31. Januar 2011

Aufruhr in Arabien (4): Plünderer, Bürgerwehren, die Armee, die Polizei. Und die Moslem-Bruderschaft. Die Machtsituation in Ägypten

In Ägypten herrscht zunehmend Gewalt; unter anderem ausgeübt von Gefangenen, denen der Ausbruch aus den Gefängnissen gelang. Über den Hintergrund grassiert eine abenteuerliche Verschwörungstheorie, die gestern auch von den "Tagesthemen" der ARD verbreitet wurde.

Der Moderator Tom Buhrow sprach von einem "schlimmen Verdacht": "Das Regime schüre selbst das Chaos, um später als Retter in der Not aufzutreten". Der Kairoer Korrespondent Jörg Armbruster wurde noch konkreter:
Das sieht ganz danach aus, daß es eine koordinierte Aktion war, denn irgend jemand muß ja diese vielen Gefängnistüren aufgeschlossen haben. Und wenn man sich fragt, wem nützt diese ganze Aktion, wem nützt die Angst der Menschen, die sich jetzt immer mehr hier in Kairo und im ganzen Land verbreitet, dann kommt man sehr schnell auf das Regime. Und wenn man sich fragt, wem schadet diese Aktion, dann kommt man auf die Demonstranten. Denn die Angst der Menschen wendet sich gegen die Demonstranten. Und ich vermute sehr stark, daß hinter der Freilassung der Gefangenen ein ganz perfider Plan steckt.
"Auch das sehr erschütternde Informationen. Danke, Jörg Armbruster in Kairo" kommentierte das Tom Buhrow.

Informationen? Daß Gefangene ausgebrochen sind, ist allgemein bekannt. Darüber hinaus hat der Korrespondent Armbruster keine Informationen geliefert, null. Er hat vielmehr eine Verschwörungstheorie weitergegeben, die in Ägypten, die im Internet kursiert.

Armbruster fragt, wem der Ausbruch der Gefangenen nutzt, wem sie schadet. Eine gute Frage. Dem Regime, meint er, nütze diese Aktion. Ist das eine gute Antwort?

Daß ein Regime, das durch eine Revolution bedroht ist, bewußt das Chaos schürt, wäre etwas in der Geschichte von Revolutionen zumindest Ungewöhnliches. Wenn ein etabliertes System bedroht ist, dann tut es in der Regel alles, um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht; das ist dann die Devise. Die Regierung Tunesiens hat gerade vorexerziert, wie man sie umsetzen kann (siehe Die (vorerst) gescheiterte (Fast-) Commune in der Kasbah von Tunis; ZR vom 30. 1. 2011).



Das Gerücht, das Jörg Armbruster weitergibt, hat also nicht eben eine hohe Plausibilität. Daß Mubarak sein Land bewußt ins Chaos führt, um am Ende doch weiterregieren zu können, ist ein phantasievoller Gedanke, aber kein unbedingt einleuchtender. Von hinten durch die Brust geschossen; das kommt selten vor.

Es gibt aber mindestens zwei andere Verschwörungstheorien. Auch von ihnen ist keine bewiesen; das haben Verschwörungstheorien so an sich. Aber jede ist plausibler als das, was die "Tagesthemen" gestern ihren Zuschauern zugemutet haben und was in der Tat "erschütternde Informationen" waren; aber in einem anderen als dem von Moderator Buhrow intendierten Sinn.

Die eine dieser Theorien konnte man am Samstag bei Stratfor (in einem nur Abonnenten zugänglichen Bericht) lesen. Danach findet im Augenblick hinter den Kulissen ein Machtkampf zwischen (Geheim-)Polizei und Militär statt.

Das Militär genießt bisher vergleichsweise hohes Ansehen im Volk; in Kairo auffahrende gepanzerte Fahrzeuge wurden sogar von Demonstranten beklatscht (siehe "Mubaraks Spiel ist aus". Aber ist es das?; ZR vom 28. 1. 2011). Die Verschwörungstheorie geht nun so:

Es gibt (das ist belegt) eine historische Feindschaft zwischen der Polizei und dem Offizierskorps des Militärs. Nach Quellen von Stratfor ist sie in den vergangenen Tagen eskaliert. Die Polizei möchte - so geht die Verschwörungstheorie - das Militär zwingen, sich an ihrer Seite gegen die Demonstranten zu stellen. Um das zu erreichen, würden - immer nach dieser Theorie - Geheimpolizisten Strafgefange freilassen und Plünderungen provozieren; das sollte dem Militär keine andere Wahl lassen, als gegen den Aufruhr loszuschlagen.

Die zweite Verschwörungstheorie richtet sich auf die Rolle der Moslem-Brunderschaft (MB) und der Hamas (die als ein Ableger der MB entstanden ist). Am Samstag Nachmittag brachte Stratfor dazu einen Bericht aus einer ungenannten Quelle in der Hamas, in dem es heißt:
The Egyptian police are no longer patrolling the Rafah border crossing into Gaza. Hamas armed men are entering into Egypt and are closely collaborating with the MB. The MB has fully engaged itself in the demonstrations, and they are unsatisfied with the dismissal of the Cabinet. They are insisting on a new Cabinet that does not include members of the ruling National Democratic Party.

Security forces in plainclothes are engaged in destroying public property in order to give the impression that many protesters represent a public menace. The MB is meanwhile forming people’s committees to protect public property and also to coordinate demonstrators’ activities, including supplying them with food, beverages and first aid.

