3. Dezember 2012

Unterschiedliche Schultypen für bildungsnahe und bildungsferne Schichten? Die Kreuzberger Wirklichkeit und die deutsche Gegenwartsverdrängung

Im Berliner "Tagesspiegel" ist in der vergangenen Woche ein Artikel erschienen, den ich mit gespannter Erwartung zu lesen begonnen habe; aber dann endete die Lektüre in Ratlosigkeit.

Geschrieben hat ihn Claudia Keller, und es geht um die Grundschulen in Berlin. Die Überschrift wird der Rubrik "Kontrapunkt" gerecht, in welcher der Artikel erschienen ist: "Wir brauchen Schultypen für bildungsnahe- und bildungsferne Schichten".

Ja, das ist nun allerdings kontra. Denn nicht wahr, es gehört doch zu den geheiligten Überzeugungen der heutigen Bildungspolitik, daß "gemeinsames Lernen" wünschenswert ist, wo immer man das bewerkstelligen kann.

Man möchte auch nach der vierjährigen gemeinsamen Grundschule die Schüler möglichst nicht "einsortieren" in Hauptschule, Realschule, Gymnasium; sondern die Guten sollen mit den Leistungsschwachen, die aus den Villenvierteln mit denen aus den sozialen Brennpunkten, die späteren Studenten mit den späteren ungelernten Arbeitern möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden. Und am besten sollen auch noch Kinder mit Behinderungen integriert werden.

Es gibt sogar eine Initiative "Länger gemeinsam lernen", die nicht weniger verlangt als eine gemeinsame Schule für alle für die Dauer der Pflichtschulzeit. Seltsamerweise wird das mit der Forderung verbunden, "alle Kinder und Jugendlichen entsprechend ihren Möglichkeiten optimal zu fördern". Wie das in Klassen gehen soll, in denen es massive Leistungsunterschiede, Unterschiede in der Motivation und in elementaren Voraussetzungen wie der Beherrschung des Deutschen gibt, erklären die Initiatoren nicht.



Claudia Keller nun hat sich in Berlin umgetan und eine - leider nicht näher bezeichnete - "Studie" angesehen, mit dem folgenden Resümé:
Es wird in Berlin bald nur noch zwei Typen von Grundschulen geben. Die einen für die Kinder bildungsbewusster Eltern, die lesen und schreiben können, bevor sie eingeschult werden. Und die für den Rest, die bei der Einschulung keinen Stift halten können und deren Eltern meist zugewandert sind und schlecht Deutsch sprechen. Wie jetzt eine Studie ergeben hat, ist die soziale und ethnische Entmischung der Grundschulen bald abgeschlossen. Die Segregation ist perfekt.
"Segregation" - das Stichwort läßt natürlich an die faktische Rassentrennung in vielen amerikanischen Schulen denken, bevor man mit dem sogenannten desegregation busing begann: Zum Zweck der Aufhebung der Rassentrennung wurden die Kinder per Schulbus in gemeinsame Schulen gefahren; egal, wo sie wohnten.

Zu meiner Überrschung habe ich dem Artikel von Claudia Keller genommen, daß im SPD-geführten, lange Zeit von SPD und Kommunisten regierten Berlin nicht nur analoge Anstrengungen, Klassenschranken niederzureißen, offenbar nicht unternommen werden, sondern daß im Gegenteil die Schulverwaltung in Kreuzberg die Einzugsbereiche von Schulen so festgelegt hat, daß sich "garantiert kein Kind aus einer bildungsbürgerlichen Familie mehr dorthin verirrt"; in eine "Brennpunktschule" nämlich.

Das Motiv für eine solche Politik erklärt die Autorin schlüssig: Bürgerliche Eltern, die für ihre Kinder die beste Schule wollen, meiden die Brennpunktschulen ohnehin. Die pädagogischen Anforderungen seien des weiteren radikal verschieden. Wer an einer Brennpunktschule als Lehrer oder Sozialarbeiter tätig ist, der müsse sich - wegen der Arbeit mit "bildungsfernen Eltern" - auch in Erwachsenenpädagogik auskennen; auch sollte er Türkisch und Arabisch können, am besten wegen der Sinti und Roma auch noch Rumänisch und Bulgarisch.

Das ist nun freilich nicht das Anforderungsprofil an einen Grundschullehrer; so, wie man es sich vorstellt. So, wie es sich vermutlich die meisten vorgestellt haben, als sie beschlossen, Lehrer für die Primarstufe zu werden.



Also, was tun? Entgegen dem allgemeinen pädagogischen Trend zum "gemeinsamen Lernen" unterschiedliche Schultypen errichten; für bildungsnahe und bildungsferne Schichten? Claudia Keller schwebt das vor:
Jetzt braucht es den großen Wurf: Die zwei Typen von Grundschulen erfordern zwei grundsätzlich unterschied­liche Schulkonzepte mit grundsätzlich unterschiedlich ausgebildeten Lehrern, Sozialpädagogen und Sozial­arbeitern.
Mag sein, daß so etwas nötig ist. Mag sein, daß es sich faktisch vollzieht, ohne daß man das Kind beim Namen nennt.

Aber formell solche verschiedenen Schultypen zu schaffen - wie soll das politisch funktionieren? Wie soll es funktionieren entgegen einer dominierenden Pädagogik, die das "gemeinsame Lernen" nachgerade zu einem Fetisch gemacht hat? Wie soll es gehen entgegen einer Politik, die vor den Problemen der Einwanderung die Augen fest verschließt; die einen Autor wie Thilo Sarrazin, der diese Probleme benannt hat, dafür an den Rand unserer Konsensgesellschaft beförderte? (Siehe die Artikel zu Sarrazins erstem Buch vor zwei Jahren in ZR).

Man hat den Deutschen der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeworfen, daß sie die Vergangenheit verdrängten. Daran ist viel Wahres. Die heutige deutsche Gesellschaft aber tendiert immer mehr dazu, ihre Gegenwart zu verdrängen.
Zettel



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