29. Februar 2012

Marginalie: Hat Angela Merkel am Montag die Kanzlermehrheit verfehlt? Keineswegs. Entsprechende Berichte sind schlicht falsch

Landauf, landab war es gestern zu lesen, beispielsweise in "Zeit-Online":
Angela Merkel hat ihre Kanzlermehrheit verloren. Insgesamt 17 Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition stimmten gegen das zweite Rettungspaket für Griechenland. Drei weitere, die sich enthielten, verweigerten der Kanzlerin ebenfalls die Gefolgschaft, trotz eindringlicher Apelle in den Fraktionssitzungen und in persönlichen Ermahnungen.
Wer in Zettels kleinem Zimmer mitliest, der wußte es freilich seit gestern Vormittag besser. Präzise: Er konnte es seit gestern um 10.32 Uhr wissen, als Florian darauf aufmerksam machte.

Er zitierte die Definition von "Kanzlermehrheit" aus der Wikipedia:
Kanzlermehrheit ist eine informelle Bezeichnung für eine bestimmte Mehrheit der Mitglieder des deutschen Bundestags. Sie wird in den Medien und in der politischen Diskussion verwendet. In der Verfassung wird diese Mehrheit als "Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" umschrieben und im Artikel 121 als "die Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitgliederzahl" definiert.
Es handelt sich um ein besonders strenges Mehrheits­kriterium - strenger als die absolute Mehrheit (mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen) oder die relative Mehrheit (mehr Stimmen als alternative Abstimmungsmöglichkeiten; also z.B. als Nein-Stimmen oder Stimmen für einen anderen Kandidaten).

Der Bundestag hat derzeit 620 Abgeordnete. Die Kanzlermehrheit ist also erreicht, wenn 311 Abgeordnete zustimmen. Florian schrieb dazu in Zettels kleinem Zimmer:
Und wie war es bei der Abstimmung?

496 Abgeordnete stimmten mit Ja
90 Abgeordnete stimmten mit Nein
5 Abgeordnete enthielten sich
20 Abgeordnete waren nicht anwesend.

Die "Kanzlermehrheit" von 311 Abgeordneten wurde also locker erreicht. Die zahlreichen anderslautenden Überschriften sind schlicht falsch.
So ist es: Die "Kanzlermehrheit" trägt diesen Namen, wie auch anders, deswegen, weil es sich um die zur Wahl des Kanzlers erforderliche Mehrheit handelt. Diese wird mit einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestags erreicht. Aus welcher Partei sie kommen, spielt keine Rolle. Bei der Wahl des Kanzlers ist das auch gar nicht zu ermitteln, da sie bekanntlich geheim ist.

Also hatte Angela Merkel bei der Abstimmung über das Zweite Rettungspaket für Griechenland die Kanzlermehrheit; sie hat sie sogar deutlich überschritten.



Wie kamen die falschen Überschriften, die irrigen Kommentare zustande? Offenbar wurde der Begriff der "Kanzlermehrheit" umdefiniert. Aber wie eigentlich?

Auch das hat Florian in einem Beitrag zu der sich anschließenden Kommentierung diskutiert.

War eine "eigene Mehrheit" der Regierung gemeint - wurde also eine Mehrheit ohne Hilfe anderer Parteien verfehlt? Nein. Denn auch eine eigene Mehrheit hat die Kanzlerin in dieser Abstimmung erreicht.

Bei
abgeordnetenwatch.de kann man das Abstimmungs­ergebnis im Einzelnen nachlesen:
  • Von den 496 Ja-Stimmen kamen 181 von der CDU, 38 von der CSU und 85 von der FDP; zusammen also 304.

  • An Oppositionsabgeordneten haben sich an der Abstimmung beteiligt: 137 von der SPD, 64 von den Grünen und 66 von der Partei "Die Linke"; zusammen also 267.

  • Selbst wenn die Opposition geschlossen mit "nein" gestimmt hätte, wäre es mit den Ja-Stimmen aus dem Regierungslager somit zu einer klaren Mehrheit von 304 über deren 267 Stimmen gekommen. Und auch wenn man nicht nur die Stimmen der Opposition betrachtet, sondern die 17 Gegenstimmen aus der Koalition (8 von der CDU, 5 von der CSU, 4 von der FDP) einbezieht, wäre dies mit 304 zu dann insgesamt 284 Stimmen so geblieben.
  • Die Regierung hatte also eindeutig eine "eigene Mehrheit". Sie war, um das Gesetz durchzubringen, nicht auf eine einzige Stimme aus dem Lager der Opposition angewiesen.

    Wenn behauptet wird, die Regierung habe die "Kanzlermehrheit" verfehlt, dann ist das also auch dann falsch, wenn man diesen Begriff umdefiniert und damit eine eigene Mehrheit meint, die auch ohne Hilfe aus der Opposition erreicht worden wäre.

    Ja, was beinhaltet das Gerede von der nicht erreichten Kanzlermehrheit dann eigentlich? Es ist schlicht ein gedanklicher Mischmasch; es rührt zwei Anforderungen zusammen, die einzeln Sinn machen, aber nicht in dieser Kombination:
  • Man kann zum einen fragen, ob es bei einer Abstimmung eine Kanzlermehrheit gab, ob also die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags zugestimmt hat. Das war am Montag der Fall.

  • Man kann zweitens fragen, ob die Regierung eine eigene Mehrheit hatte, ob sie also das betreffende Gesetz auch ohne Unterstützung aus der Opposition durchbringen konnte. Das war am Montag desgleichen der Fall.

  • Ohne jede Rechtfertigung ist es aber, die beiden Kriterien zu kombinieren und zu fragen, ob die Regierung eine eigene Mehrheit hatte, die zugleich eine Kanzlermehrheit war.
  • Denn eine solche Mehrheit wird weder in irgendeinem Zusammenhang gesetzlich verlangt, noch hat sie normalerweise eine politische Bedeutung.

    Eine politische Bedeutung hätte sie allenfalls dann, wenn bei einer Abstimmung erstens eine Kanzlermehrheit gesetzlich verlangt wird und wenn zweitens offen abgestimmt wird, so daß man überhaupt ermitteln kann, welche Stimmen von wem kommen.

    Bei der Wahl des Kanzlers ist das, wie gesagt, nicht der Fall. Aber (in Zettels kleinem Zimmer hat FTT_2.0 darauf hingewiesen) es gibt Situationen, in denen bei offener Abstimmung eine Kanzlermehrheit verlangt wird, aber keine geheime Abstimmung: Bei der Vertrauensfrage; bei der Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates.

    Lediglich in einem solchen Fall wäre es politisch interessant, ob eine Regierung die verlangte Kanzlermehrheit mit Abgeordneten ihrer Koalition erreichen konnte, oder ob sie auf Stimmen aus der Opposition angewiesen gewesen war.

    Eine solche Lage bestand aber am Montag überhaupt nicht. Wie die Abgeordneten von Union und FDP, die jetzt mit Nein gestimmt oder sich enthalten haben oder die abwesend waren, sich verhalten hätten, wenn es um eine Kanzlermehrheit gegangen wäre, ist eine rein hypothetische Frage. Niemand kann das wissen.

    Es gibt aber jedenfalls kein Indiz dafür, daß dann die Kanzlerin die Kanzlermehrheit verfehlt hätte. Bis zum Beweis des Gegenteils steht die Kanzlermehrheit, wenn sie benötigt wird; und am Montag hatte die Regierung auch eine eigene Mehrheit.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Florian, FTT_2.0 und strubbi77.