28. Mai 2015

"Die Caine war sein Schicksal" - Herman Wouk zum 100.

Wenn man die Literatur, zumindest die erzählende, die sich direkt mit der Erfahrung des Krieges auseinandersetzt, überfliegt, fällt auf, daß viele dieser Romane das übrige Werk ihres Autors überschatten, wenn sie nicht sogar das einzige Buch des Verfassers geblieben sind. Für Werke, die aus dem Abstand von einer oder zwei Generationen als umfangreiche tour d'horizon entstanden sind und den Gesamtverlauf des Konflikts, mit dem sie befasst sind, abschildern, gilt das nicht: Tolstois "Krieg und Frieden" oder auch Fontanes "Vor dem Sturm", die beide den zentralen Bruch der napoleonischen Kriege ins Auge fassen, sind nicht als Solitär im Œuvre ihrer Verfasser verblieben. Die Ausnahme bildet hier Margaret Mitchells "Gone with the Wind" von 1936, der nach dem Muster Tolstois den amerikanischen Bürgerkrieg als die Erfahrung zu schildern versucht, aus dem das Geschichtsbewußtsein des modernen Amerika hervorgegangen ist. (Daß das Ergebnis in diesem Fall zudem eine abstandslose Verklärung der Antebellum-Epoche der amerikanischen Südstaaten war und das Panorama mit dem breiten Weichzeichnerpinsel des sentimentalen Bestsellermodus ausgeführt wurde, hat dem Buch nicht eben gutgetan.) 





 
Aber die Romane, die den Krieg aus den unmittelbaren Perspektive der kämpfenden Soldaten schildern, sind - wenn sie das halbwegs glaubhaft zustande bringen, wenn sie den Leser für die Dauer der Lektüre allein aus der Sicht des Augenblicks ins Chaos, in den Dreck, in den allgegenwärtigen Tod stoßen, die Bücher, die von ihren Verfassern bleiben, im Gedächtnis zurückbleiben - selbst wenn man kein Wort von ihnen gelesen hat. Das gilt ziemlich übergreifend über die einzelnen Kriege und auch die Seite, aus der das geschildert wird, hinaus. Neben "Im Westen nichts Neues" ist von Remarque heutigen Lesern nichts mehr geläufig, Henri Barbusses "Feuer" war lange Zeit ein französisches Pendant: dass dieser viele Titel, die sich auf den ersten Weltkrieg beziehen, mittlerweile verblasste Namen sind, zeigt, daß es auch in diesem Bereich ein Zeitfenster gibt, das sich, spätestens nach zwei Generationen, schließt. Bei Romanen, die sich danach mit diesem Thema befassen, handelt es sich um historische Romane, ihre "Unmittelbarkeit" ist geborgt und tritt gewissemaßen aus zweiter Hand inszeniert vor den Leser: wie bei den oben genannten Büchern weiß hier nicht nur der Leser, sondern auch der Roman selbst um den Ausgang des Krieges, (Für den Ersten Weltkrieg kann man diesen Effekt an Büchern wie Michael Morpurgos Jugendbuch "War Horse" von 1984 oder Pat Barkers "Niemandsland"-Trilogie aus den frühen 90er Jahren sehen.)
 
Auch von Joseph Heller ist nur "Catch-22" geblieben; von James Jones "From Here to Eternity"; ebenso von den Autoren von Romanen, in denen sie ihre Erfahrungen im Vietnamkrieg verarbeitet haben - Gustav Hasfords "The Short Timers" von 1979 (die Vorlage für Stanley Kubricks Film "Full Metal Jacket") oder Robert Stones "Dog Soldiers". Ebenso von Hans Hellmut Kirst oder Pierre Boulles "Brücke am Kwai". Selbst von Joe Haldeman, der weit über 30 Romane verfasst hat, hat es nur "The Forever War" von 1975 zu einer beständigen Dauerhaftigkeit gebracht: das Buch, in dem er den Krieg im Urwald Südasiens in die Tropoi der fernen Zukunft transponiert hat.
 
Wenn man hier einmal die rein "bejahenden" Bücher ausklammert - die es aber längst nicht mehr zu geben scheint: auch Romane, die den Krieg nicht ablehnen, sondern ihn als Notwendigkeit anerkennen, kommen seit Remarque und Heller nicht mit ohne eine grundsätzliche Gebrochenheit, einen Grundton an existenzieller Schwarzfärbung aus - scheinen diese Schilderungen zumeist in zwei Gruppen zu fallen: zum einen die dezidierten Antikriegsromane, die nur die Hölle sieht, die den einzelnen zermahlt - am grellsten ausgemalt vielleicht in Dalton Trumbos "Johnny Got His Gun"  von 1939, dessen gelähmtem, taubblindem Kriegskrüppel selbst der Tod verweigert wird - oder zum anderen als absurde Veranstaltung, die man mit viel blindem Glück überleben kann, in der dem einzelnen aber nichts übrig bleibt als zu warten, zu hoffen, nicht aber zu beten, weil diese Illusion zuerst implodiert ist. Wenn sie denn je bestanden hat. Typischerweise wird in diesen Büchern die eigene Militärführung, die Offiziere, der unmittelbare Vorgesetzte zum eigentlichen Gegner: ob das nun als schwarze Komödie gespielt ist wie bei Heller oder als tragisches Himmelfahrtkommando im Karl Marlantes' "Matterhorn."
 
