15. Oktober 2015

Dummes, kurz kommentiert: Berliner Politiker spielen "Flüchtlingsboot"

Vor fast genau 100 Jahren, am 5. Oktober 1915, veröffentlichte Karl Kraus in seiner Zeitschrift "Die Fackel", in der er an den Zuständen in Wien, um Wien und um Wien herum seit jeher kein gutes Haar ließ, im Rahmen einer Reihung von Zeitungszitaten eine kurze Mitteilung aus einem nicht genannten Blatt über eine neue Attraktion im Wiener Prater, mit der die k.u.k. Heeresleitung dem geneigten Publikum die Realität des Frontalltags auf den Schlachtfeldern des Weltkriegs näher bringen wollte:

"Spiele"

"Der Schützengraben wurde bis jetzt von mehr als 15.000 besucht. Nebst den großartigen Anlagen der Schützengräben fanden auch die Übungen mit den Scheinwerfern bedeutendes Interesse. Mirgen, Sonntag, werden auch die großen Scheinwerfer in Aktion treten. Das Militärkonzert beginnt bereits um 4 Uhr nachmittags. Eintritt pro Person 50 H., für Militär vom Feldwebel abwärts und Kinder 20 H. Kürzeste Abfahrt durch die Ausstellungsstraße (3. Haltestelle vom Praterstern).

"...das von Hauptmann Adolf Ott zusammengestellte Programm umfaßte neben Chorgesängen mit Schauturnen verwundeter und rekonvaleszenter Soldaten die Vorführung eines Angriffs auf die 'Festung Wulkipoff', die von diversen Feinden verteidigt wurde. Die Kleider für die 'Feinde' hatte die Brünner Theaterdirektion zur Verfügung gestellt. Natürlich wird die Festung erobert und die Feinde in ihren abenteuerlichen Kostümen dem Publikum vorgeführt. Dann wurde die Mannschaft, rund 4000 Mann, mit Bier und Gulasch bewirtet und zum Schluß ein Feuerwerk, dessen Haupteffekt die bengalische Beleuchtung des Kaiserbildes und die flammenden Initialen bildeten."
(Die Fackel, Nr. 406-412, 5. Oktober 1915, S.34)

Diese Volksbelustigung hat sich im späteren Verlauf in Kraus' Monumental-Epos und -Abrechnung "Die letzten Tage der Menschheit" vorgearbeitet, in das Kaleidoskop der gut 200 Szenen, in denen ein Amok laufendes, rettungslos aus den Fugen geratenes Europa Revue passiert. Die achte Szene des 2. Akts führt das vor:
 
Der Wurstelprater. Die Szene stellt einen Schützengraben dar, in welchem Provinzschauspieler Schießübungen vornehmen, telephonieren, schlafen, essen und Zeitung lesen. Der Schützengraben trägt Flaggenschmuck. Das tausendköpfige Publikum steht in dichten Reihen davor, zahlreiche Funktionäre, Würdenträger und Reporter im Vordergrund.

Der Entrepreneur: – und hiermit empfehle ich den Schützengraben, welcher dem p. t. Publikum das Leben im echten Schützengraben täuschend vor Augen führen soll, dem edlen Zwecke der patriotischen Kriegsfürsorge und richte an Seine kaiserliche Hoheit das alleruntertänigste Ersuchen, den Schützengraben für eröffnet zu erklären.

Die Stimme des Erzherzogs Karl Franz Josef: Ich bin gerne gekommen, den Schützengraben anzuschauen. Ich bin ja selbst Soldat.

Das Publikum: Hoch! Hoch! Hoch!

Daß es sich hierbei mitnichten um groteske Farcen einer bereits dadaistisch entgrenzten Phantasie handelt, kann man, stellvertretend für viele Berichte in der damaligen Presse, beispielsweise in der Neuen Freien Presse vom 27. August 1915 lesen:
 
Neueste Attraktion im Prater: ein Schützengraben

Hier lässt sich‘s durchaus leben, denkt der Sonntagsausflügler.

Von heute an wird nun auch der Wiener im Hinterland einen ganz klaren Begriff von dem Leben im Schützengraben haben. Und manche Mutter, manche Frau wird von dieser neuesten Attraktion einen gewissen Trost und viel Zuversicht heimbringen, denn sie wird aus diesem in allen Details wahrheitsgetreuen Schützengraben sehen, dass auch ein längerer Aufenthalt dort erträglich, die Sicherheit vor einschlagenden Kugeln und Schrapnellstücken verhältnismäßig groß ist.

