6. September 2010

Sarrazin und die Folgen. Haben wir in Deutschland noch eine Demokratie?

Noch nie hatte ZR so viele Besucher wie in diesen Tagen; in anderen politischen Blogs dürfte es nicht anders sein. Noch nie waren in Zettels kleinem Zimmer 85 Besucher zugleich anwesend gewesen; so am vergangenen Dienstag, auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Diskussion.

Noch nie auch habe ich innerhalb von zwei Wochen so viele Beiträge zum selben Thema - allerdings zu recht unterschiedlichen Aspekten - geschrieben (siehe Anhang); weitere Artikel werden folgen.

Die Diskussion über die Thesen Thilo Sarrazins bewegt unser Land wie keine politisch-gesellschaftliche Debatte seit der Wiedervereinigung. Und es ist die seltsamste Debatte, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland geführt wurde.

Denn diese Debatte findet ganz überwiegend nicht in den Medien statt. Jedenfalls in der ersten Phase - beginnend mit dem Vorabdruck eines Ausschnitts aus Sarrazins Buch als Essay im "Spiegel" 34/2010 vom 23. August (siehe Thilo Sarrazin über Einwanderungspolitik; ZR vom 22. 8. 2010) - wurde dort überwiegend nicht debattiert, sondern agitiert.

Die Medien berichteten über eine Welle der Ablehnung von Sarrazins Thesen; ja der Empörung über sie (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010). Sie berichteten darüber, und sie schaukelten selbst auf ihr, auf dieser Welle. Sie - die meisten deutschen Medien, ob Druckmedien oder TV - taten darüber hinaus alles, diese über Thilo Sarrazin hereinbrechende Welle der Entrüstung anwachsen zu lassen.

Der deprimierende, der beklemmende Höhepunkt war die Sendung "Beckmann" in der ARD heute vor einer Woche (siehe meinen Kurzkommentar vom Montag und Calimeros Besprechung vom Dienstag). Produziert vom NDR, das sollte man laut sagen; die Schande hat ja einen Urheber.

Das war kein Beitrag zu einer öffentlichen Debatte; sondern es war der Versuch, diese mittels eines Show-Tribunals in Gestalt einer Scheindiskussion abzuwürgen; einer "Gerichtssitzung", so die Schweizer "Weltwoche". Ein Tiefpunkt des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Eine Sendung, die totalitäre Züge trug.



Die Medien also boten ganz überwiegend nicht Debatte, sondern Empörtheit und Diffamierung; jedenfalls zunächst. Eine Diskussion fand aber doch statt; nur sozusagen nicht horizontal, sondern vertikal: Nicht innerhalb der Medien, die sich überwiegend verhielten, als seien sie von einem Ministerium gleichgeschaltet, sondern zwischen den Medien auf der einen Seite und einem großen Teil der Bevölkerung andererseits.

Wie können Medien und Bevölkerung miteinander diskutieren? Durch Anrufe, durch Mails, durch SMS, die an die Medien geschickt werden. Durch Online-Abstimmungen. Durch Eintragungen in Gästebücher; dergleichen. Eine einseitige "Diskussion" gewiß, mit wenig Antworten, aber immerhin.

Von diesen Reaktionen aus der Bevölkerung wurde das eine oder andere mitgeteilt.

Am Montag informierte der Moderator Beckmann gegen Ende seiner Sendung schmallippig darüber, daß die Mehrheit der Zuschauer, die sich geäußert hatten, Sarrazin zustimmten. Sagte es und zitierte überwiegend solche Stimmen von Zuschauern, die sich gegen Sarrazin äußerten.

Am Mittwoch teilte in der Sendung "Hart, aber fair" eine betrübt dreinblickende Redakteurin mit, daß auch dort eine große Mehrheit der Zuschauer, die sich zu Wort gemeldet hatten, Sarrazin zustimmten.

Nun sind solche Äußerungen freilich nicht repräsentativ. Wer anruft, wer an einer Online-Abstimmung teilnimmt, der ist politisch interessiert; der will seine Meinung zu Protokoll geben. Was denken die anderen Deutschen über Sarrazin, was denkt die, wie man so sagt, "schweigende Mehrheit"?

