12. Juni 2006

Tugend

Begriffe haben ihre guten und ihre schlechten Zeiten.

Manche blühen auf, gedeihen eine Zeitlang und verwelken dann schnell; wie zB die "Empfindsamkeit" des 19. Jahrhunderts (durch Sternes "Sentimental Journey" popularisiert und in Flauberts "Éducation Sentimentale" klassisch geworden) oder das "modern" der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, dem gegen Ende jenes Jahrhunderts mit "postmodern" sozusagen ein Abschiedsgruß nachgerufen wurde.

Andere sind langlebig, sozusagen gefeit gegen das Nagen des Zahns der Zeit. Begriffe wie Liebe, Schuld, Glauben, oder auch Lüge, Verbrechen, Feigheit.



Und dann gibt es diejenigen Begriffe, die über die Jahrtausende eine gute Zeit hatten, denen es in unseren Tagen aber schlecht geht, ja hundsmiserabel.

Begriffe wie Ehre, Heldentum, Vaterland. Demut, Bescheidenheit, Redlichkeit. Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Uneigennützigkeit. Sanftmut, Reinheit, Keuschheit. Oder Stolz, Hoffart, Edelmut.



Eine offensichtlicher Grund dafür, daß diese Begriffe heutzutage so in Mißkredit geraten sind wie Kuno und Rosamunde als Vornamen, liegt in dem teils feudalen, teils bürgerlichen Kontext, dem sie entstammen.

Ehre, Stolz, Hoffart - das zählte an den Höfen der Provence, vielleicht noch in der Entourage der Queen Victoria, des Zaren Nikolaj oder des zweiten Wilhelm. Aber diese Eigenschaften haben sich in den fortgeschrittenen Ländern des 21. Jahrhunderts, so scheint es, ebenso verflüchtigt wie die Gesellschaft, in der sie bedeutsam gewesen waren.

Nur rückständige Anatolier sprechen heute in Deutschland noch von Ehre. Es ist abzusehen, daß die heute Heranwachsenden den Begriff der Ehre hauptsächlich mit Mord assoziieren werden.

Ähnlich steht es mit den Begriffen, deren zeitweilige Hervorgehobenheit wir der bürgerlichen Revolution zu verdanken haben - Redlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Uneigennützigkeit. Die Tugenden des Bürgers, der sich abrackert. Des Kleinbürgers, des Untertanen. "Sekundärtugenden" hat sie einer geschimpft, der von ihnen freilich frei war und ist.



Dieses flapsige Wort von den Sekundärtugenden, und vor allem seine freundliche Rezeption und große Verbreitung deuten darauf hin, daß nicht nur bestimmte Tugenden in Verruf geraten sind, sondern der Begriff der Tugend als solcher.

Jemanden tugendhaft nennen kann man heute nur noch mit einem Lächeln. Die weiter als gültig, oder zumindest als akzeptabel, geltenden Tugenden werden nicht so genannt, sondern "Werte". Wir führen in Deutschland eine "Wertediskussion". Eine "Tugenddiskussion" zu konstatieren oder gar zu fordern, würde nur ein mitleidiges Lächeln auslösen.



Werte werden, vor allem von der Linken, vor allem dann, wenn sie an der Macht ist, durchgesetzt. Jedenfalls versucht man das. Das war und ist die Essenz der "political correctness". Was man sagen soll und was nicht, das wurde und wird zu reglementieren versucht. Auch, sofern das in einer pluralistischen Gesellschaft, sofern es im demokratischen Rechtsstaat überhaupt möglich ist, was man zu bestimmten Fragen denken soll.

Gedanken und Äußerungen sind sozusagen die Zielobjekte dessen, was man manchmal - sehr übertrieben - einen "Tugendterror" genannt hat. Aber Tugenden eben gerade nicht.



David Riesman, ein Soziologe aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, hat von der "außengeleiteten" Gesellschaft gesprochen, in der sich jeder am Verhalten der anderen orientiert, in der es aber nicht mehr erstrebenswert oder auch nur wünschenswert ist, dem eigenen "inneren Kompaß" zu folgen.

Mir scheint, daß Riesman etwas Wesentliches erkannt hat. Tugendhaftigkeit - das war das, was die Feudal- und was die bürgerliche Gesellschaft ihren Mitgliedern zu vermitteln trachtete. Etwas, das, einmal erworben, sozusagen ein Leben lang hält. Wesenseigenschaften.

Wesenseigenschaften, unverrückbare, entsprechen nicht unserer Gesellschaft des sich exponentiell beschleunigenden Wandels. Menschen, die in der heutigen, sich ständig erneuernden Gesellschaft zurechtkommen wollen, brauchen keinen inneren Kompaß, sondern viel eher so etwas wie einen Radar, der ihnen ständig meldet, was um sie herum gerade "gefragt" ist.

Nicht nur Geräte, auch Überzeugungen, Maximen und eben Tugenden unterliegen in dieser dynamischen Gesellschaft einem moralischen Verschleiß.



Nein, das ist keine Kulturkritik.