13. Juli 2016

Ein Mittsommernachtstraum: "Die Morgentür"



"Öreland: Dies hab ich am 22.3. gegen Morgen get(bäh! wird gerade getrennt!)räumt: kein Wort verstellt. [...] Nochmals: dies ist ein wörtlicher Traumbericht vom 22. März 1946." - Arno Schmidt, Brand's Haide (Reinbek b. Hamburg, Rowohlt, 1951, S. 20 u. 22)

Und dies ist das exakte Protokoll eines Traums, den der Endunterzeichnete am Morgen des 10. Juli 2016, sozusagen in Echtzeit, zwischen 07 Uhr 30 und 07 Uhr 40, im virtuellen Bereich des nächtlichen Kopfkinos betrachten durfte. "Nächtlich" trotz der sonntäglich vorgerückten Morgenstunde; da die "fünf Pforten der Sinne", wie Sir Thomas Browne sie genannt hat, noch geschlossen waren & die Bühne der Wahrnehmung von den Truppen bespielt wurden, die, gemäß der antiken Auffassung, aus den Toren aus Horn oder Elfenbein entweichen - 

Sunt geminae somnī portae, quārum altera fertur
cornea, quā vērīs facilis datur exitus umbrīs,
altera candentī perfecta nitēns elephantō,
sed falsa ad caelum mittunt īnsomnia Mānēs.
Hīs ibi tum nātum Anchīsēs ūnāque Sibyllam
prōsequitur dictīs portāque ēmittit eburnā,
ille viam secat ad nāvīs sociōsque revīsit. 
(Vergil, Aeneis, Buch 6, 893-98)


Die Ausdeutung dieser Schattenspiele war schon immer Ziel der Bemühungen von Sinnsuchern, die sich weigerten, darin das Resultat einer kruden oder zufälligen olla potrida von Tageserinnerungsresten oder zufällig feuernden Synapsen zu sehen, Dennoch haftete diesen Versuchen ob ihrer Wirrnis und offenkundigen Beliebigkeit von Anfang bis Ende etwas arg Bemühtes an. Die berühmteste Traumdeutung der Antike, die fünf Bücher der Oneirokritika, der Traumdeutung des Artemidoros aus dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, liest sich denn auch über weite Strecken auch eher wie die nächstmögliche Vorwegnahme des Dadaismus, die der Antike vergönnt war, als eine stringente Handreichung zur Ausdeutung von Symbolen.

"Sich [= im Traum] zu kämmen bringt Mann und Frau Nutzen; denn der Kamm ist gleichbedeutend mit der alle Widerwärtigkeiten überwindenden Zeit. Das Haarflechten ist nur Frauen und jenen Männern von Nutzen, die es auch sonst [= im Wachen] zu tun pflegen, allen anderen Menschen zeigt es Verwicklungen in ihren finanziellen Verpflichtungen, hohe Darlehensschulden, bisweilen auch Gefängnis an.“ (Buch II.6)

Auch die Psychoanalyse und die ihr verwandten Disziplinen haben hier keine Klärung gebracht - kein Wunder bei den Wirkmechanismen, die nach Auffassung Freuds das Traumgeschehen auslösten und steuerten. Die Neurologie der darauffolgenden hundert Jahre hat diese Annahmen ad acta gelegt; aber trotz Hirnwellenvermessung, Alpha- und Betawellenkartierung, der Protokollierung der heftigen sakkadischen Bewegung der Augäpfel während der nach diesem Phänomen benannten R[apid] E[ye] M[ovements]-Phasen des Tiefschlafs steht eine schlüssige Traumtheorie bis heute aus. Festhalten kann man, daß Freuds Traumtheorie dazu geführt hat, daß die Träume, die er von sich oder seinen Patienten verzeichnete, für den Leser seiner Schriften von benehmender Banalität sind. Nach dieser Ansicht verbergen sich ja die zentralen Symbole, die Kernbedeutungen (die als Radix stets sexuelle Triebe haben) hinter harmlos und trivial scheinenden Details, zu deren Freilegung es eines gewaltigen und zeitraubenden analytischen Aufwands unter der Führung eines Meisters, eines strengen Lehrers bedarf. (Es ist mir allerdings nicht bekannt, ob sich Freud in seinem Werk je explizit mit der Rolle identifiziert hat, die nach antiker Auffassung einem Psychopomp zukommt: einem Seelenführer wie Hermes, der die Sterblichen durch die Unterwelt oder die Traumlande leitet.) Bei Freuds rebellischem Schweizer Schüler Carl Gustav Jung liegt die Sache andersherum: Nach seiner Ansicht bedeutete der Traum kein Puzzle- oder Vexierspiel, sondern offenbarte das, was er mitzuteilen hatte, in klarer Form, die sich nicht zuletzt in ihrer frisson, ihrer berückenden bis schrägen Faszinationskraft  zeigte. Entsprechend sind die Nachtmeerfahrten, deren Logbuch Jung führte (beispielsweise in eigener Sache in Erinnerungen, Träume, Gedanken), durchweg solche, bei denen man sich als Leser wünscht, einmal selbst von diesen Schattenspielen heimgesucht zu werden. Auch dann (und vielleicht gerade dann) wenn die onirische Commedia dell'Arte ins Bedrohliche, Dämonische kippt.  