Sie werden es nicht glauben: Wir wissen es nicht. Zwei Wochen nach dem Erscheinen des "Spiegel"-Artikels, mit dem die Debatte begann, liegt immer noch keine einzige demoskopische Umfrage zur Reaktion auf Sarrazins Thesen vor. Oder sagen wir präziser: Es ist noch keine veröffentlicht. Was möglicherweise gefragt wurde, aber noch unter Verschluß gehalten wird, wissen wir nicht.

Am vergangenen Donnerstag, dem 2. September, sendete die ARD den "Deutschlandtrend". Die vollständigen Daten können Sie sich in dieser PDF-Datei ansehen.

Die Umfrage enthält in dieser schriftlichen Fassung keine einzige Frage zur Sarrazin-Debatte, die, als die Erhebung begann, seit einer Woche das Hauptthema der innenpolitischen Diskussion gewesen war. Bei Infratest dimap, das für den WDR den "Deutschlandtrend" erhebt, gibt es allerdings ein "September extra"; darin die Daten einer Erhebung am 2. September. Also eine Nachbefragung am Tag der Sendung. Ihr Ergebnis wurde in diese eingebaut.

Wurden dort die Befragten danach gefragt, ob Sie Sarrazin zustimmten oder vielmehr seinen Kritikern? Keineswegs. Es gab zwei Fragen. Zum einen wurde gefragt, ob es Sarrazin eher um "die Sache [ging], also die Probleme bei der Integration oder um persönliche Aufmerksamkeit für den besseren Verkauf seines Buches". Die andere Frage bezog sich darauf, ob Sarrazin nach seinen Äußerungen im Vorstand der Bundesbank "noch tragbar" sei.

Vor allem die zweite Frage ist tendenziös formuliert und verstößt damit gegen die Grundregeln der Demoskopie; eine neutrale Formulierung wäre beispielsweise gewesen, ob Sarrazin weiter im Vorstand der Bundesbank bleiben solle, oder ob man dafür sei, daß diese ihn entläßt.

Aber nicht das ist das Skandalöse, sondern daß die simpelste, die offensichtliche Frage nicht gestellt wurde; die Frage, die jedes seriöse demoskopische Institut gestellt hätte: Ob man eher Sarrazin oder eher seinen Kritikern zustimmt. Wie man das nach den handwerklichen Regeln der Profession hätte formulieren können, habe ich in Zettels kleinem Zimmer erläutert.

Warum hat man diese Frage nicht gestellt? In seinem Blog bei der Tagesschau schreibt der für den "Deutschlandtrend" zuständige Redakteur Jörg Schönenborn unter der mehrdeutigen Überschrift "Sarrazin - nicht zu fassen":
Kann man die Zustimmung zu Thilo Sarrazin mit repräsentativen Umfragen messen? (...)

Wonach sollen wir fragen? Wir merken schnell, die inhaltlichen Schwerpunkte verschieben sich ständig. Geht’s um Integration? Geht’s um die Vererbung von Intelligenz? Geht’s um genetische Veranlagung? Auf wenige Zeilen in einem Fragebogen reduziert, so mein Eindruck, lässt sich das kaum neutral formulieren. (...)

Dabei habe ich mich gegen inhaltliche Fragestellungen entschieden. Längst konzentriert sich die Debatte auf einen anderen Punkt: Kann jemand wie Thilo Sarrazin weiterhin Bundesbank-Vorstand bleiben? Die Bundesbank hat heute ja bei Bundespräsident Wulff seine Abberufung beantragt.
Windbeutelei. Natürlich weiß Schönenborn, daß sich die Debatte nach wie vor auf die Thesen Sarrazins "konzentriert". Und natürlich weiß er, daß es bei der Messung von Einstellungen keineswegs darum geht, nach einzelnen Punkten zu fragen.

Das tut Gallup nicht, wenn es allgemein nach der Zustimmung zur Amtsführung von Präsident Obama fragt. Das tun deutsche demoskopische Institute nicht, wenn sie nach der Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage fragen, oder nach der Zufriedenheit mit der Bundesregierung. Erfaßt werden soll mit solchen Fragen eben gerade nicht die Beurteilung einzelner Sachverhalte, sondern die generelle momentane Einstellung.

