26. Juli 2016

Grundsätzliches (0): Über das Nichts - und die Lust daran

Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
Lesern dieses Blogs braucht man nicht zu sagen, dass dieses Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes Faust - dem "Schicksalsbuch der Deutschen" (Meister Petz, Faust, Mephisto, Beelzebub, Zettels Raum vom 11.03.2016) stammt.

Wer könnte sich dem großartigen Nihilismus der angeführten vier Verse entziehen? Vielleicht ein William Faulkner, der "between grief and nothing" - vor die Wahl zwischen dem Kummer und dem Nichts gestellt - für Ersteres wäre. Wie lauwarm. Wie wenig mephistophelisch. Und wie eindeutig im Vergleich zu der Ambivalenz seines Landsmanns Robert Frost, Fire and Ice:
From what I've tasted of desire
I hold with those who favor fire.
[...] for destruction ice
Is also great
And would suffice.
Ob dem, was ich gekostet vom Begehren,
Halt' ich's mit jenen, die aufs Feuer schwören.
[...] für die Zerstörung hat das Eis
Dem Zwecke treu
Den rechten Preis.
(Selbstversuch einer freien Übertragung mit Versmaß und Reim)
Wie hohl klingt Faulkners Bejahung dann aber gegen das Folgende:
Ein Augenblick gelebt im Paradiese
Wird nicht zu theuer mit dem Tod gebüßt.
Das ist zwar Schiller'scher Idealismus im Gegensatz zu des Geheimrats weltweisem Zynismus. Aber ja: Auch aus ihm spricht der Drang zum Nichts.

Man mag in diesen Zeiten des sinnlosen Tötens, gleichviel ob es im Namen eines Gottes oder eines inneren Dämonen geschieht, gar nicht darüber sprechen: Aber es gibt sie, diese Lust am Abgrund, am Nichts (so wie es die nicht völlig deckungsgleiche Lust am Bösen gibt) - und die Dioskuren unserer Literaturgeschichte haben ihr jeder in seiner eigenen Façon ein Denkmal gesetzt.

Einer der bedeutendsten Kulturphilosophen des Abendlandes, Sigmund Freud (dessen Leistungen aus der Perspektive der Medizin oder der Psychologie zu würdigen beziehungsweise in Abrede zu stellen einer der größten Irrtümer der Wissenschaftsrezeption ist), hat völlig korrekt erkannt, dass es uns nicht nur zur Lust, sondern auch zur Vernichtung treibt.

Lassen wir wieder Mephisto sprechen:
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
 Dieser hochintellektuelle Satan ist paradoxerweise
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Und er ist natürlich nichts anderes als ein Teil des Doctor Faustus, nämlich die dunkle Seite seiner Seele. Nach Sartre, Huis clos, sind zwar die anderen die Hölle ("L'enfer, c'est les autres" - hier eine Interpretation dieses dunklen Satzes), aber Mephisto, das sind wir schon selbst.

Was ist nun dieses Nichts? Es zu definieren ist unmöglich, wäre es doch, wenn es sich bestimmen ließe, ein Etwas. Jedenfalls zieht es uns an, dieses undefinierbare Nichts. Kaum unseren inneren Leporello, der opportunistisch und mit der Feigheit des Überlebenswilligen den eigenen Untergang zu vermeiden trachtet, jedoch unseren archetypischen Don Giovanni, der sehr viele im Paradies verlebte Momente lieber mit dem Tode büßt, als sich der, so wird's ihm scheinen, Sklavenmoral seiner Umgebung zu beugen.

Haben wir da nicht den Überzeugungstäter vor uns? Denjenigen, den man laut Radbruchs Theorie wegsperren muss, weil er gefährlich ist, dem man aber nicht wirklich einen Vorwurf im Sinne eines Anders-Handeln-Müssens machen kann? Spielt es denn eine Rolle, ob der Weg zur Hölle mit guten oder mit schlechten Vorsätzen gepflastert ist? (Und ist der Weg zum Himmel vielleicht mit schlechten Vorsätzen geplastert, argumento: "Kraft,/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft"?) Und sind die Überzeugungstäter, die Don Giovannis, nicht eigentlich viel schlimmer als die Mitläufer, die Leporelli?

Ist dieser bewusst gewählte Weg ins Nichts ein integrierender Bestandteil unserer Tradition? Man möchte es meinen. Denn auch der Gründer der Religion, die unserer Kultur ihren Stempel aufgedrückt hat, ging diesen Weg mit einer unbeirrbaren Konsequenz. Aber Jesus nahm, wenn wir der Überlieferung folgen, dies alles auf sich, um uns vor dem Nichts zu bewahren. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den Herren Carlos und Giovanni sowie zum Doktor Faust. Denn Christi Weg ins Nichts ist nicht von Eigensucht und Verstocktheit gesäumt, sondern ein unübertrefflicher Akt der Liebe zur Menschheit: Ein Gott, der die lasterhaften Sünder nicht bestraft, sondern sich - im Gegenteil - opfert, damit diese das ewige Leben haben: Was ist das nur für ein unvergleichlicher Humanismus!

Noricus

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