9. Juni 2006

Moralischer Verschleiß

Neben dem materiellen unterliegt die Maschine aber auch einem sozusagen moralischen Verschließ. Sie verliert Tauschwert im Maße, worin entweder Maschinen derselben Konstruktion wohlfeiler reproduziert werden können oder beßre Maschinen konkurrierend neben sie treten. In beiden Fällen ist ihr Wert, so jung und lebenskräftig sie sonst noch sein mag, nicht mehr bestimmt durch die tatsächlich in ihr selbst vergegenständlichte, sondern durch die zu ihrer eignen Reproduktion oder zur Reproduktion der beßren Maschine notwendige Arbeitszeit. Sie ist daher mehr oder minder entwertet.

Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Vierter Abschnitt, S. 426f; Dietz-Verlag, Berlin/DDR 1968



Vor ein paar Monaten hat mein Grundig Ocean Boy seinen Geist aufgegeben. Ich hatte ihn Ende der sechziger Jahre gekauft. Er hat also knapp vier Jahrzehnte durchgehalten; und das bei Vollast - er lief fast täglich viele Stunden. Ich würde ihn reparieren lassen, wenn ich weiter einen Weltempfänger brauchte; denn einen signifikant besseren würde ich auch heute nicht bekommen.

Es ist ungefähr fünf Jahre her, daß ich meine Digitalkamera gekauft habe, eine Sony Cybershot. Gestern habe ich eine neue bestellt, eine Ricoh Caplio. Was ich mit der Sony mache, weiß ich noch nicht. Jedenfalls brauche ich sie nicht mehr.

Sie funktioniert immer noch bestens und wird das vermutlich noch Jahrzehnte tun. Aber sie ist, gemessen an heutigen Digitalkameras, ein Dinosauerier.

Die Sony habe ich entweder an der Handschlaufe tragen müssen oder sie in eine Manteltasche gesteckt, in der sie unförmig auftrug, oder ich habe mir am Gürtel eine Kameratasche befestigt, aus der ich sie für jedes Fotografieren herausklauben mußte. Die Ricoh dagegen werde ich in die Hosentasche oder in die Saccotasche stecken können. Sie ist sozusagen eine Westentaschenkamera, mit ihrer Super-Kompakt-Größe, oder vielmehr -Kleinheit.



Die Sony hat eine so lange Auslöseverzögerung, daß ein Schnappschuß von unserem Hund manchmal nur dessen Schwanz zeigte. Die Auslöseverzögerung der Ricoh wird unter 0,1 sec liegen.

Die Sony hat keinen optischen Zoom, sondern nur diesen "digitalen Zoom", der keiner ist. Mit dem fünffachen Zoom der Ricoh werde ich den Bildausschnitt wählen können, ohne hin- und herzurennen wie Buster Keaton als Kameramann.

Die Sony hatte einen winzigen Monitor, der nur gerade eben ahnen ließ, wie das Bild aussehen würde. Die Ricoh wird einen Monitor haben, der fast ihre ganze Rückseite ausfüllt; fast schon einen kleinen Bildschirm, auf dem man auch die gespeicherten Aufnahmen mit Genuß Revue passiern lassen kann, in einer kleinen Diashow.



Die Sony ist keineswegs eine schlechte Kamera geworden. Sie macht schöne, scharfe und farbtreue Bilder, sie hat einen sehr guten Bedienungskomfort.

Aber sie hat einen moralischen Verschleiß hinter sich, der ihr den Garaus gemacht hat. Nicht exakt den moralischen Verschleiß, den Marx meinte, den von Maschinen. Aber doch einen sehr analogen moralischen Verschleiß, den von Konsumgütern. Sie wurde dadurch, daß es heute viel bessere Kameras gibt, in meinen Augen entwertet - in ihrem Gebrauchswert entwertet, wie Marx das nannte.

Allerdings damit auch in ihrem Tauschwert. Ich bekäme heute für sie nur noch einen Bruchteil des sehr hohen Preises, den ich damals, vor dem Boom der DigiCams, bezahlt habe.

Beim Computer ist dieser Prozeß des moralischen Verschleißes eklatant. Jeder weiß, wie sich die Leistung eines Standard-PCs - also eines zum Preis von um die 1000 Euro, früher 2000 DM - ständig erhöht. Einen gebrauchten Rechner zu kaufen macht meist keinen Sinn, weil man für den Preis eines gebrauchten High-End-Rechners von vor fünf Jahren heute einen Billigrechner bekommt, der jenen in der Leistungsfähigkeit weit übertrifft. Von USB 2.0, Kartenlesern, WLAN usw ganz abgesehen, die heute zum Standard gehören.

Also kauft man Neues, und das moralisch Verschlissene wird entsorgt. Man wirft etwas weg, das noch bestens seine Funktion erfüllt.



