20. März 2015

SoFi


"Ob denenjenigen Kindern, welche um die Zeit geboren werden, da sich Sonnen- oder Mondfinsternissen am Firmamente präsentieren, mit Recht besondere Fatalitäten zu prognostizieren sein?"
 
So beginnt der Erzähler von Johann Gottfried Schnabels ab 1731 in vier Bänden erschienener "Wundersamen Fata einiger Seefahrer", die allen späteren Lesern nur unter dem griffigeren Titel der "Insel Felsenburg" bekannt ist, seinen Lebensbericht, und fährt fort:
 
"Diese Frage will ich den gelehrten Naturkündigern zur Erörterung überlassen, und den Anfang meiner vorgenommenen Geschichtsbeschreibung damit machen: wenn ich dem geneigten Leser als etwas Merkliches vermelde: daß ich Eberhard Julius den 12. Mai 1706 eben in der Stunde das Licht dieser Welt erblickt, da die bekannte große Sonnenfinsternis ihren höchsten und fürchterlichsten Grad erreicht hatte."
 
Die Eklipse von 1706, die gegen elf Uhr morgens Zürich in zwei und das sächsische Zittau vier Minuten lang in völlige Finsternis tauchte, dürfte im deutschen Sprachraum die letzte gewesen sein, die in Beobachtern ein elementares Entsetzen auslöste und Gedanken an das bilbisch angekündigte Ende der Welt hervorgerufen hat:
 
"1706 d. 12. Maji Morgens zwischen 9.10 und 11 Uhr ist auch allhier eine sehr große Sonnenfinsterniß gewesen, da darüber Mensch und Vieh sich entsetzt und nicht anderst vermeinit haben, als ob er folge darauf der jüngste Tag selber" - heißt es in der "Lindauer Chronik". Auch im Zittauer Bericht schwingt das Fraglichwerden der Weltordnung mit: "Aber wir entsetzten uns nicht wenig, als wir sahen, daß  der Mond, im Augenblick, und als wenn er mit macht, von jemand fort- und fürgeschoben würde, alles Sonnenlicht  bedeckte, und eine totale Finsternis bey uns verursachte... Wir stunden also mitten am Tage in einer stockfinsteren  Nacht... Wiewohl diese Finsternis noch gar etwas sonderlich und entsetzliches bey sich hatte, welches ich selbst  nicht recht ausdrücken kan, ohne daß ich sagen muß, es sei eyne bleich und todten-gelbe, und also viel betrübtere und jämmerliche Finsternis gewesen, als etwan die gewöhnliche Finsternis der Nacht ist. Sonderlich, weil auch die unvernünftigen Creaturen darüber bestürzt waren, und sich gleichsam in eine so unzeitige Nacht nicht zuschicken wusten. Die Schwalben, flogen stille schweigend, gantz nahe bey den Menschen heran, als wenn sie bey selbigen Hülfe suchen wolten. Die Tauben, deren etliche zu meiner ergetzung halte, sassen theils auf dem Dache theils waren zu Felde, und mußten beyderseits an ihrem Orte bleiben, biß die Sonne sich wieder blicken ließ; da jene gantz zitternd nach ihren Höhlen flogen; diese aber wie die Pfeile von dem Feld geschossen kahmen, und vor Furcht zitternd und bebend, jene nacheileten."




In der berühmten Schilderung der Sonnenfinsternis von 1842 über Wien von Adalbert Stifter wird zwar auch eine beinahe kreatürliche Angst vor dem Zerfall der Sicherheit des Weltgefüges artikuliert, vor dem Schrecken des leeren, toten Weltraums: aber dies ist eine persönliche Obsession des Verfassers, die sich immer wieder in seinen Texten Bahn bricht, die, das hat W. G. Sebald sehr schön aufgezeigt, als Leitmotiv des Stifterschen Schreibens gelten kann: daß hinter der biedermeierlichen Fassade, dem quietistisch-Butzenscheibenhaften, jäh der Einbruch des Chaos, des Todes droht: ob in der Schilderung des Eisbruchs in der "Mappe meines Urgroßvaters", ob bei den Kindern, die im "Bergkristall" in der Höhe der Alpengletscher ihren Weg verlieren, ob im Anblick des Erde aus den Ballon in seiner ersten Erzählung "Der Condor" von 1840. Für den Rest der Beobachter liegt zwischen den beiden Finsternissen die breite Rezipierung der bürgerlichen Aufklärung, die Vertrautheit mit der "neuen Astronomie" des heliozentrischen Weltbilds und der Wandel der Idee der Unendlichkeit vom bedrohlich-Grenzenlosen in "das Sublime" (wie es der englische Philosoph Edmund Burke 1757 in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful ausgeführt hat; Burke ist nicht der einzige: das liegt im 18 Jhdt. in der Luft; aber seine Schrift ist die bekannteste und am meisten angeführte). Im Deutschen wird das zumeist mit "das Erhabene" übersetzt. Berge und unbelebte, öde Meeresküsten können jetzt zu etwas werden (wie in Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer"), das nicht mehr die Gefallenheit der Schöpfung durch den Sündenfall (die alte theologische Variante) oder das Unbewohnbare, Lebensfeindliche, daß, wenn überhaupt, nur durch unendliche Arbeit bewohnbar oder gar eine Heimat werden kann (das ist die utilitarische Sicht der frühen Neuzeit; und natürlich schließen sich die beiden Varianten nicht aus, sondern gehen Hand in Hand.)  Ab jetzt sind Sonnenfinsternisse ein so beindruckendes wie seltenes Himmelsschauspiel, eine Bestätigung der Berechnungen der Astronomie. Wer symbolische Aufladungen mag (also noch den "alten Blick" auf die Welt nicht eigentlich bewwahrt hat, aber ihn doch reaktivieren kann), kann es als absolut passend empfinden, daß die erste empirische Bestätigung der Einsteinschen Relativitätstheorie durch die Fotografie einer Sonnenfinsternis vom Mai 1919 bei Magagaskar, durch Arthur Eddington erfolgte. (Die Theorie sagte voraus, daß das Licht durch die Schwerkraft abgelenkt werden sollte; & der Zufall wollte es, daß die Sonne während der Finsternis vor dem Sternhaufen der Hyaden stand. Aus dem Vergleich der Sternpositionen mit früheren Aufnahmen konnte Eddington die sogenannte "Aberration" belegen.)
 