Betritt man den Ausstellungsrayon, so sieht man zunächst – gar nichts. Und das muss so sein, denn ein Schützengraben, den man auf hundert Schritt Entfernung sieht, ist eben kein Schützengraben. Tritt man aber dicht zu den Eingängen, so erfasst man rasch die geniale Anlage der ganzen Sache. Ein Gewirr von mannshohen Gräben, quer und parallel laufend, unsichtbar gemacht durch die Sandhügel, die von dem ausgegrabenen Material herrühren. Baumstämme und Laub bilden die Wände und die Sicherung gegen eine Verschüttung. Bleibt man lange genug in ihm, so nimmt der Unterstand einen immer wohnlicheren Charakter an, die Wände werden mit Zeitungsausschnitten, Photographien, lustigen Reimen geschmückt. … Die Eröffnung fand heute vormittag in Anwesenheit vieler Hunderte von geladenen Gästen statt. Die offizielle Welt war reich vertreten, man sah aber auch viele junge Offiziere, deren Medaillen und Orden an der Brust bewiesen, dass sie den Schützengraben nicht erst in Wien kennen lernen müssen. Und sie, die das alles miterlebt haben, bildeten den Damen willkommene Führer, um alles zu erläutern und mit eigenen Erlebnissen zu illustrieren.
 
Na gut, möchte man sagen: das sind Auswüchse einer versunkenen Zeit, die sich hilflos der Katastrophe eines in nie dagewesene Dimensionen ausgeuferten Schlachtens gegenübersah und vom Jahrmarkt des Hurrapatriotismus zur Ernüchterung eines Henri Barbusse, Robert Graves oder Erich Maria Remarque noch einen jahrelangen Weg zurücklegen musste. Heutzutage könnten solche schrillen Peinlichkeiten nicht mehr stattfinden. Und schon gar nicht könnten sie von hoher politischer Warte abgesegnet werden.
 
Weit gefehlt.
  
Am 13. Oktober 2015, fast auf den Tag genau 100 Jahre nach dem Erscheinen von Kraus' decouvrierendem O-Ton-Mitschnitt, fand in Berlin auf der Spree eine mordsmäßige Gaudi statt, über das die Berliner Zeitung unter der Überschrift "Hier setzen sich Politiker in ein Original-Flüchtlingsboot" berichtete:
 
120 Politiker, Reporter und Interessierte auf einem einzigen Schlauchboot: Die Organisation Sea Watch demonstrierte am Dienstagmittag um 13 Uhr auf der Spree vor dem Bundestag, wie es sich anfühlt, wenn eine solche Menschenmasse auf engstem Raum zusammengedrängt wird.

Der Verein wollte mit dieser Aktion auf die prekäre Lage der Flüchtlinge aufmerksam machen, die während ihrer Flucht auf eben diese Weise sogar mehrere Tage auf dem Mittelmeer verbringen müssen. Zu diesem Anlass brachte Sea Watch ein originales Flüchtlingsboot mit, auf das sie während ihrer Rettungsmission zwischen April und September gestoßen waren.
 
N-TV berichtet weiter: "Politiker fahren Flüchtlingsboot"
 
Um halb drei werden aus Politikern illegale Passagiere auf der Spree. Mit Rettungswesten betreten Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht, Simone Peter und andere das Schlauchboot, das direkt vor dem Reichstagsgebäude festgemacht ist. "Das ist ja gruselig", sagt die Linke Kerstin Kassner, neben ihr zieht sich eine Fraktionskollegin die Mütze tief ins Gesicht und greift fest um das Tau am Rand des Bootes.

120 Menschen auf einem kleinen Schlauchboot: Die Politiker spielen an diesem Dienstag bei der Aktion der Seenotrettungs-Organisation Seawatch nach, wie sich Flüchtlinge auf dem Mittelmeer fühlen. Ganz so bedrohlich wie die Realität ist die Situation auf der Spree natürlich nicht. Aber die Simulation gibt zumindest eine Ahnung davon, wie ungemütlich die mehrtägige Flucht über das Mittelmeer sein muss.

Alle Bundestagsabgeordneten wurden zu der Aktion eingeladen. Viele Linken-Politiker, einige Grüne und nur wenige von SPD und Union sind an diesem ungemütlichen Oktobertag gekommen. Die Linken haben extra ihre Fraktionssitzung verschoben. "Und das an einem so historischen Tag", sagt die Linken-Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Später wird ihre Partei die Nachfolger von Fraktionschef Gregor Gysi wählen.
 
Man weiß nicht recht, wovon man mehr beeindruckt sein soll: daß eine Politik aus ihrer völligen Untätigkeit und Unfähigkeit angesichts der größten Krise, die dieser Staat seit seiner Gründung gegenübersteht, endlich die Konsequenz gezogen hat und sich in Kasperlespielen und Happenings ergeht, oder von ihrer absoluten Schamlosigkeit, mit der sie den Modus ihrer lächerlichen Aktionen eins in eins jenen des "Zentrums für politische Schönheit" entlehnt, das auch per Leichenschändung die Aufmerksamkeit "auf prekäre Lagen" zu lenken versucht hat, indem man die sterblichen Überreste von in Italien an Entkräftung gestorbenen Flüchtlingen mirnichts-dirnichts vor dem Kanzleramt in Berlin einscharren wollte. Zumindest wissen unsere Politiker nach den zehn Minuten, die diese Aktion angedauert hat, daß Seefahrten auf sinkenden Nußschalen "ungemütlich" sind. Nicht so wohnlich wie ein Schützengraben voller Senfgas.
 
