30. Januar 2015

Clemens Wergins USA-Beobachtungen und der Blick in die Kristallkugel


Die hysterische Kultur des Nanny-Staats USA lautet der Titel eines exzellenten und unbedingt zur Lektüre empfohlenen Essays von Clemens Wergin auf Welt online. Er beschreibt hier anhand persönlicher Erfahrungen (Wergin ist im letzten Jahr mit seiner Familie als Ressortleiter nach Washington übergesiedelt) Art und Ausmaß, in dem Kinder in den USA inzwischen von überängstlichen Helikoptereltern (und die Eltern wiederum zunehmend durch Helikopterbehörden), drangsaliert werden. Im Interesse eines völlig überzogenen "safety first" scheint es inzwischen jenseits des Atlantiks sogar unüblich zu sein, Kinder allein im eigenen Garten spielen zu lassen; Eltern die dies dennoch erlauben, riskieren nicht nur Verständnislosigkeit und Argwohn seitens der Nachbarschaft, sondern auch Besuch von Polizei oder Jugendamt. Zu Fuß zur Schule gehen: undenkbar. Zehnjährige, die allein in der New Yorker U-Bahn angetroffen werden, werden, wie Wergin anhand eines Beispiels aufzeigt, inzwischen in behördliche Obhut genommen. Seine (Wergins) Töchter seien aufgrund der liberalen Erziehungsmethoden in der Vorortsiedlung inzwischen als die exotischen "German Girls" bekannt.
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Wergin beschreibt diese befremdlichen Erfahrungen dem Ton nach mit ungläubigem Kopfschütteln, und in der Tat: man sollte meinen, daß die deutschen Verhältnisse weit von solchen Überzogenheiten entfernt seien. Hier aber soll man sich nicht täuschen. Der Blick in die kulturelle und gesellschaftliche Gegenwart der USA gleicht zuweilen einem Blick in die sprichwörtliche Kristallkugel: Viele der dort zu beobachtenden Entwicklungen schwappen mit einer Latenz von vielleicht 10 oder 15 Jahren nach Europa, und manch Kopfschüttler der Vergangenheit wurde später ein Eiferer in derselben Sache. 

Man denke nur an die Entwicklung des Nichtraucherschutzes (oder, je  nach Sichtweise: der Raucherdiskriminierung). Ich kann mich noch gut an kopfschüttelnde Kommentare in Medien erinnern, es muß um Anfang der 80er Jahre gewesen sein, als in den USA das Rauchen in allen öffentlichen Gebäuden verboten worden ist; später dann in Restaurants etc. Oder der Begriff der Political Correctness, die ebenfalls bereits in den 80er Jahren in den USA zu merkwürdigen Stilblüten herangereift war, über die heute jedoch nur noch die wenigsten, etwa mit Blick auf Sprachregelungen, den Kopf schütteln würden. 

Die Beobachtung, daß Eltern und Staat die Kinder in den USA heute gleichsam zu Tode beschützen, sollte also aufhorchen lassen. Meiner Beobachtung nach lassen sich auch in Deutschland bereits erhebliche Tendenzen in eine Richtung ausmachen, die, zuende gedacht, genau auf die sprichwörtlichen "amerikanischen Verhältnisse" weisen. 

Ich wohne in einer ländlichen Kleinstadt in direkter Nachbarschaft einer Grundschule. Wenn ich dem morgendlichen Treiben dort gelegentlich einmal zuschaue fällt mir auf, daß so gut wie kein Kind zu Fuß zur Schule geht. Die, übrigens ziemlich enge, Zufahrtsstraße ist völlig verstopft von den Autos von Eltern, die ihre Kinder zur, oft nur wenige hundert Meter von ihrem Zuhause entfernten, Schule fahren. Nicht wenige begleiten ihre Kinder dann noch bis zum Eingang, einige sogar bis in das Klassenzimmer. 

