29. Juni 2016

Aus der Schwalbenperspektive (10): Lob des Party-Patriotismus. Eine Provokation

Dem überkommenen Klischee gemäß ist der durchschnittliche deutsche Fußballfan männlich, weiß und - zurückhaltend formuliert - nicht gerade der raffinierteste aller Schöngeister. Genau der Typ also, der bei der Weltmeisterschaft 2010 die bunte südafrikanische Tradition des Vuvuzela-Blasens als nervtötend empfand. Lassen wir hier mal großzügig außer Acht, dass die akustische Umweltbeeinträchtigung mittels Trötenkakophonie am Kap der guten Hoffnung ein rezentes Phänomen ist. Außerokzidentale Usancen sind in der maasgerechten Welt unabhängig von ihrem Alter keiner Kritik zugänglich.
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Nicht am meridionalen Ende des Schwarzen Kontinents, sondern im Herzen Europas, aber ungefähr zur gleichen Zeit, wurde eine andere Entwicklung in die Wege geleitet. Seit dem "Sommermärchen", der Heim-WM im Jahre 2006, ist der Party-Patriotismus hierzulande bei jedem internationalen Fußballwettbewerb integrierender Bestandteil des Zeremoniells. Aber wir Deutsche wären nicht Deutsche, wenn wir dieses schwarz-rot-goldene Jubelmeer unbefangen zur Kenntnis nehmen würden. Im Gegenteil: Die Edlen, Hilfreichen und Guten rufen zur Fahnenstürmerei auf.

Dem unbefangenen Betrachter mag das schon als grotesk erscheinen: Ohrenbetäubende Lärmbelästigung wird zum erhaltenswerten Kulturgut stilisiert; schweigende, allenfalls im Wind leise raschelnde Flaggen bilden dagegen ein Ärgernis. Diese Einstellung wäre vielleicht dann gerechtfertigt, wenn man in dem Vorzeigen der Landesfarben einen Ausdruck des michelhaften Chauvinismus erblicken könnte.

Aber dem ist nicht so. Denn der deutsche Party-Patriotismus ist, jedenfalls nach der (vermutlich nicht repräsentativen) Erfahrung des Verfassers, überwiegend weiblich und auch nicht unbedingt kartoffeldeutsch. Von den beiden Damen, die bei meinem pub-viewing der Achtelfinalbegegnung zwischen Jogis Jungs und den Slowaken als in Bundesnationalcouleur wangenbemalt hervorstachen, war bei einer die fernöstliche Familiengeschichte unübersehbar, und die andere sprach mit einem ihrer vorbeigehenden Bekannten ein muttersprachlich wirkendes Russisch. Die zwei trikolorierten Zeitgenossinnen waren übrigens gemeinsam in das Lokal gekommen und saßen am selben Tisch.

Stellt der Party-Patriotismus vielleicht einen Kitt unserer multiethnischen, multikulturellen, multi-was-auch-immer Gesellschaft dar? Und macht er die Männerdomäne Fußball für manche Frauen, die im Gegensatz zu den wirklichen Aficionadas sonst nichts mit der Balltreterei anfangen können, zu einer attraktiven Angelegenheit?

Wenn man diese beiden Fragen bejaht, ist dann die Ablehnung des Party-Patriotismus nicht ziemlich rechts?
Noricus

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