Pauschal nach der Zufriedenheit mit der Bundesregierung fragt übrigens regelmäßig Infratest dimap, beauftragt von niemandem anderen als Jörg Schönenborn; zuständig für den "Deutschlandtrend" der ARD.

Diffamierende Kritik quer durch die Printmedien und die TV-Sender also. Dazu die Weigerung, die wahre öffentliche Meinung - nämlich die in der Bevölkerung - zu Sarrazin zu ermitteln, jedenfalls sie zu publizieren. Und dann ist da ja auch noch die persönliche Seite. Parallel zu der Agitation gegen sein Buch ging man gegen den Autor persönlich vor. Inzwischen hat bekanntlich die Bundesbank beim Bundespräsidenten die Entlassung ihres Vorstandsmitglieds Sarrazin beantragt. Inzwischen hat die Berliner SPD ein Verfahren eingeleitet mit dem Ziel, ihn aus der Partei zu werfen.

Inzwischen wurde die erste Lesung seiner geplanten Lesereise von der Buchhandlung Decius in Hildesheim aus Sicherheitsgründen abgesagt. Gegen eine für den 9. September in Potsdam vorgesehene Lesung gibt es Drohungen. Am vorgesehenen Veranstaltungsort wurde sie abgesagt. Sie soll nun an einem anderen Ort stattfinden.



Nimmt man das alles in den Blick, dann ist es nachvollziehbar, wenn viele Bürger sich fragen, ob wir denn noch in "einer Demokratie" leben.

Die Frage ist berechtigt, und die Antwort ist einfach: Ja, wir leben in einer Demokratie. Und mehr noch: Die Entwicklung der Sarrazin-Diskussion in den vergangenen Tagen läßt erkennen, wie vital diese Demokratie ist. Denn - so wird es zunehmend sichtbar - gegen die Meinung in der Bevölkerung kann das Kartell der Herrscher über die politischen Apparate und der Herren über die meisten Medien sich immer weniger behaupten.

Heute vor einer Woche bei Beckmann wurde Sarrazin vor ein Tribunal gestellt; wie oben beschrieben. Am Mittwoch bei Plasberg war immerhin schon ein Gast - Arnulf Baring - eingeladen worden, der ihm überwiegend zur Seite stand. Am Donnerstag bei Illner waren schon zwei Diskutanten mit von der Partie - Henryk M. Broder und Roger Köppel -, die für eine faire Diskussion mit und über Thilo Sarrazin eintraten. Ebenso bei Anne Will gestern, wo mit Necla Kelek sogar Sarrazins Laudatorin eingeladen worden war.

Das Klima ist längst nicht mehr so "giftig" (Roger Köppel bei Maybrit Illner) wie in der ersten Woche dieser Diskussion. Die Stimmung in der Bevölkerung findet ganz offensichtlich Widerhall in den Medien.

Auch in den gedruckten. Beispiele für differenzierte, die Meinungsfreiheit betonende und oft auch Sarrazin zustimmende Kommentare habe ich vorgestern hier zusammengestellt. Gestern ist in sueddeutsche.de eine Stellungnahme von Klaus von Dohnanyi (SPD; einst Minister im Kabinett Helmut Schmidt und Erster Bürgermeister von Hamburg) hinzugekommen; Titel "Feigheit vor dem Wort". Der letzte Absatz dieses bemerkenswerten Kommentars lautet:
Aus keiner europäischen Linkspartei würde Sarrazin wegen dieses Buches ausgeschlossen. Wenn die SPD ihn ausschließen will, stehe ich bereit, ihn vor der Schiedskommission zu verteidigen. Einen fairen Prozess wird es ja wohl noch geben. Das Wichtigste, sagte Willy Brandt in einer seiner letzten Reden, sei ihm immer die Freiheit gewesen. Er fügte hinzu: "Ohne Wenn und Aber."
Und die Parteien? Die SPD, deren Vorsitzender die Sprache des Autors Sarrazin "gewalttätig" genannt hatte? Die FDP, deren Voritzender Sarrazin unterstellt hatte, er leiste Rassismus und Antisemitismus Vorschub?

