17. Juli 2012

Zitat des Tages: "Wie Goethes Zauberlehrling". Thilo Sarrazin erklärt die Euro-Krise. Und nennt einen schlitzohrigen Ausweg ...

Sollte der Euro scheitern, dann würde nicht Europa scheitern, sondern lediglich ein waghalsiges Experiment, das mit dem Maastricht-Vertrag 1992 ins Werk gesetzt wurde. Die europäischen Staatsmänner, die dies damals entschieden, und ihre heutigen Nachfolger haben die Implikationen dieses Experiments entweder nicht durchschaut oder nicht ernst genommen. Sie haben sich benommen wie Goethes Zauberlehrling, indem sie etwas in Gang setzten, dessen Ablauf sie nicht beherrschten.
Thilo Sarrazin heute in der FAZ zur Euro-Krise. Überschrift des Artikels: "Geburtsfehler Maastricht".

Kommentar: In der Blogosphäre gibt es das ironische Kommando "Lesebefehl!".

Ich weiß, als aufgeklärter Leser von ZR lassen Sie sich nichts befehlen. Aber vielleicht lassen Sie sich ja verführen: Nehmen Sie sich die Zeit und lesen diesen Artikel. Sie kommen dann in den Genuß der folgenden Vorteile:

Sie haben erstens eine Kurzfassung von Sarrazins Euro-Buch gelesen. Vielleicht haben Sie es sich ja gekauft oder es geschenkt bekommen, aber noch keine Zeit gefunden, den Wälzer wirklich gründlich zu lesen.

Thilo Sarrazin ist als Autor spröde und geht so unbarmherzig mit seinen Lesern um, wie er als Denker ein gerader, unbestechlicher Geist ist. Das macht es nicht leicht, sein aktuelles Buch zu lesen; man sollte sagen: durchzuarbeiten (und dürfte ein Grund dafür sein, daß viele sein erstes Buch nur aus Zitaten kennen, die man aus dem Zusammenhang gerissen hatte).

Lesen Sie den Artikel. Sie sind dann in Bezug auf Sarrazins Euro-Buch ungefähr so gut informiert wie die meisten Marxisten über Marx, die niemals "Das Kapital" gelesen haben, wohl aber die griffige kleine Schrift "Lohn, Preis und Profit".

Zweitens verstehen Sie, wenn Sie den Artikel gelesen haben, wie es zu der jetzigen fatalen Situation kommen konnte:
Der Übergang zu einer gemeinsamen europäischen Währung war im Wesentlichen der Eitelkeit Frankreichs geschuldet. Frankreich war die starke D-Mark ein Dorn im Auge. Aber es scheute zurück vor einer Politik, die den Franc ebenso stark gemacht hätte wie die D-Mark. Das allein und das unerklärliche Agieren Helmut Kohls 1990 bis 1992, der die Wirkungen einer gemeinsamen Währung überhaupt nicht überblickte, haben uns den Euro beschert.
"Unerklärlich" erscheint mir das damalige Handeln Kohls allerdings nicht zu sein. Er war bei Mitterrand im Wort, als Gegenleistung für dessen Zustimmung zur Wiedervereinigung.

Drittens lesen Sie in dem Artikel - ziemlich breit ausgeführt - ein Argument, das auch schon in Sarrazins Buch viel Raum einnimmt: Den Nachweis, daß eine Einheitswährung nicht unbedingt Frieden bedeutet und daß getrennte Währungen selbstverständlich nicht Krieg bedeuten müssen. Daß das so ist, liegt auf der Hand. Sarrazin widerlegt es wohl deshalb so ausführlich, weil Verteidiger des Euro dessen Einführung gern mit dem Frieden in Europa in Verbindung bringen.