Auch wenn Träume also sinnlos sind; das Resultat frei feuernder Synapsen, aus deren Signale sich die angeregten Hirnareale mangels Input aus der sogenannten Realität einen unbeholfenen Reim zu machen versuchen, und auch wenn nach einer guten Erkenntnis nichts so banal oder langweilig ist wie die Träume andere Leute, darf eine solche Langweilerei in der Flaute mittsommerlicher Doldrums vielleicht einmal gestattet sein. Feuilletonisten der alten Schiene vom 18. Jahrhundert bis zum Eingang des 20. nahmen sich einmal in ihrer Karriere die Freiheit heraus, einen kleinen Aufsatz Über nichts, On Nothing, Du rien zu liefern (der älteste Versuch scheint von Henry Fielding zu stammen),  Das Erstaunen, wie der kognitive Apparat aus disparaten Elementen eine scheinbar sinnbehaftete Erzählung gestalten kann, läßt dieses Protokoll natürlich in einer ganz anderen Liga spielen.

Nochmals Arno Schmidt: "dies ist ein wörtlicher Traumbericht..."

Ich finde mich, mit der Abruptheit, die Träumen eigen ist, im Erdgeschoß eines weitläufigen Gebäudes, bei dem es sich um eine Villa oder ein klein dimensioniertes Museumsgebäude handeln muß. Die Deckenhöhe der Zimmerfluchten, durch die ich gehe,  liegt weit über vier Meter; das Ambiente der klassizistischen Möbel schlägt eher nach Louis Seize als Louis Quinze aus: weiß und mit Messingbeschlägen vor den pastosen warmen Herbsttönen der Samttapeten: chiffon, celadon, bleu d'outre-mêr. In den Händen trage ich eine gut halbmeterhohe schmale Karaffe aus geschliffenem Kristallglas, die zu zwei Drittel mit gelbem Saft gefüllt ist, dessen Kälte die Finger fast ertauben läßt (ein ungewöhnlicher Zug; im allgemeinen sind im Traum weder Tast- noch Geruchssinn präsent). Meine Aufgabe, auch das weiß ich mit der Bestimmheit eines Traumes, ist, sie nach draußen zu tragen, obwohl mir die Gastgeber oder Erteiler dieser Aufgabe in keiner Weise präsent sind. Durch die Fenster der Wand zur linken Hand, deren Sims höher als meine Augenhöhe liegt, erhasche ich Ausblicke in einen kleinen Park, die Spitzen geometrisch gestutzter Buschreihen und dahinter dunkle, fast schwarze hohe begrenzende Taxushecken. Das letzte Zimmer endet in einer doppelflügeligen Kassettentür, die ins Freie führen muß, auf eine säulenbegrenzte Rundtreppe nach streng Palladianischem Muster, wie mir der Blick aus dem letzten Fenster verrät. Ich stelle die Karaffe auf einem Seitentischchen ab, um die Hände freizuhaben, öffne den rechten Türflügel - und pralle zurück: Statt der Gartentreppe sehe ich in einen Flur, schmal, recht dunkel, und direkt vor mir, keine zwei Handbreit entfernt, steht eine sehr junge Frau, nein, ein Mädchen: völlig regungslos, nicht einmal atmend, soweit ich das bemerke, mit einem starren, erstarrten Blick, der durch mich hindurchzugehen scheint. Erschreckt schlage ich die Tür zu; sofort tut mir die unbedachte, grobe Reaktion leid, zudem mischt sich leichte Neugier hinein: will mir jemand einen Streich spielen? amüsieren sich "die anderen" - wer immer das sein mag; denn bislang habe ich niemanden außer mir bemerkt - über diesen Tölpel? Ich öffne die Tür ein zweites Mal: wider steht ein junges Mädchen davor, vielleicht vierzehn Jahre alt, vielleicht etwas älter; jetzt in in roter Kleidung statt grauer, mit kurzem Blondhaar statt dunklem, aber ebenso unverwandt starr, kalt, erstarrt. Ich setze zum Sprechen an; da mir aber keine passende Äußerung einfällt, wiederhole ich das Türöffnen, um sicher zu gehen, nicht von den Sinnen (wie ironisch, im Traum!) genarrt worden zu sein. Mein Blick fällt auf die Karaffe: statt des hohen, spitz auslaufenden Halses zeigt sie einen Zylinder, oben eingefaßt von einem breiten Silberrand; auf halber Höhe sitzt im Glas eine pfeilspitz zulaufende Tülle aus Metall; es erinnert an den Pelikan der Alchemisten. Das dritte Mädchen vor der Tür trägt dunkelstes Grau. Mich befällt die Ahnung: Zwischen jedem Öffnen der Tür vergehen Jahre, vielleicht Jahrhunderte. "Welches Jahr haben wir?" frage ich die Gestalt vor mir. Kein Blinzeln, kein Zeichen eines Erkennens, nur die Lippen bewegen sich: "4392." Geht das so weiter? Mir bleibt keine Wahl. Beim vierten Öffnen - alles in rapider Folge, dazwischen liegen nur Sekunden - steht vor mir ein Mann, auffallend in tiefstes Schwarz gekleidet, neben ihm die drei Parzen. Nur hat er ein lebendiges Gesicht, die Augen bewegen sich, er zeigt verhaltene Mimik. "Was ist in diesem Gang?" Er drängt sich an mir vorbei ins Zimmer, um mir den Weg freizumachen; ich trete zwei Schritt mach vor und bleibe in der Türöffnung stehen: Rechts, bislang nicht einsehbar, existiert der Flur nicht mehr. Statt dessen eine bodenlose, absolute Schwärze, ein vollkommenes Nichts, aber keine Leere, sondern angefüllt, ausgefüllt mit ... irgend etwas Unbeschreiblichem. Und in diesem lichtlosen substanziellem Nichts beginnt es in tiefem, kaum auszumachendem Rot wie von Adern, mit spektraler Lava gefüllt, zu pulsieren, fast im Rhythmus eines Herzschlags, wie es scheint. Die Schwärze wirkt wie ein blinder Fleck; er schmerzt in den Augen, ich weiß, daß mehr als ein flüchtiges Erhaschen zur Erblindung führen wird. Ich gehe zwei Schritt zurück durch die Tür, drehe mich um. Ich weiß, daß nur der dunkle Herr an mir vorbei das Zimmer betreten hat; aber alle vier stehen vor mir, und wieder weiß ich: die leben nicht - das sind, was? Emanationen, Avatare, Illusionen des Entsetzlichen da draußen. Und im selben Moment: und was bist dann du in diesem Fall? "Wie sieht es hier drin aus, wenn ich nicht im Zimmer bin?" Seine angedeutete Geste bestätigt meine Ahnung. Und die Gesichter dunkeln ein, die Kleidung, die Gestalten überziehen sich wie mit erstarrender Lavaschlacke, die aufbricht und unter der es rot hervorglost...

