9. Januar 2011

Notizen zu Sarrazin (9): Sind Sie der typische Sarrazin-Leser? Über den vierfachen Unfug der Typisiererei

Bad Luftingen ist, so wollen wir es uns vorstellen, ein Ferienort im deutschen Mittelgebirge. Der Bürgermeister von Bad Luftingen wollte eines Tages gern wissen, wer seine typischen Feriengäste sind, und gab bei Konsumforschern der GfK ("Garantiert feinste Konsumforschung") eine Studie in Auftrag.

Die Forscher schickten ihre Interviewer los, sammelten Daten und analysierten sie. Dann lieferten sie dem Bürgermeister ihr Ergebnis:
Der typische Feriengast von Bad Luftingen
Er ist ein Nudist im Seniorenalter, hat Kinder unter 12 Jahren und ist gehbehindert. Er klettert gern in Höhlen herum, spricht kaum Deutsch und hat Germanistik studiert. Er ist Vegetarier und ißt gern Schweinsbraten.
Der Bürgermeister freute sich, denn in dieser Beschreibung fand er das wieder, was Bad Luftingen auszeichnet:

Sein Ort hat ein Wegenetz mit geringen Steigungen. Deshalb wird er gern von Senioren und Gehbehinderten besucht. Im Bereich der Gemeinde liegt ein FKK-Campingplatz, auf dem zahlreiche Holländer ihren Urlaub verbringen. Etliche Höfe bieten "Ferien auf dem Bauernhof" an, so daß Familien mit Kindern gern nach Bad Luftingen kommen.

Zu den Attraktionen der kleinen Gemeinde gehören außerdem eine Tropfsteinhöhle und das Geburtshaus eines deutschen Dichters, in dem Germanisten regelmäßig ihre Tagungen veranstalten. Von den beiden Gasthäusern des Orts ist das eine vegetarisch; das andere ist für seinen Schweinsbraten mit Rotkohl und Knödeln berühmt.

Das alles spiegelt sich in der Zusammensetzung der Gruppe von Feriengästen wider, die gern in Bad Luftingen ihren Urlaub verbringen.

Es ist schön für den Bürgermeister, das jetzt zu wissen. Es ist dämlich, es ihm in Form eines Porträts "des typischen Feriengastes" von Bad Luftingen mitzuteilen.



Wenn Sie etwas vergleichbar Dämliches zu Thilo Sarrazins Buch lesen wollen, dann gehen Sie bitte zur Online-Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung". Dort wagt sich Tobias Kniebe, Leiter des Ressorts "Film" der SZ, mutig in den Bereich der empirischen Sozialforschung hinein:
Die Gesellschaft für Konsumforschung hat für die SZ die Psychologie der Käufer von "Deutschland schafft sich ab" untersucht: Die sind in erster Linie männlich, gehen gerne ins Volkstheater und müssen nicht überall dabei sein. (...)

Vollends ins Negative sackt die Kurve bei der Aussage "Ich gehe gerne Risiken ein" - da landet die Statistik bei dem sagenhaft risikofeindlichen Wert von minus sechzig Prozent. Wer nicht zu den Sarrazin-Käufern gehört, ist um zwei Drittel aufgeschlossener, sobald es darum geht, auch mal ein Wagnis einzugehen. (...) Eher absurd wird das Bild, wenn man nun den oben schon zitierten Wert der Erfolgsorientierung dagegenstellt: "In meinem Leben steht beruflicher Erfolg an erster Stelle." Dieser Satz ist dem Sarrazin-Käufer wie gesagt sehr wichtig: Plus 74 Prozent über dem Durchschnitt - ein noch stärkerer Ausschlag als bei der Risikovermeidung. Das bringt man allerdings kaum mehr zusammen: Hat irgendwer schon mal Erfolge erzielt, ohne das geringste Risiko dafür einzugehen?
Gut beobachtet. Tja, das ist vermutlich so selten wie der gehbehinderte nudistische Höhlenforscher, der als Vegetarier gern Schweinsbraten ißt.

Difficile satiram non scribere. Aber es geht. Sie können einen sehr schönen satirischen Kommentar zu Kniebes Erkenntnissen lesen, nämlich bei "Politpatschquatsch".



Ich hingegegen bin angesichts eines solchen Stusses eher zur Polemik als zur Satire aufgelegt. Zur Polemik gegen den Unfug der Typisiererei. Zum vierfachen Unfug des Typisierens:

Erstens ist es ein Unfug, aus Merkmalen, die innerhalb einer Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten sind, einen "typischen XYZ" zu konstruieren. Das habe ich am Beispiel des typischen Gasts von Bad Luftingen, denke ich, hinreichend deutlich gemacht.

