5. November 2010

Zitat des Tages: Fällt Ihnen an diesem Zitat etwas auf?

Wenn Tausende Schüler von ihren begüterten Eltern Krankschreibungen bekommen, um zu demonstrieren, dann ist das ein Missbrauch des Demonstrationsrechts.

Innenminister Thomas de Maizière über Demonstrationen gegen Stuttgart 21; so wie ihn im aktuellen "Zeit-Magazin" Harald Martenstein zitiert.


Kommentar: So ganz exakt ist das Zitat nicht. Martenstein hat sich offenbar aus der Presse bedient, vielleicht bei "Spiegel-Online". Tatsächlich hat de Maizière gesagt: "Wenn in Stuttgart Tausende von dreizehnjährigen Schülern von ihren begüterten Eltern Krankschreibungen kriegen, um zu demonstrieren, dann ist das ein Mißbrauch des Demonstrationsrechts".

Aber nun gut, von einem gutbezahlten Kolumnisten einer führenden Zeitschrift kann man wohl nicht erwarten, daß er seine Zitate verifiziert und daß das, was er wörtlich zitiert, auch wörtlich so gesagt wurde.

Darum geht es mir auch gar nicht. Es geht mir darum, daß Harald Martenstein etwas aufgefallen ist, was mir nicht aufgefallen war: etwas Seltsames, ja Unverständliches an diesem Satz des Innenministers.

Bevor Sie weiterlesen: Fällt denn Ihnen etwas auf an diesem Satz?

Lesen Sie jetzt, was Martenstein anmerkt:
Ich frage mich, wieso er in diesem Satz das Wort "begütert" verwendet hat. Das Demonstrationsrecht ist, soweit ich weiß, in unserem Land für Begüterte und Unbegüterte gleich. Wenn Eltern ihrem Kind eine falsche Krankschreibung geben, dann ist es folglich zur Beurteilung dieses Verhaltens egal, ob die Eltern viel Geld haben oder wenig. Gleiches Recht für alle – so heißt es doch.

Offenbar wollte der Minister durch die Verwendung des Wortes "begütert" Eltern, die falsche Krank-schreibungen verfassen, besonders unsympathisch und besonders skrupellos erscheinen lassen. Eine andere Erklärung für das Wort "begütert" habe ich beim besten Willen nicht finden können.
Und da hat er nun Recht, der Kolumnist Harald Martenstein.

Nachdem ich das gelesen hatte, gingen mir zwei Dinge durch den Kopf:

Erstens: Auch mir war das nicht aufgefallen, obwohl ich immer wieder gegen die Herabsetzung von "Reichen", "Gierigen" usw. wettere (siehe zum Beispiel Das "Unwort des Jahres" - politische Agitation unter dem Deckmantel der Sprachkritik; ZR vom 18. 1. 2010 und Reichtum in Deutschland. Einige Informationen, die Sie möglicherweise überraschen werden; ZR vom 12. 10. 2010).

Aber daß de Maizière, selbst ja nicht gerade der Unterschicht entstammend, das Wort "begütert" in seine Schelte der Vorgänge bei Demonstrationen in Stuttgart einflicht, um seine negative Beurteilung zu unterstreichen - das war mir entgangen.

Es zeigt, so scheint mir, wie abgehärtet wir in dieser Hinsicht schon sind. Man stelle sich vor, wie jeder Leser aufgeschreckt wäre, wenn de Maizière statt "von ihren begüterten Eltern" gesagt hätte "von ihren zugewanderten Eltern" oder "von ihren arbeitslosen Eltern"; was ja vermutlich rein statistisch genauso richtig oder falsch gewesen wäre.

Die "Begüterten" sind eben eine der Gruppen in Deutschland, die man herabsetzen darf, ohne daß sich ein Zeigefinger des Empörtseins reckt; neben den Männern natürlich und den Energiekonzernen.



Bemerkenswert ist zweitens, daß Martenstein das, was er in dieser Kolumne schreibt, im "Zeit-Magazin" publizieren durfte.

Und nicht nur das. In dem Artikel, der skandalöserweise durchgängig frei von Anklagen gegen die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung ist, findet sich auch noch der Satz "Es gibt doch sympathische und verantwortungsbewusste Menschen auch unter den Begüterten".

Ich hoffe, daß der Kolumnisten-Vertrag von Martenstein noch lange läuft. Auf eine Verlängerung wird jemand, der es so eklatant an gesellschaftlichem Bewußtsein fehlen läßt, bei der liberalen "Zeit" wohl nicht rechnen können.



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