27. März 2012

Marginalie: Obama und Medwedew. Ein Video sagt mehr als tausend Worte. Warum sucht Putin die Raketenabwehr in Osteuropa zu verhindern?

Neunzig Minuten hatten Obama und Medwedew in Seoul über die geplante Raketenabwehr in Europa verhandelt. Dann wähnte Obama die Mikrophone abgeschaltet, und es spielte sich das ab, was Sie zum Beispiel - mit Transkription - auf diesem Video (ab 0:55) sehen können:

Obama und Medwedew sitzen einander an einem Tisch gegenüber. Beide beugen sich vor; so, wie man es tut, wenn man vertraulich reden will.

Obama sagt "This is my last election". Medwedew: "Yes". Obama: "After my election I have more flexibility". ("Dies ist meine letzte Wahl" - "Ja". - "Nach meiner Wahl habe ich mehr Spielraum").

Obama nickt, als wolle er seine Worte bestätigen. Dann geschieht etwas Auffälliges: Er beugt sich weit vor und legt seine Hand auf die Medwedews. Medwedew wiederum legt, nach einer Sekunde des Zögerns, seinerseits die Hand auf die Obamas. Dann sagt er auf Englisch: "I understand. I will transmit this information to Vladimir, and I stand with you". ("Ich verstehe. Ich werde diese Information an Wladimir weiterleiten, und ich stehe an Ihrer Seite"). Den letzten Halbsatz könnte man auch übersetzen: "Verlassen Sie sich auf mich" oder "Ich bin ganz bei Ihnen".

Eine bemerkenswerte Szene, nachdem man eineinhalb Stunden lang offiziell verhandelt hatte. Denn das war offensichtlich nicht Small Talk, sondern eine Absprache. Was Obama seinem künftigen Gegenüber Putin durch Medwedew mitteilen ließ, war: Lassen Sie mich jetzt in Ruhe meine Wiederwahl gewinnen. Dann werde ich Ihnen bei der Raketenabwehr entgegenkommen.



Wladimir Putin dürfte diese Zusage mit großer Freude entgegengenommen haben. Denn die Frage der Stationierung eines Raktenabwehrsystems in Osteuropa ist für die Russen von entscheidender Bedeutung; nachgerade ein Kernstück ihrer Westpolitik.

Warum? Das "Handelsblatt" schließt seinen heutigen Bericht über den Vorfall mit dieser Passage:
Russland betrachtet den NATO-Raketenschild mit einem weitreichenden Radarsystem in der Türkei sowie US-Abfangraketen in Rumänien und Polen als Bedrohung eigener strategischer Interessen.
Das stimmt; aber welche "strategischen Interessen" sind das?

Selbstverständlich wird Rußland durch die Raketenabwehr nicht selbst militärisch bedroht. Erstens, weil es sich eben um eine Raketenabwehr handelt, keine Angriffsraketen. Zweitens, weil Rußland diese Stellungen im Konfliktfall, wenn es das wollte, sofort mit seinen Mittelstreckenraketen ausschalten könnte. Sie sind für Rußland so wenig eine Bedrohung, wie man mit Flak eine Panzerarmee bedrohen könnte.

Es geht bei dem vom "Handelblatt" genannten "strategischen Interessen" um etwas Anderes: Um Putins Plan, in Osteuropa die nach 1990 verlorengegangene russische Vorherrschaft wieder neu zu errichten; jetzt in Form einer Einflußzone. Dazu muß Rußland die Staaten Osteuropas militärisch bedrohen können. Ein Land, in dem die USA Teile ihres strategischen Raketenabwehrsystems haben, können sie aber nicht bedrohen; denn es würde gegebenenfalls von den USA verteidigt werden.

Ich habe das vor fünf Jahren analysiert und zitiere der Einfachheit halber jetzt aus diesem Artikel (Schurkenstaaten, amerikanische Raketen, russische Interessen; ZR vom 25. 2. 2007):
Es gibt eine offensichtliche Parallele zum Nato-Doppelbeschluß und zur Stationierung amerikanischer Pershing in der Bundesrepublik Anfang der achtziger Jahre.