Was ich jetzt geschrieben habe, das kann man unter "Kulturkritik" rubrizieren. Jemand bedauert die Zeitläufte, erinnert sich daran, wie schön und vernünftig es doch früher war. Er begibt sich in die Pose des Überlegenen - dh er bejammert, ironisiert, verhöhnt, verdammt "die heutige Zeit", je nach Temperament.

Manche, die Wortgewaltigen, erheben sich mit dem Gestus des Priesters über sie und fordern die Rückkehr zum Wesentlichen, zur Eigentlichkeit. Die Abkehr von der Seinsvergessenheit, der Eindimensionalität des Menschen, von der Konsumgesellschaft.

Moralischer Verschleiß - das ist für diese Kulturkritiker sozusagen ein gefundenes Fressen. Wir werfen das weg, was "noch gut" ist. Gibt es ein vernichtenderes Urteil über eine Gesellschaft?



Ich habe das, früher einmal, auch so gesehen. Ich erinnere mich an meine Juso-Zeit in den sechziger Jahren. Damals wurde das Farbfernsehen eingeführt. Und wir Jusos waren uns einig: Das ist Warenfetischismus, Konsumdenken, die Erzeugung "falscher Bedürfnisse". Die Leute waren doch auch mit ihrem Schwarzweiß-Fernsehen glücklich.

Wird denn, so haben wir uns überlegt, das Lebensglück dadurch erhöht, daß man Peter Frankenfeld oder Hans-Joachim Kulenkampff künftig in Farbe sehen kann? Das ist doch alles "Konsumterror". Uns werden diese falschen Bedürfnisse von einer Industrie eingeredet, die uns sozusagen zum Konsumtierchen dressiert.




Hm, hm. Habe ich mir die Ricoh bestellt, weil ich ein falsches Bedürfnis nach einem fünffachen optischen Zoom habe? Hat mir irgendwer eingeredet, ein Hidden Persuader, daß ich gern eine Kamera haben möchte, die ich in die Hosen- und die Sakkotasche stecken kann?

Keineswegs. Ich will das haben, aus freiem Entschluß. Ich will das haben, weil ich mich daran erfreuen will, die Kamera überall dabeizuhaben, Schnappschüsse ohne Auslöseverzögerung zu machen, nach Lust und Bildmotiv zwischen Tele- und Weitwinkel zoomen zu können. Die Kamera kommt in schwarz. Sie sieht also noch dazu schick aus und ein wenig exklusiv. Das wird mein Herz zusätzlich erfreuen.



Was ist daran falsch, kritikwürdig, gar unmoralisch? Diese Freude daran, etwas Neues zu haben, obwohl das Alte eigentlich doch auch gut gewesen ist, war und ist der Motor der Kultur. Und das, seit es vor ein paar Millionen losging; als es begann mit dem aufrechen Gang, den fürs Machen und Tun freien Händen, der Sprache, dem Feuer.

Kalt schmeckte gejagtes Fleisch auch, aber am Feuer geröstet eben besser. Zottelig und nackt sah Frau Feuerstein auch nicht übel aus, aber mit in die Haut geritzten Mustern und im schicken Antilopenfell eben noch schöner. Auch in der unbemalten Höhle ließ es sich wohnen, aber ein paar Grafiti an den Wänden machten sie noch wohnlicher.

Und so fort, über die Jahrmillionen, die Jahrtausende. Und immer war das, was eigentlich "noch gut" war, dem moralischen Verschleiß unterworfen. Das Viadukt unterwarf den Wassertransport mit Viehwagen dem moralischen Verschleiß. Die Mönche hatten wunderschöne Bücher abgeschrieben und mit Miniaturen versehen, aber der Buchdruck lieferte das dem moralischen Verschleiß aus. Und heute macht das eben der DVD-Player mit dem Videorekorder, obwohl der immer noch prima läuft. Und die kleine schwarze Ricoh mit der klobigen silbrigen Sony.



So sehe ich das. Ich bin ein hoffnungsvoller, also hoffnungsloser Fortschrittsgläubiger. Ich bin davon überzeugt, daß wir das Bruttosozialprodukt immer weiter steigern sollten. Ich glaube an das Wachstum, an die Wegwerfgesellschaft. Weil sie eben gerade nicht auf falschen Bedürfnissen basiert, sondern auf dem uralten Bedürfnis, an die Stelle des Guten das Bessere zu setzen.

Ich halte folglich die Idee vom "Nullwachstum", die sich allen dem entgegenstemmte, für grundfalsch. Sie erschien uns damals als besonders human, sozusagen auf das Wesen des Menschen zugeschnitten, der sein Glück nicht im Warenfetischismus findet. Sie war aber inhuman, weil sie das viel grundlegendere Bedürfnis nach Fortschritt, nach Verbesserungen nicht sah.

Uns die Freude am technischen Fortschritt, an den immer besseren und immer vielseitigern technischen Konsumgütern austreiben zu wollen, war eine Torheit.

Eine Torheit, die sich moralisch gab. Möge sie dem moralischen Verschleiß anheimfallen.