Die Polizei patrouilliert nicht mehr an der Grenze zu Gaza bei Rafah. Bewaffnete der Hamas dringen nach Ägypten vor und arbeiten eng mit der MB zusammen. Die MB ist vollständig in die Demonstrationen einbezogen und mit der Entlassung des Kabinetts noch nicht zufrieden. Sie besteht darauf, daß einem neuen Kabinett keine Mitglieder der regierenden National Democratic Party angehören.

Sicherheitskräfte in Zivil zerstören öffentliches Eigentum, um den Eindruck zu erwecken, daß viele der Protestierer eine öffentliche Gefahr darstellen. Die MB bildet inzwischen Volkskomitees zum Schutz öffentlichen Eigentums sowie zur Koordination der Aktivitäten der Demonstranten. Dazu gehört die Versorgung mit Nahrung, Getränken und Erster Hilfe.
Stratfor weist darauf hin, daß es für diese Informationen bisher keine Bestätigung gibt. Aber wenn sie stimmen, dann sind die "Bürgerwehren" nicht so spontan entstanden, wie es der Bericht der "Tagesthemen" darstellte; dann ist die MB bereits dabei, eine Gegenmacht aufzubauen. Sie kann dazu die Erfahrungen der Hamas in den Palästinensergebieten nutzen; ebenso diejenige der Hisbollah im Libanon.

Auch auf die Flucht von Gefangenen wirft diese Meldung ein neues Licht. In der Nacht zum Montag strahlte Al Jazeera einen Bericht von der Grenze zum Gaza-Streifen aus, in dem entkommene Gefangene gezeigt wurden. Es waren Hamas-Kämpfer, die in ägyptische Gefangenschaft geraten waren und die sich jetzt hatten befreien können. Oder die von Wachpersonal freigelassen wurden; man darf nicht vergessen, daß die MB in allen Teilen der ägyptischen Bevölkerung viele Sympathisanten hat. Wenn bei solchen Aktionen auch gewöhnliche Kriminelle freikamen, muß dahinter nicht unbedingt die Geheimpolizei stecken.

Als ein weiteres Machtzentrum erweist sich, wie Stratfor am späten Samstag Abend berichtete, immer mehr das Militär. Sowohl der neue Vizepremier Omar Suleiman als auch der neue Premier Ahmed Shafiq sind Berufssoldaten. Im Hintergrund sind nach den Informationen von Stratfor der Verteidigungsminister, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, und der Stabschef der Streitkräfte, Generalleutnant Sami Annan, tätig; der letztere auch als Verbindungsmann zur US-Regierung.



Bemerkenswert ist, wie wenig bei allen diesen Analysen von demokratischen Parteien, von El Baradei und anderen politischen Kräften die Rede ist. Das Spiel um die Macht scheint vielmehr im Augenblick zwischen drei Kraftzentren stattzufinden:
  • Dem alten Regierungsapparat einschließlich der Regierungspartei, der Polizei und vor allem der Geheimpolizei.

  • Dem Militär; wobei ungewiß ist, inwieweit die Generalität und die mittlere Offiziersebene gleiche Ziele verfolgen. Man darf nicht vergessen, daß das heutige politische System Ägyptens aus der Militärdiktatur des Obersten Nasser und seiner Offizierskameraden hervorgegangen ist; also von unzufriedenen jungen Offizieren.

  • Der MB mit Unterstützung der Hamas, die sich auf eine mögliche Machtübernahme vorbereiten, indem sie nach dem alten Rezept der Hamas und der Hisbollah eine Gegenmacht zur Staatsmacht aufbauen; jetzt zunächst in Gestalt von "Bürgerwehren" und der logistischen Unterstützung von Demonstrationen.
  • Kritisch wird sein, wer sich mit wem jedenfalls eine Strecke weit verbündet; wer wen für seine Ziele zu benutzen versucht.

    Der alte Machtapparat will das Militär ins Boot holen, von dem aber jedenfalls Teile mehr mit den Demonstranten sympathisieren dürften. Um deren Unterstützung bemüht sich die MB. Das Interesse, das sie in der augenblicklichen Situation mit dem Militär gemeinsam hat, könnte darin bestehen, den alten Apparat zu entmachten und die Lage zunächst einmal zu stabilisieren. Die MB könnten das zum ruhigen Aufbau ihrer Gegenmacht nutzen; die Militärs dürften vor allem am Erhalt ihrer Privilegien interessiert sein.



    Gestern am späten Abend brachte Stratfor eine weitere Analyse; die dieses Bild bestätigt und ergänzt. Sie deutet auf eine möglicherweise dramatische Entwicklung hin.

    Danach haben sich das Militär und die Polizeiführung am gestrigen Sonntag nun doch auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Das Ziel ist es, die Demonstrationen zu beenden. Die Polizei, die sich zurückgezogen hatte, wird aufgrund eines Befehls von Innenminister Habib al-Adly wieder überall eingesetzt werden. Man werde in den folgenden Stunden gemeinsam mit dem Militär gegen die Demonstranten losschlagen, besagen die Quellen von Stratfor.

    Es scheint also, daß eine Machtprobe bevorsteht. Die Berichte von CNN, BBC und Al Jazeera, die ich die Nacht über verfolgt habe, geben allerdings bis jetzt (gegen 3.30 Uhr MEZ, also 4.30 Uhr Kairoer Zeit) noch keine Hinweise auf ein bevorstehendes Zuschlagen von Polizei und Militär.

    Man sah im Gegenteil Panzer mit Transparenten, die eine Verbrüderung mit den Demonstranten ausdrückten. Die Polizei hält sich bisher noch zurück. Das ist dasselbe Bild wie in den letzten Tagen. Aber das kann die Ruhe vor dem Sturm sein. Wenn Sie dies lesen, könnte sich die Situation schon dramatisch zugespitzt haben.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.