15. September 2014

Die Puppe in der Puppe

Der Preis für das unklarste und umstrittenste Konstrukt im Völkerrecht geht wohl eindeutig an das "Selbstbestimmungsrecht der Völker". Viele berufen sich darauf, aber es gibt nicht annähernd einen Konsens, wem dieses Recht eigentlich zusteht und wie man es nutzen darf.

Einen weitgehenden Konsens gibt es höchstens noch im Negativen: Es wäre wohl kaum sinnvoll und durchführbar, wenn alle der vielen tausend Völker dieser Erde, die meist bunt gemischt durcheinander leben, nun einen eigenständigen unabhängigen Staat mit klaren Grenzen etablieren würden.

Unklar ist auch, was eigentlich ein "Volk" genau sein soll. Gibt es in Lateinamerika wirklich 20 verschiedene Völker, die alle spanisch sprechen, katholisch geprägt sind und einen gemeinsamen historischen und kulturellen Hintergrund haben? Und in denen indigene Völker leben, von denen keines einen eigenen Staat hat? Nach welchen Kriterien soll eigentlich Österreich ein selbständiges Volk sein?
Ist die Bevölkerung der Krim eigentlich ein eigenes Volk, das über seine Zukunft selber entscheiden darf? Oder sind die Bewohner von Luhansk ein solches Volk?
Wieso eigentlich sollen die Bewohner des historischen Königreichs Schottland ein Volk sein, die Bewohner des historischen Königreichs Kent aber nicht?

Oder mal ganz generell gefragt: Wenn schon die Kriterien für "Volk" so undefiniert sind, wo fängt das Selbstbestimmungsrecht denn an, und wo hört es wieder auf?
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Wenn es zum Beispiel nächste Woche eine entsprechende Abstimmung in Südtirol gäbe - dann wäre wohl ziemlich sicher, daß sich eine deutliche Mehrheit für eine Loslösung von Italien aussprechen würde.
Aber sicher wäre auch, daß in der Landeshauptstadt Bozen eine ähnlich deutliche Mehrheit für den Verbleib bei Italien votieren würde. Das Recht, das die Südtiroler für sich in Anspruch nehmen, könnte man den Bozenern kaum verwehren. Und wenn man das logisch fortdenkt, würde das noch weitergehen: Einige Stadtviertel von Bozen hätten wiederum eine deutsche Mehrheit. Aber in diesen Vierteln gäbe es Wohnblöcke oder einzelne Häuser, die lieber italienisch blieben. Dieses Matrjoschka-Prinzip von Selbstbestimmung und Abspaltung endet erst beim Individuum: Jeder sein eigener Staat.

Absurde Gedankenspiele?
Nicht wirklich.

Ein "Krimvolk" gibt es nicht. Ob eine Abstimmung dort (bisher gab es ja keine gültige) nach dem Selbstbestimmungsrecht überhaupt zulässig wäre? Aber wenn schon, dann wäre auf jeden Fall auch eine Sezession der Krimtataren zulässig. Denn die sind zweifellos ein eigenes Volk mit historisch eigenständigem Siedlungsgebiet. Nicht das Völkerrecht hindert die Krimtataren an der Selbständigkeit, sondern das Putin-Prinzip: Die Kalaschnikow zählt mehr als ein Wahlzettel.

In zivilisierten Ländern gilt das Putin-Prinzip nicht. Wenn man dort friedliche Sezession erlaubt, muß gleiches Recht für alle gelten. Was z. B. ein ernstes Thema werden würde, wenn die Katalanen wirklich in Richtung Unabhängigkeit gingen. Denn ein großer Teil der Bewohner Kataloniens sind überhaupt keine Katalanen. Während Millionen Katalanen in den Nachbarregionen wohnen. Das gäbe ein spannendes Puzzle.

Und richtig spannend kann das beim aktuellen Thema Schottland werden.
Eine landesweite Mehrheit für die Unabhängigkeit ist möglich. Aber eine Mehrheit in allen Landesteilen ist völlig unwahrscheinlich. Und Mr. Salmond wird widerstrebende Landesteilen nicht in seinen neuen Nationalstaat zwingen können, wenn diese mehrheitlich einen anderen Weg gehen wollen.

Und die Wahrscheinlichkeit dafür ist so niedrig nicht. Zum Beispiel haben die südlichen Landesteile deutlich mehr Beziehungen zu England als zu den Highlands.

Und da gibt es vor allem die Orkneys und die Shetlands. Inselgruppen, die irgendwann einmal von Schottland erobert wurden, die aber skandinavisch besiedelt waren und immer noch eine starke kulturelle Eigenständigkeit pflegen. Und die auch wenig von der schottischen Unabhängigkeitsidee zu halten scheinen: Die SNP als Vorkämpferin dieser Idee hat auf den Inseln ihre mit Abstand schlechtesten Wahlergebnisse. Während sie landesweit über 40% liegt, sind es auf den Orkneys und Shetlands eher 10-15%.

Und wieso sollten die Inselbewohner eigentlich die Erträge ihrer Bodenschätze der Festlandsregierung überlassen? Die schottische Unabhängigkeitsidee basiert ganz wesentlich auf dem schottischen Öl. Aber das ist eigentlich kein schottisches Öl, sondern liegt im potentiellen Hoheitsbereich der Orkneys und Shetlands. Die als unabhängiger Staat ein Dubai des Nordens werden könnten. Während ein Schottland ohne die beiden Inselgruppen ein wirtschaftliches Desaster erleben könnte.

So ist das oft mit politischen Ideen: Man sieht gerne auf die unmittelbaren Vorteile, die sie versprechen. Aber sie haben immer Risiken und Nebenwirkungen, die zur bösen Überraschung werden können.
R.A.

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