemand.

Was ist da passiert? Es gibt eine wohlfeile, eine bestens zu den üblichen Vorurteilen über die neoliberalen Konservativen in den USA passende Story, die man zum Beispiel von ZDF angeboten bekommt:
Nach Einschätzung von ZDF- Korrespondent Klaus- Peter Siegloch hat die Ablehnung des Rettungsplans vor allem ideologische Gründe. Die Mehrheit der Republikaner lehnten staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft ab. Einige Abgeordnete würden in dem Rettungsplan eine Art Finanzsozialismus sehen, bei dem der Steuerzahler für die Verluste der Banken aufkommen solle.
Da haben wir sie, die Konservativen: Erst richten sie mit ihrem Neoliberalismus ein Desaster an, und dann legen sie auch noch ihr Veto gegen einen Rettungsplan ein.

Nur spricht wenig dafür, daß die "Einschätzung" von Siegloch zutrifft.



Haben Sie sich auch darüber gewundert, wieso der Plan eigentlich scheitern konnte, wo doch im Repräsentantenhaus nicht die Konservativen, sondern die von Nancy Pelosi angeführten Demokraten eine Mehrheit haben? Und zwar eine deutliche: An der Abstimmung nahmen 235 Demokraten und 198 Republikaner teil.

War etwa zur Annahme des Rettungsplans eine qualifizierte Mehrheit erforderlich? Keineswegs. Die Demokraten hätten den Plan durchbringen können, selbst wenn die Republikaner geschlossen dagegen gestimmt hätten.

Also - mit ideologischen Vorbehalten gegen einen "Finanzsozialismus" allein kann das Abstimmungsergebnis nicht erklärt werden.

Sehen wir uns einmal an, wer denn für und wer gegen den Rettungsplan gestimmt hat. Das Wall Street Journal listet auf, wie jeder einzelne Abgeordnete abgestimmt hat. Zugestimmt haben ganze 140 Demokraten von 235. Abgelehnt haben den Plan 133 von 198 Republikanern.

Der Plan ist also an Abgeordneten beider Parteien gescheitert. Bei den Republikanern gab es mehr Neinstimmen, das ist wahr. Aber auch zahlreiche Demokraten haben mit "nein" gestimmt. Hatten auch sie "ideologische Gründe" für ihr negatives Votum?

Vielleicht. Aber gewiß fürchteten sie keinen Finanzsozialismus. In der heutigen "Süddeutschen Zeitung" schreiben Christian Wernicke und Moritz Koch:
Die Reichen an der Wall Street dürften nicht mit Steuergeld für ihre riskanten Exzesse belohnt werden. Das sehen auch viele Demokraten so. Vor allem linke Abgeordnete aus Wahlkreisen, wo die Krise inzwischen die Arbeitslosigkeit in die Höhe und die Preise für das Eigenheim in den Keller getrieben hat, spüren Wut darüber, welche Art von Solidarität ihnen ihre Parteiführung abverlangt.
Nicht um Finanzsozialismus geht es. Es geht um Wall Street gegen Main Street. Es geht um Wir da unten und Die da oben. Es geht um die Krupps und die Krauses. Es geht um Populismus.



In Europa wird oft übersehen, daß am 4. November nicht nur der Präsident gewählt wird, sondern auch alle Abgeordenten des Repräsentantenhauses und die Hälfte der Senatoren. Da es in den USA bekanntlich ein reines Mehrheitswahlrecht gibt, kann kein Abgeordneter, kann kein Senator seiner Wiederwahl sicher sein.

Anders als die oft durch einen Listenplatz abgesicherten Abgeordneten in Deutschland hängt in den USA jeder Mandatsträger unmittelbar von den Wählern seines Heimatstaats, seines Wahlbezirks ab. Und diese nutzen ihre Macht, indem sie ihre Abgeordneten zu wichtigen und aktuellen Themen mit Briefen und Emails bombardieren, in denen sie ihre Meinung kundtun; oft ganz direkt ein bestimmtes Abstimmungsverhalten fordern.

Daß dies der Kern des jetzigen Abstimmungs- Desasters ist, hat in der BBC Kevin Connolly gestern Abend sehr klar herausgearbeitet.