Helmut Schmidt hatte diesen Nato-Doppelbeschluß herbeigeführt (und mußte dann erleben, wie seine eigene Partei ihm in den Rücken fiel): Die Nato, so besagte der Beschluß, würde die Pershing in der Bundesrepublik installieren, es sei denn, die Sowjets verzichteten auf die Stationierung ihrer SS-20, die gegen die Bundesrepublik gerichtet waren.

Die Pershing waren natürlich keine Abfangraketen, sondern Boden-Boden- Raketen wie auch die SS-20. Dennoch waren sie in den Augen Helmut Schmidts, der immer sehr strategisch dachte, ein Mittel der Abwehr.

Denn wenn US-Atomraketen in der Bundesrepublik stationiert wären, dann würde jeder Angriff auf die Bundesrepublik automatisch ein Angriff auf die USA sein. Das war ein Thema der deutschen Außen- und Militärpolitik seit Adenauer gewesen: Die USA so in Deutschland zu binden, daß die Sowjets keinen Angriff auf Deutschland wagen konnten, weil er den großen Atomkrieg ausgelöst hätte.

Sehr ähnlich scheint mir auch heute die Situation der Länder Osteueropas zu sein, die sich aus der russischen Herrschaft befreien konnten. Sie wissen, daß Rußland - daß jedenfalls Putin, daß Sergej Iwanow, daß Experten wie Valentin Falin - dem verlorenen (aus ihrer Sicht von Gorbatschow leichtfertig verschleuderten) Sowjetreich nachtrauen, und daß sie den jetzigen Zustand nicht als unveränderlich ansehen.

Der einzige sicherere Schutz dieser Länder vor russischen Pressionen, vor russischen atomaren Erpressungen, besteht darin, daß ein Angriff auf sie ein Angriff auf die USA wäre und somit eine Vergeltung ("retaliation" - dieser Begriff aus dem Kalten Krieg wird wieder aktuell) auslösen würde.

Also wollen sie das Raketenabwehrsystem, die Tschechen, die Polen. Ihre Interessen treffen sich mit denen der USA, obwohl es den USA militärstrategisch um etwas ganz anderes geht. Nämlich um den Schutz vor iranischen, vor nordkoreanischen Atomraketen.
Und natürlich ging es George W. Bush, als er diese Raktenabwehr unter ihrem ursprünglichen Namen NMD (National Missile Defense) plante, auch um den Schutz Osteuropas vor dem russischen Hegemonialdrang.

Seit ich vor fünf Jahren die zitierte Passage schrieb, hat dieser russische Plan, erneut zur Vormacht in Osteuropa zu werden, immer mehr an Kontur gewonnen. Möglich wurde das vor allem durch den Wechsel von Bush zu Obama, der, anders als Bush, dem russischen Expansionsdrang kaum Widerstand entgegensetzt. Auch dazu eine Passage aus einem früheren Artikel (Russisch-amerikanische Beziehungen: Vorteil Moskau; ZR vom 31. 5. 2011):
Gegen Ende der Amtszeit von Präsident Bush hatte sich immer deutlicher eine Konfrontation zwischen Rußland und den USA über Osteuropa abgezeichnet. Die vier Brennpunkte hatte bereits Anfang 2007 der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow im Vorfeld der Münchener Sicherheitskonferenz benannt: Die Ukraine, Georgien, das Baltikum und die von den USA geplante Errichtung eines Raketen-Abwehrsystems in Polen und Tschechien. Ich habe die Kernsätze Iwanows damals dokumentiert und kommentiert (Rückblick: Putin 2007 und sein Iwanow; ZR vom 11. 2. 2007).