Auch die Politik beginnt nach zwei Wochen unverkennbar, auf die Stimmung in der Bevölkerung zu reagieren (aus der FDP allerdings ist davon noch nichts zu vernehmen; ausgerechnet aus der Partei der Freiheit nicht). Gestern in "Welt-Online":
Bayerns Innenminister Herrmann sagte ..., manche Thesen Sarrazins seien zwar unsäglich. Wo Probleme seien, müssten sie aber klar angesprochen werden. "Und die größten Probleme haben wir zweifellos bei einem Teil der Muslime aus der Türkei." (...)

Auch der Bürgermeister des Berliner Stadtbezirks Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), forderte im "Tagesspiegel" eine breite Debatte über Bildung und Integration. (...)

Merkel sagte der "Bild am Sonntag": (...) Die statistisch erhöhte Gewaltbereitschaft muslimischer Jugendlicher dürfe nicht tabuisiert werden. (...)

SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte die Schaffung eines jährlichen Integrationsberichts. (...) Auf dieser Basis könnten dann politische Handlungspläne für einzelne Felder abgeleitet werden, wie etwa zur Verringerung der Zahl der Schulabbrecher oder zur Kriminalitätsbekämpfung.
Und Sarrazins Lesereise? Nachdem die erste Lesung abgesagt war und die zweite verlegt werden mußte, scheint es nun doch munter loszugehen. Dazu heute dpa, beispielsweise in der "Kölnischen Rundschau" unter der Überschrift "Der Ansturm ist unglaublich" zu lesen:
Im Münchner Literaturhaus steht das Telefon nicht mehr still. Die Diskussionsrunde mit Thilo Sarrazin am 29. September ist längst ausverkauft. "Der Ansturm ist unglaublich", sagt Sprecherin Marion Bösker. Viele wollten noch Karten, andere fürchteten, der Termin könnte abgesagt werden. "Das Publikum will keine Zensur. Die wollen über das reden, was sie bewegt." (...)

Ob München, Menden oder Sindelfingen, ob kleiner Buchladen oder große Online-Buchhandlung: Sarrazins Werk "Deutschland schafft sich ab" findet reißenden Absatz, die Veranstalter von Lesungen und Podiumsdiskussionen mit dem Bundesbanker werden regelrecht überrannt.



Nein, diese Sarrazin-Diskussion zeigt nicht, daß wir "keine Demokratie mehr haben". Sie zeigt, wie sich immer mehr abzeichnet, das Gegenteil. Wir haben eine sehr lebendige Demokratie.

Mit ihrer Arroganz und Selbstgerechtigkeit, mit dem Versuch, eine Meinungsdominanz der politischen Korrektheit auch hier durchzupauken, kommen die Mächtigen der Politik und großer Teile der Medien nicht durch. Sie müssen zurückrudern, weil die Bevölkerung es in ihrer Mehrheit so will. Diese Wochen seit dem 23. August könnten sich am Ende als eine Sternstunde der deutschen Demokratie erweisen.




Eine Liste der Artikel über die Sarrazin-Debatte, die bis zum 31. August in ZR erschienen waren, finden Sie hier. Inzwischen sind diese Artikel hinzugekommen:
  • Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero; ZR vom 31. 8. 2010

  • Zitat des Tages: "Verhöhnung der berechtigten Unruhe in der Bevölkerung". Arnulf Baring gestern bei Plasberg; ZR vom 2. 9. 2010

  • Marginalie: Leseempfehlungen zu Sarrazin (erweiterte und aktualisierte Fassung); ZR vom 4. 9. 2010
  • Links zu allen Folgen der Serie "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft" finden Sie hier.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Die Frankfurter Paulskirche im Jahr 1848, als dort die erste deutsche Nationalversammlung tagte. Aquarell von Jean Nicolas Ventadour; Historisches Museum Frankfurt. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Mit Dank an tekstballonetje und an Uwe Herzog.