Max Weber hat diesen Vorgang die "Entzauberung der Welt" genannt. Dagegen steht das Konzept einer "Wiederverzauberung der Welt", das seit den siebziger Jahren mit dem Namen Morris Berman verbunden wird, aber schon in der vorherigen Jahrhundertwende zum Programm der Jugendbewegten, der Wandervögel und den Schwarmgeistern der Neuromantik gehört. Hermann Hesse und Nietzsche mag nicht viel verbinden, aber in diesem Punkt sind sie ununterscheidbar. Und, bien sur, ist die Sehnsucht nach dem Ir- und Vorrationalen, nach dem "ungebrochenen Aufgehobensein," ein Kind der alten Romantik, das zuerst wohl von Novalis formuliert ist. Wie dem auch sei: der auf Symbolik geeichte Beobachter könnte es als ausgesprochen passend empfinden, daß im 21. Jahrhundert, unter dem Zeichen ökologistischer Naturschwärmerei, einer umfassenden Abwertung des logischen, kalten, berechenden Kalküls und der Skepsis zugunsten einer allzuoft empiriefreien, aber hemmungslos entgrenzten Befindlichkeit, einer Absolutsetzung des eigenen Ichs, die alten Dämonen wieder in ihr Recht gesetzt werden und ein Ereignis wie eine Sonnenfinsternis zu einer Bedrohung werden kann. Nur eben nicht nur im Kosmos des "Weltinnenraums" zwischen den beiden Ohren, sondern draußen, in der realen Welt, der physisch (und nicht nur psychisch) bestimmten, die sich durch Diskurse und Narrative nur unzureichend beeindrucken läßt. Soviel an Hegelscher Spirale muß schon sein: die alten Verhältnisse kehren wieder, aber auf verbreiteter und erweiteter Basis.
 
Auf der anderen Seite sieht der Symboliker vielleicht eine Wiederkehr der himmlischen Zeichen, mit denen die alten Götter ihr Mißfallen am vermessenen Treiben der Irdischen bekundeten; wobei es nicht nur bei der Warnung blieb, sondern die Strafe nachfolgte: und zwar auch im Fall der griechischen Mythen nicht nur gegen den einzelnen Frevler wie Prometheus oder Marsyas, sondern kollektiv: bei der Zerstörung der "heiligen Troja" ebenso wie von Sodom und Gomorrha, Rungholt oder Ys. Allerdings wird der Neopaganismus dann doch wohl nicht so weit getrieben werden, zum dem Schluß zu kommen, daß es den Olympischen gefallen habe, das Lieblingskind der Energiewende, die in grotesken Maße installierte Photoelektrik (mit mittlerweile 39 Gigawatt installierter Nennleistung) dadurch zu torpedieren, daß Helios sein Haupt verhüllte. So weit wird es am heutigen Freitagmorgen wohl nicht kommen, auch wenn die Netzbetreiber aufgrund einer in diesem Fall noch nie so dagewesenen Leistungsschwankung mit gutem Recht eine gewisse Nervosität an den Tag legen (wie man in Englischen sagt: no pun intended).
 
Wie aus diesem Bericht auf Spiegel Online zu entnehmen ist, wird - vorausgesetzt, daß sich morgen in ganz Deutschland keine Wolke am Himmel zeigt, die eingespeiste Leistung aus der Photovoltaik von 17,32 Gigawatt (GW) um 9:30 im Laufe von nur einer Stunde auf 6,63 GW vermindern; danach steigt sie bis 11:45 auf 24,41 GW an. Diese Amplitude der Schwankungsbreite übertrifft um einiges den Leistungsanstieg und -abfall, wie er jeden Tag bei Sonnenauf- und untergang zu bewältigen ist. Hinzu kommt die Notwendigkeit, trotz der Schwankungen die Netzfrequenz des produzierten Stroms konstant zu halten.
 