Zu dieser Zeit vor vier Jahren war der Westen in Osteuropa noch in der politischen Offensive gewesen: Sowohl Georgien als auch die Ukraine hatten gute Aussichten, in die Nato aufgenommen zu werden; die Errichtung eines Raketenschirms in Osteuropa gegen Angriffe aus Nordkorea oder dem Iran schien beschlossene Sache zu sein. Polen und Tschechien versprachen sich von dem militärischen Engagement der USA in ihren Ländern Schutz vor den Bemühungen Rußlands, wieder Herr über das 1989 verlorene Osteuropa zu werden; diesmal in Gestalt einer Einflußzone.

Die Wende kam mit dem Georgienkrieg im Herbst 2008. (...) Mit dem Amtsantritt von Präsident Obama im Januar 2009 änderte sich zudem die Politik der USA gegenüber Osteuropa; man war bereit, den Russen dort weitgehend freie Hand zu lassen. Bereits im Februar 2010 wurde das im Wall Street Journal beschrieben; ich habe diesen Artikel damals zitiert und kommentiert (Zitat des Tages: Obamas wackelnde Regierung. Ein Editorial des "Wall Street Journal"; ZR vom 10. 2. 2009).

In den deutschen Medien fand diese Änderung der amerikanischen Politik wenig Aufmerksamkeit. Ich habe immer einmal wieder darauf hingewiesen; zuletzt vor gut einer Woche durch die Dokumentation einer Analyse von George Friedman ("Visegrad - eine neue Militärallianz in Europa". George Friedman über Osteuropa; ZR vom 21. 5. 2011).

Angesichts des amerikanischen disengagement in Osteuropa ging es inzwischen auch mit der Westorientierung der Ukraine zu Ende. Auch dieses Land sah keine Chance mehr, in die Nato aufgenommen werden und ist jetzt wieder unter dem Einfluß Rußlands. (Neben der veränderten amerikanischen Haltung spielten dabei auch innenpolitische Faktoren eine Rolle; vor allem das Scheitern des prowestlichen Präsidenten Juschtschenko bei den Wahlen Anfang 2010).

Auf dem Baltikum ist es gegenwärtig ruhig. Bleibt als Konfliktfeld die geplante Errichtung des Raketen-Abwehrsystems (BMD = ballistic missile defense). Während die Regierung Bush BMD hohe Priorität eingeräumt hatte, hat auch hier die Obama-Administration sich unschlüssig und widersprüchlich verhalten.

Im September 2009 kippte Obama das Projekt in der von Bush geplanten Form, was weithin als ein Nachgeben gegenüber dem russischen Druck interpretiert wurde. Stattdessen sollten kleinere SM-3-Raketen auf Schiffen im Schwarzen Meer und dann eventuell auch auf Land in Osteuropa stationiert werden; sehr zur Freude Wladimir Putins.

Verhandlungen darüber sind gegenwärtig mit Polen und Rumänien im Gang; aber nachdem Rußland sich seit Obamas Amtsantritt auf ganzer Linie durchsetzen konnte, versucht es jetzt auch das noch zu hintertreiben. Moskau propagiert stattdessen die Idee eines von den USA gemeinsam mit Rußland betriebenen Abwehrsystems; das verweigert Washington bisher. Stratfor kommentiert, es werde in diesem Punkt "niemals einen Kompromiß zwischen den USA und Rußland geben". Bei dem Treffen Obama-Medwedew am Donnerstag sei es in Bezug auf dieses Thema tense zugegangen, also angespannt oder verkrampft.
Das war vor zehn Monaten. Damals begann Barack Obama, sich auf seine Wiederwahl vorzubereiten. Etwa seit dieser Zeit ist er außenpolitisch mit für ihn bemerkenswerter Entschlossenheit aufgetreten.

Sein jetziges tête-à-tête mit Medwedew läßt vermuten, daß diese ostentative Härte überwiegend dem Zweck der Wiederwahl dient und daß Obama - wird er denn wiedergewählt - zu seiner beschwichtigenden Außenpolitik zurückkehren und mit der Raketenabwehr auch noch eines der letzten Hindernisse für eine langfristige Dominanz Moskaus über Osteuropa aus dem Weg räumen wird. ­
Zettel



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