Viertens zieht Sarrazin jenem Kaiser die Neuen Kleider aus, der geisterhaft durch die aktuelle Diskussion spukt: Der Meinung, daß die Einführung des Euro im Euro-Raum eine verstärkte Prosperität bewirkt habe:
Sechzig Prozent der Bürger Europas zahlen nicht mit dem Euro, und jene EU-Länder, die am Euro nicht teilnehmen, haben sich, gemessen an Wirtschafts­wachstum und Beschäftigung, seit Beginn der gemeinsamen Währung durchschnittlich besser entwickelt als der Euroraum.
Fünftens erfahren Sie noch einmal, in konziser Zusammenfassung, warum der Euro gescheitert ist: Weil die Mechanismen, die bei ungleicher wirtschaftlicher und fiskalischer Entwicklung der einzelnen Staaten für einen Ausgleich sorgen, unter einer Einheitswährung nicht mehr funktionieren.

Sechstens macht Sarrazin kristallklar, warum alle jetzigen gutgemeinten Rettungsmaßnahmen nicht an die Wurzel des Übels gehen werden:

Weil es zum einen Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit gibt, an denen mehr Haushaltsdisziplin überhaupt nichts ändern würde; weil deshalb weiter die Leistungsbilanzdefizite der Südländer durch die Nordländer finanziert werden müssen; zum Beispiel über die sogenannten TARGET-Salden im Verkehr zwischen den Notenbanken und der Europäischen Zentralbank. Und weiterhin, weil mehr
... Verbindlichkeit in der Haushalts- und Finanzpolitik der Mitgliedsländer zwar immer wieder versprochen und in immer neue Abmachungen gegossen werden [kann], die mal "Stabilitätspakt" (1996) und mal "Fiskalpakt" (2012) heißen. Aber wie soll diese Verbindlichkeit durchgesetzt werden?
Ja, und weiß Sarrazin denn einen Ausweg aus diesem Dilemma? In der Tat: Er nennt einen Ausweg; einen schlitzohrigen.

Aber das lesen Sie das bitte in dem Artikel selbst, dessen Lektüre ich durch das, was ich hier zusammengefaßt habe, keineswegs überflüssig machen will. Nur Sie, wie gesagt, zum Lesen verführen.



In den Monaten der Eurokrise ist mir immer deutlicher geworden, wie sehr es bei Politikern, bei den meisten Journalisten, überhaupt bei uns Bürgern an ökonomischem Sachverstand mangelt. Ich habe das auch an mir selbst beobachtet und mich im vergangenen halben Jahr ein wenig eingelesen; viel zu wenig, um wirklich eine wirtschaftliche Sachlage beurteilen zu können.

Ich kann nur beurteilen, ob eine Analyse stimmig ist; ob sie sich mit den mir bekannten Fakten deckt, ob sie Erklärungen für das liefert, was zunächst schwer erklärlich erscheint. Ich kann sie mit anderen Ansätzen vergleichen und zu beurteilen versuchen, was Gerede ist und was Substanz hat; ich kann das gedankliche Niveau beurteilen, die Gründlichkeit einer Analyse.

Von allem, was ich in diesen Monaten zu den ökonomischen und politischen Hintergründen der jetzigen Krise gelesen habe, schienen mir neben dem jetzigen Artikel von Sarrazin und dessen Buch am meisten zwei Autoren mit ihren Darlegungen diesen Kriterien zu entsprechen: Hans-Werner Sinn und Paul Kirchhof:
  • Volkswirtschaft, verständlich erklärt: Hans-Werner Sinn zur Eurokrise; ZR vom 7. 7. 2012

  • "Dieses Recht wurde grob mißachtet". Zur EU-Krise eine glänzende Analyse von Paul Kirchhof. Allerdings ...; ZR vom 14. 7. 2012
  • Wenn Sie sich die Zeit nehmen, das zu lesen, dann haben Sie verstanden, daß es für die jetzige verfahrene Lage nicht einzelne "Schuldige" gibt - nicht die Griechen, nicht Helmut Kohl, schon gar nicht die Kanzlerin - , sondern daß sie das Resultat einer Kette von Fehleinschätzungen, Fehl­ent­scheidungen, Rechtsbrüchen und der beharrlichen Mißachtung der Gesetze der Ökonomie durch Entscheidungs­träger ist.

    Es ist eine Geschichte vom Primat der Politik über die Ökonomie und über das Recht­
    Zettel



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