"Heikel wird es vor allem, wenn die Solaranlagen wieder anfangen, Strom zu produzieren. Denn dann steigt im Stromnetz auch die sogenannte Frequenz, die zum Beispiel die Drehzahl von Uhren, Generatoren und Bändern bestimmt. Ist die Frequenz zu hoch, drehen sich Generatoren und Fabrikbänder schneller. Dadurch könnten dann zum Beispiel Turbinen zerstört werden. Normalerweise liegt die Frequenz bei gut 50 Hertz. Wird der Schwellenwert von 50,2 Hertz überschritten, werden Stromquellen automatisch abgeschaltet, um sie wieder zu senken.
 
Dadurch aber kommt es zu weiteren Frequenz- und Spannungsschwankungen in den Netzen, was dazu führen kann, dass weitere Kraftwerke sich abschalten. Schlimmstenfalls droht in einigen Regionen ein Stromausfall von einigen Minuten oder sogar Stunden. Oder gar der flächendeckende Blackout. Das wäre dann ein sogenannter Groß-Störfall."
 
Erschwerend kommt hinzu, daß, trotz der in den vergangenen Jahren installierten Großfelder im Osten Deutschland, ein gewichtiger Anteil der Solarstromproduktion durch Klein- und Kleinstanlagen erfolgt, die unter der gesetzlichen Schwelle von 30 kWp (kiloWatt Peak, also der theoretischen Maximalleistung liegen), auf die die Stromversorger keine Zugriffsmöglichkeiten haben: die also nicht einfach "vom Netz genommen" werden können. Zudem schlägt das Phänomen SoFi landesweit zu: bei den Schwankungen, die durch aufziehende und aufreißende Bewölkung entstehen, handelt es sich um lokale Phänomene, die durch Einpeisung aus anderen Bereichen ausgeglichen werden können. Und solche Schwankungen werden auch nicht von anderen Solar- oder Winderzeugern geleistet, sondern aus Gas- und Ölkraftwerken (und bislang auch noch Kernkraftwerken) die zu diesem Zweck als "stille Reserve", gewissermaßen im Leerlaufbetrieb, vorgehalten werden. Bei einer völligen Wolkenbedeckung würde vom Himmel her keinerlei Gefahr drohen; oder, wie es ein Kommentator bei EIKE - Europäisches Institut für Energie und Klima - formulierte:
 
Falls am Freitag wider Erwarten schlechtes Wetter herrscht, findet die Sonnenfinsternis in der örtlichen Turnhalle statt.
 
Hier gibt über den Kurzmeldungsdienst Twitter Einblicke aus Sicht der Netzbetreiber: https://twitter.com/tennetsofilive
 
Dramatisch sind Sonnenfinsternisse eigentlich wenig ergiebig: sie können zwar einen theatralischen Paukenschlag setzen, der aber allzuoft nur pompös und aufgesetzt wirkt (so wie bei Hergés Tim/Tintin, der sich vom angehenden Inka redivivus ausbegingen konnte, an einem Datum an den Marterpfahl gebunden zu werden, an dem er die Sonne verschwinden lassen konnte). Auch Vampire können wohl während drei bis sechs Minuten totaler Verfinsterung kein beindruckendes Maß an Destruktivität entfalten. Aber in einer Erzählung, die seit mehr als 60 Jahren als eine wenn schon der besten, aber doch berühmtesten Erzählungen der Science Fiction gilt, geht eine Zvilisation an den Folgen einer Verfinsterung zugrunde: in Isaac Asimovs "Nightfall" von 1941 handelt es sich um einen Planeten, der von sechs Sonnen beschienen wird und auf dem es niemals Nacht wird. Fast nie: alle 2049 Jahre sorgen die komplexen (aber nie konkretisierten: eine kurze Erzählung braucht dies nicht) Bahnverhältnisse der Sterne dafür, daß eine Hälfte der Welt in Nacht versinkt und die Bewohner das erste Mal im Leben dem Dunkel und dem Anblick der Sterne ausgesetzt sind - eine Erfahrung, die die Bewohner in den kollektiven Wahnsinn treibt. (Die notwendige verknappte Dramaturgie des 30-Seiten-Umfangs sorgt dafür, daß die Entdeckung des Grunds, warum die Zivilisation alle zweitausend Jahre restlos zugrunde, mit dem Eintritt eben dieses Endes zusammenfällt.) Ein Zyniker, der den Verlauf der Energiewende durch die gallige Brille des Sarkasmus betrachtet, könnte sich zur Feststellung veranlasst fühlen, daß es hierzulande keiner SoFi bedarf, um einen solchen Zustand herbeizuführen.

(Mit Dank an Meister Petz)



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Ulrich Elkmann


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