Unter der Überschrift: "Warum scheiterte der Bail-Out"? schreibt er, daß die Abgeordneten in den letzten Tagen zwei Arten von Druck ausgesetzt gewesen seien. Zum einen dem unerbittlichen Druck aus dem Weißen Haus: Ohne den Rettungsplan würde das ganze amerikanische Finanzsystem zu einem knirschenden Stillstand kommen, weil der Geldfluß austrocknen würde. Aber das war nicht alles:
But the second pressure which is much harder to measure came from ordinary voters writing or emailing their own members of Congress angrily demanding that they reject a scheme which is universally perceived here as a bail-out of Wall Street bankers.

Der zweite Druck aber, der viel schwerer zu messen ist, kam von gewöhnlichen Wählern, die ihren jeweiligen Mitgliedern des Kongresses wütende Emails schickten und sie auffordertern, einen Plan abzulehnen, der hier allgemein so wahrgenommen wird, daß den Bankern der Wallstreet aus der Klemme geholfen werden soll.
Eine verständliche Reaktion vieler Wähler, die um ihr Haus, um ihr kleines Vermögen fürchten und die wissen, daß ihnen der Staat nicht aus der Klemme helfen würde, wenn es ihnen ginge wie jetzt den Bankern.

Nur ist es die Aufgabe verantwortlich handelnder Politiker, in einer solchen Situation nicht der Vox Populi zu folgen, sondern ihrer eigenen Einsicht.

Diese sagt ihnen, daß ohne eine Rettungsaktion nicht nur die Finanzmärkte in die Knie gehen werden, sondern am Ende auch das Haus und das kleine Vermögen des Kleinen Manns in Gefahr wäre. Wie meist geht es den Krauses ja nicht besser, wenn es den Krupps schlecht geht; im Gegenteil.



Diesen Zusammenhang haben viele Wähler augenscheinlich noch nicht erkannt.

Und viele Abgeordnete des Repräsentantenhauses, die um ihrer Wiederwahl willen gern dem Verlangen ihrer Wähler folgen wollten, dürften gestern wohl stillschweigend darauf gerechnet haben, daß das Gesetz am Ende doch eine Mehrheit bekommen würde. Daß sie selbst mit "nein" stimmen und damit vor ihren Wählern würden glänzen können. Daß aber die anderen Abgeordneten schon dafür sorgen würden, daß das Gesetz eine Mehrheit bekäme.

Das ist danebengegangen. Jetzt liegt das Kind erst mal im Brunnen. Man wird alle Anstrengungen machen, es herauszuklauben, bevor es ertrunken ist. Donnerstag soll die nächste Sitzung sein.

Leicht wird das nicht werden. Denn das Abstimmungs- Verhalten jedes Abgeordneten ist jetzt aktenkundig. Jeder, der bei einer erneuten Vorlage des Gesetzes sein Votum ändert, wird sich im Wahlkampf vorwerfen lassen müssen, zugunsten der Bosse umgefallen zu sein.

Erst einmal, schreibt Kevin Connolly, werden jetzt die Kurse abstürzen. Es wird unübersehbar werden, daß wir vor der Gefahr einer Welt- Wirtschaftskrise stehen. Und das könnte auf eine paradoxe Weise auch sein Gutes haben:
It is possible that the sense of global crisis may - perversely - offer a way out of this. American voters simply have not seen this as a crisis that affects their real lives on Main Street - it is seen as a welfare scheme for the humbled plutocrats of Wall Street. If the problems deepen and people suddenly see unemployment rising because businesses cannot get money from the banks to pay their bills and honour their payrolls, then that sentiment might change.

Es ist möglich, daß eine allgemeine Krisenstimmung - perverserweise - einen Ausweg bieten könnte. Die amerikanischen Wähler sehen das einfach noch nicht als eine Krise, die ihr reales Leben an der Main Street betrifft; es wird als ein Hilfsprogramm für die gedemütigten Plutokraten der Wall Street gesehen. Wenn die Probleme sich verschärfen und die Menschen plötzlich die Arbeitslosigkeit ansteigen sehen, weil die Unternehmen von den Banken kein Geld mehr bekommen, um ihre Rechnungen und die Gehälter zu bezahlen, dann könnte diese Stimmung kippen.


Ob diese jetzige Krise ein Lehrstück in Sachen Kapitalismus ist, weiß ich nicht. Aber es scheint, daß sie ein Lehrstück in Sachen Demokratie ist:

Werden sich im amerikanischen Kongreß genug Abgeordnete finden, die das Wohl des Gemeinwesens über die Chancen für ihre eigene Wiederwahl stellen?

Wird, mit anderen Worten, der Populismus siegen oder die Vernunft?



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