In die letzte Kategorie gehört auch der einzige Roman von Herman Wouk, der zumindest als Titel dem heutigen Publikum im Gedächtnis geblieben ist: "The Caine Mutiny", auf deutsch "Die Caine war ihr Schicksal", drei Jahre nach Erscheinen 1954 mit Humphrey Bogart in der Rolle des zunehmend erratisch agierenden Kapitän Queeg, der von seinem ersten Offizier amtsenthoben wird und dessen Wahn sich erst in der Gerichtsverhandlung gegen den First Officer Maryk (wegen der titelgebenden "Meuterei") in ganzem Umfang offenbart. Kein anderer der gut ein Dutzend Romane Wouks ist auch nur als Titel präsent geblieben, die zumeist im zwei Themen kreisen: die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ("The Winds of War", 1971 und die Fortsetzung "War and Remembrance" von 1978, die der Laufbahn eines imaginären Generals im Krieg gegen die Deutschen folgen), oder Büchern wie "The City Boy" (1946), "Marjorie Morningstar" (1955) und "Inside, Outside" (1985), die alle das Erwachsenwerden im städtischen jüdischen Milieu im Amerika der 30er Jahre schildern - nur dieser eine Titel, der vor fast 65 Jahren erschienen ist. Das könnte daran liegen, daß der dramatische Knoten der "Caine" effektiv geschürzt ist und der Kapitän nicht nur ein aus nachvollziehbaren Gründen aus der Spur gelaufener Charakter ist, sondern auch bis zum Schluß eine reelle Chance hat, die Oberhand zu gewinnen. Zu oft haben die Kritiker ansonsten auf die realistischen, gut ausgestalteten Hintergründe verwiesen, vor denen dann doch nur banale Liebes- oder Erfolgsgeschichten abgespult werden.
 
Daß Wouk noch immer eine wenn auch schattenhafte Präsenz ist, dürfte selbst vielen amerikanischen Lesern erst durch eine Erzählung von Stephen King wieder bewußt geworden sein, die vor genau vier Jahren in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift "Atlantic" erschienen ist: keine horror story, sondern eine Schilderung des heutiegen Generationenkontrasts, in der zwei alte (Gelegenheits)-Dichter in ihren hohen Siebzigern Anlaß zu vorsichtigem Optimismus finden:
 
“We’re not old,” he says, “we’re young, ma bébé.”
“What in the world are you talking about?”
“Look at this,” he says, and holds out the first page of the Arts section. She takes it and sees a photograph. It’s a dried-up string of a man wearing a straw hat and a smile.
As she looks at that old, seamed face beneath the rakishly tilted straw hat, Pauline feels the sudden sting of tears. “The body weakens but the words never do,” she says. “That’s lovely.”
“Have you ever read him?” Phil asks.
Marjorie Morningstar, in my youth. It’s an annoying hymn to virginity, but I was swept away in spite of myself. Have you?”
“I tried Youngblood Hawke, but couldn’t finish it. Still … he’s in there pitching. And he’s old enough to be our father.”
 
"Wir sind nicht alt," sagt er, "wir sind jung, ma bébé."
"Wovon redest du?"
"Guck mal," sagt er und hält ihr die erste Seite des Kulturteils hin. Sie nimmt sie und sieht ein Foto; es zeigt einen ausgezehrten alten Mann mit einem Strohhut und einem Lächeln.
Während sie das alte, zerfurchte Gesicht unter dem keck sitzenden Hut anschaut, fühlt Pauline plötzlich das Stechen von Tränen. "Der Körper lässt nach, aber die Worte nie," sagt sie. "Das ist hübsch."
"Hast du ihn je gelesen?" fragt Phil.
"Marjorie Morningstar, als Jugendliche. Ist ein nerviges Loblied auf die Jungfräulichkeit, hat mich aber trotzdem umgehauen. Und du?"
"Ich hab Youngblood Hawke angefangen, habs aber nie zu Ende geschafft. Aber trotzdem ... er ist immer noch dabei, er spielt immer noch mit. Und er ist alt genug, um unser Vater zu ein."


Der Titel der Erzählung? "Herman Wouk Is Still Alive"
 
Am heutigen Mittwoch hat Herman Wouk seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Ein neuer Memoirenband, "Sailor and Fiddler: Reflections of a 100-Year-Old Author", ist vom Verlag Simon & Schuster für den Dezember angekündigt worden.




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Ulrich Elkmann


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