Wenn ich beruflich die Gelegenheit bekomme, Elternteile zu den Ursachen dieses Verhalten zu explorieren, dann ergeben sich typischerweise zwei Antworten. Zum einen fühlen manche Eltern sich hierzu genötigt, weil „alle das so machen“, und man nicht als „Rabenelternteil“ dastehen will; Gruppendruck also. Zum anderen geben Eltern Ängste an, die letztlich auf die Furcht vor Entführung, Mord oder Vergewaltigung hinauslaufen. Das ist insofern bemerkenswert, als das vergleichsweise hohe reale Risiko für die Kinder im Straßenverkehr hierbei völlig außer Acht gelassen wird (das wäre mit Blick auf den aggressiven frühmorgendlichen Fahrstil mancher Eltern sogar noch eine vergleichsweise verständliche Sorge). 

Es scheint also, wieder einmal, ein häufig zu beobachtendes Phänomen vorzuliegen: In Ermangelung realer erheblicher Gefährdungen (in diesem Fall für das Kindswohl) in einer eher verschlafenen Kleinstadt einer deutschen Mittelgebirgsregion, die sich wiederum in einem der sichersten Länder der Erde befindet, sucht sich die angeborene menschliche Angstbereitschaft gleichsam vorgestellte oder eingebildete Gefährdungen (oder richtiger: vernachlässigbare Restrisiken). Diese werden dann kognitiv zu einer „gefühlten Gefahr“ aufgeblasen, die fortan handlungsleitend wird, z. B. durch Vermeidungsverhalten, das dann -über kortikale Feedbackschleifen- die gefühlte Gefahr scheinbar bestätigt und sowohl die Angstneigung als auch das angstgesteuerte Verhalten zementiert und verstetigt. So funktionieren Angstneurosen. Wenn die verbliebenen Zweifler dann noch via Gruppendruck zur Anpassung genötigt werden, haben wir -widdewitt- eine neue (und im doppelten Sinne gefährliche) Realität konstruiert; mit schönen Grüßen von der Kernkraft übrigens.

Mit der menschlichen Angstbereitschaft scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit dem menschlichen Immunsystem. Beide Systeme neigen dazu, wenn sie nicht hinreichend gefordert und immer wieder kalibriert werden, zur Überreaktion. In stark entkeimten Lebensumfeldern folgen dann die Autoimmunkrankheiten, in weitgehend sicheren Lebensbedingungen gedeihen die Angstneurosen, die dann durch Lernerfahrungen und die Beispielrolle der Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Nachkommenschaft übertragen werden.

Und die Glaskugel? Meiner Einschätzung nach sieht es düster aus für die noch nicht geborenen Kinder der kommenden Jahre. Wenn den (in weiten Teilen irrationalen) Ängsten von Eltern um ihre Kinder kein Korrektiv gegenüber gestellt wird (und wo sollte ein solches Korrektiv auch herkommen?), dann ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch staatliche Institutionen sich zunehmend berufen fühlen werden, "unterstützend" einzugreifen. 

Wenn es kaum noch vorkommt, daß Kinder allein im Wald spielen oder in Berlin-Mitte U-Bahn fahren; wenn es also statistisch hinreichend selten vorkommt, dann ist der Weg zur Bewertung als Normabweichung, ja zur Pathologisierung solcherart angstfreier Eltern, nicht weit. 

Am Ende werden sich möglicherweise alle Beteiligten wieder wohl fühlen. Eltern, die ihre Kinder 24/7 unter Kontrolle haben und ihre ängstliche Weltsicht durch Freunde, Nachbarn und die ihrerseits zunehmend ängstlichen Kinder bestätigt sähen. Jugendämter, deren Eingreifschwelle so niedrig wäre, daß kaum noch, wie oft in der Vergangenheit, mediale Vorwürfe eines "zu späten Eingreifens" erhoben werden könnten. Eine Polizei, die wieder mehr als "Freund und Helfer" in Erscheinung treten könnte.  Alle wären glücklich und zufrieden. Einzig auf der Strecke bliebe am Ende, soviel ist sicher: das Kindswohl sowie jegliches Gefühl von und für Freiheit. 


Andreas Döding


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