Egal, wie man zur Flüchtlingskrise, die über uns hinwegrollt wie ein Tsumani, steht: ob man aus humanitären Idealen für die Millionen, die sich auf den Weg in ein besseres Leben gemacht haben, das Beste erhofft, oder ob man in hilflosem Zorn und Fassungslosigkeit auf unsere politische Riege schaut, die mit ihren infantilen Versprechungen diese Invasion ausgelöst hat, die, wenn sie ungebremst weitergeht, eher über kurz als über lang dieses Land, seine Sozialsysteme und seine innere Sicherheit unter sich begraben wird - in beiden Fällen sieht man sich als Bürger einer Verhöhnung gegenüber, die selbst die Fähigkeit zur "spätrömischen Dekadenz", von der Guido Westerwelle vor Jahren sprach, im Zuge ihrer psychischen Regredierung um Lichtjahre hinter sich gelassen hat.
 
Bleibt nur anzumerken, daß die Berliner Republik im zielsicheren Danebengreifen, das nachgerade zu ihren konstituierenden Merkmalen zählt, sich mit der Spree den falschen Ort für ihr Re-Enactment ausgesucht hat. Angeboten hätte sich der Krüpelsee bei Königs-Wusterhausen: Dort wurde 1912, 4 Monate after the fact, die erste Filmumsetzung jener Schiffhavarie inszeniert, die seither zum Sinnbild für scheiternde Vermessenheiten bis hin zum Staatsuntergang geworden ist: dem Untergang der RMS Titanic. Die Wikipedia bemerkt über den Film "In Nacht und Eis" des Regisseurs Mime Misu: 
 
Vieles an diesem Film wirkt sehr laien- und theaterhaft. Der Erste Offizier agiert nach dem Zusammenstoß wie eine Mischung aus aufgescheuchtem Huhn und hoffnungslos überfordertem Leichtmatrose[n], der Kapitän wirkt ähnlich hilflos und fuchtelt im Angesicht drohender Gefahr wild mit den Armen umher.
 
Die Engländer pflegen in solchen Fällen zu sagen: life imitates art. (Obschon der Genosse Sigmar, von dem böse Zungen lästern, er müsse sich im Urlaub vorsehen, nicht von besorgten Naturschützern ins Meer zurückgeschoben zu werden, eher als Voll- denn als Leichtmatrose durchgehen würde.) Die Film zählte jahrzehntelang zu den "verlorenen Filmen," die nur durch gedruckte Kinoprogramme und wenige Standbilder bekannt sind; kurz nach James Camerons Umsetzung des gleichen Filmstoffs, der in einer leicht gehobeneren Klasse spielt, tauchte eine Kopie auf einem Berliner Speicher auf und ist mittlerweile im Weltnetz zu begutachten als Beweis, daß mit manchen Verlusten eher keine Einbuße am Weltkulturerbe einhergeht.
 
Alternativ hätte auch der Beetzsee in Brandenburg, 2 Stunden westlich von Balin, eine überaus passende Kulisse abgegeben (freilich wissen wir, wenn schon sonst nichts, daß es zur Politik unserer Regierung selbstredend keine Alternativen gibt): dort hat der Berliner Volksmund im klassischen Liedgut berichtet, wie es Fritze Bollmann ergangen ist:

Zu Brandenburg uff’m Beetzsee,
Ja da liegt een Äppelkahn,
und da drin sitzt Fritze Bollmann
mit sein ollen Angelkram.

Fritze Bollmann wollte angeln,
doch die Angel fiel ihm rin,
Fritze wollt se wieder langen,
doch da fiel er selber rin.

Und die Angel - ward jerettet,
Fritze Bollmann - der vasuff,
und seitdem jeht Fritze Bollmann
uffn Beetzsee nich mehr druff.


Freilich kann man sich, ob des großen Erfolges, auf weitere Gastvorstellungen freuen:
 
Der nächste Einsatz von Sea Watch wird voraussichtlich im nächsten Sommer stattfinden, wofür der Verein ein moderneres Boot organisieren will.  (B.Z.)
 






Bis dahin sollte es auch mit der Organisation der bengalischen Illumination des Konterfeis unserer besten aller Schirmherrinnen klappen. Die flammend zu erhellenden Initialen Seiner Majestät im seinerzeitigen Rechtsvorläufer der heutigen Berliner Republik wären S.M. gewesen; die aktuelle Variante A.M. darf als glückliche Symbolik für eine bruchlose Traditionswahrung angesehen werden.
 

 
   
 










­
Ulrich Elkmann


© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.