Keine fünf Minuten; aber eine abgerundete dramatische Situation. Schon erstaunlich, aus welchen Erinnerungsfetzen der Director dominus, ob nun UBW oder assoziatives Gedächtnis, das zusammenmontiert hat: das klassizistische Ambiente verdankt sich dem letzten Akt von Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum", die warme Einfärbung in herbstliche Farbtöne der Schlußsequenz von Christopher Nolans "Inception" - einem Film, der die Vermischung von Traumillusion und Wirklichkeit bis in die letzte Steigerung getrieben hat; die nie zu erreichende Parkkulisse Resnais' "Letztes Jahr in Marienbad"  Die Tür als einfachstes Mittel, um in Riesensprüngen die chronologische Ordnung außer Kraft zu setzen: die Inversion der Zeitsprünge in Akif Pirinçcis "Die Damalstür" - aber auch eine Erinnerung (wenn man das so nennen möchte) an die Theorien von J. W. Dunne, der in seinen Büchern ab An Experiment with Time (1927) tatsächlich den Traum als eine Möglichkeit der Zeitreise, oder, akademisch goutierbarer ausgedrückt: der temporalen Transgression ansah.  Und nicht zuletzt an die Folge 106 der unvergänglichen Fernsehserie "The Avengers/Mit Schirm, Charme und Melone", "Escape in Time", in dem der, in diesem Fall freilich nur vorgetäuschte - Sprung ins fingierte Augustan age nur das Durchschreiten einer Tür benötigte.   

Und die dämonisch-bedrohliche blutig-pulsierende, alles ausfüllende Präsenz... Nein, das verdankt sich nicht den kosmischen Ungeheuern H. P. Lovecrafts oder John Carpenters "Prince of Darkness". Das ist viel schlichter: es handelt sich um den Blick ins Gehirn des Träumenden.


(Abb: Jean Pierre Simon (1769 - ??), "Cochemare", um 1810; nach der bekannteren Vorlage "The Nightmare" von Johann Henrich Füßli)




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Ulrich Elkmann

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