Zweitens ist das Konstruieren von "Typen" oft als solches problematisch, weil man es gar nicht mit diskreten Klassen, sondern mit einer kontinuierlichen Dimension zu tun hat. Der betreffende Bereich zeigt allmähliche Übergänge; keine Kategorien.

Von Typen kann man dann mit Fug sprechen, wenn ein Bereich in natürliche Gruppen zerfällt (natural kinds sagen die Philosophen).

Das ist zum Beispiel bei den Himmelskörpern so: Was wir am Himmel mit bloßem Auge erkennen können, ist entweder ein Fixstern (die Sonne beispielsweise und die Sterne der Milchstraße) oder ein ein Planet (die Venus, der Mars zum Beispiel) oder unser Mond; oder es ist eine Galaxie (nur wenige sind mit bloßem Auge zu sehen, wie der Andromeda-Nebel), ein Komet (nur manchmal zu sehen) oder ein Meteorit (eine "Sternschnuppe").

Das sind wirklich physisch verschiedene Typen von Himmelskörpern und -erscheinungen. Hier macht der Begriff des Typus Sinn. Etwas fällt eindeutig in die eine oder in die andere Kategorie (fast immer eindeutig, sollte ich sagen; siehe Plutos Degradierung; ZR vom 25. 8. 2006). Das gilt auch für weitere Unterteilungen, zum Beispiel in Typen von Fixsternen.

Ganz anders ist es, wenn man von "psychologischen Typen" spricht. Menschen zerfallen nicht so in Gruppen, wie Himmelskörper sich in Fixsterne, Planeten, Monde usw. gliedern. Es "gibt" keine Menschentypen. Wenn man von "dem Pykniker" spricht oder "dem Extravertierten", dann meint man nur einen Menschen, der auf bestimmten Dimensionen einen besonders hohen Wert erreicht. Die Dimensionen - Körpergewicht, Lebhaftigkeit usw. - sind aber kontinuierlich.

Wenn man die Menschen in Typen einteilt, dann unterliegt man dem Irrtum, daß das besonders Ausgeprägte auch das besonders Häufige sei. Die meisten Menschen wären dann aber "Mischtypen". Der besonders ausgeprägte, der besonders "ideale" Fall ist eben nicht der Normalfall. Diese Verwechslung von "besonders ausgeprägt" mit "besonders häufig", von Idealfall und Normalfall ist ein dritter Grund dafür, daß Typologisierungen selten etwas taugen.

Das gilt beispielsweise auch für "Menschenrassen". Es gibt keine Menschenrassen, sondern nur Populationen, die einander mehr oder weniger genetisch ähnlich sind; auch hier also Kontinua, keine diskreten Klassen (siehe Teilen alle Juden ein bestimmtes Gen?; ZR vom 7. 9. 2010).

Und damit sind wir bei einem vierten Unfug, der mit der Typologisiererei getrieben wird: Sie öffnet Vorurteilen Tür und Tor. Wenn man jemanden einem bestimmten Typus zuordnet, dann schreibt man ihm Eigenschaften zu; oft auch solche, die er selbst gar nicht hat, sondern die nur zu dem Schema des betreffenden "Typs" gehören. Der autoritäre Deutsche, der faule Neger, der stolze Spanier.

Oder der "Gutmensch". Oder der "Wutbürger".

Oder eben der "Sarrazin-Käufer", den unser SZ-Filmfachmann Kniebe, weil er so widersprüchliche Merkmale hat wie ein Vegetarier, der den Schweinsbraten liebt, gar in die Nähe der Psychopathologie rückt:
Die Grundhaltung könnte im Gegenteil eher Anlass sein, eine gewisse Schizophrenie zu diagnostizieren: ein eiserner Wille, an der Spitze zu stehen - aber bitte Veränderung? Eine Leistungselite, die das Wohnzimmersofa nicht mehr verlässt? Ein wenig spiegelt das, was hier sichtbar wird, auch die späte Berufung des Thilo Sarrazin selbst, der hier sicher auf das Verständnis seiner Fans trifft. Ein ganzes Berufsleben hat der Mann im gesicherten Beamtenstatus verbracht, bevor er in die risikoreiche Existenz des Volksdemagogen aufbrach.
Wäre unser Cineast doch nur im gesicherten Geschäft des Filmkritikers geblieben, statt in die risikoreiche Existenz des Sozialwissenschaftlers aufzubrechen. In die jedenfalls für ihn mit dem Risiko versehene, sich gründlich zu blamieren.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Mit Dank an Meister Petz, C. und Zephir.