18. Juli 2006

Zettels Meckerecke

Zitateritis

In einem vorgesehenen kleinen Beitrag zu diesem Blog, der jetzt nicht erscheinen wird - einer "Randbemerkung" - , wollte ich mit einem fürchterlichen aktuellen Fall (Ein alter Mann hat in Berlin seine Frau tödlich überfahren, als er einparken wollte) einen Satz von Schopenhauer illustrieren.

Ich habe das Zitat ungefähr im Kopf: "Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, möchte ich dieser Gott nicht sein; ihr Elend würde mir das Herz zerreißen".

So in etwa - aber so nicht zitierfähig; denn ich möchte schon genau zitieren.

Ich bin mir auch nicht mehr sicher, wo ich diesen Satz bei Schopenhauer gelesen habe. Ich glaube, in einem der Texte in den "Parerga und Paralipomena", aber vielleicht war es auch in seinem "Hauptwerk" gewesen.



Aber wozu haben wir das Web? Zitate - davon wimmelt es doch im Web. Zahllose Sites enthalten nichts als Zitate; kaum ein Forum, in dem wir nicht mit Zitaten aus diesen Quellen eingedeckt werden.

Also habe ich gegoogelt. Wie erwartet, steht das Zitat xfach im Web. Wie zu erwarten, in zahlreichen Versionen. Mal heißt es "Elend", mal "Jammer"; mal "die Welt", mal "diese Welt".

Genau in diesen Punkten war ich mir meines Gedächtnisses nicht sicher gewesen; und deshalb wollte ich das Zitat ja verifizieren.

Also halt im Original nachsehen, dachte ich mir. Mindestens ein Teil der Zitate im Web werden ja eine Quellenangabe enthalten.

Nein.

Keine einzige der Sites, auf denen das Zitat stand, gab die Fundstelle an.

Ich habe es dann auf englischen und französischen Sites versucht. Auch da wird der Satz eifrig zitiert: "If a god has made this world ..."; "Si un dieu a fait ce monde ...". Aber auch da Fehlanzeige: Niemand nennt die Quelle - nicht nur nicht die exakte Fundstelle, sondern noch nicht einmal das Werk. Jedenfalls nicht diejenigen Websites, die ich aufgesucht habe. (Daß es irgendwo doch zu finden ist, wenn man lange sucht, ist möglich, ja wahrscheinlich; aber lange suchen will man ja gerade nicht. Wikiquote jedenfalls war auch ergebnislos.)



Also werde ich morgen nach der Philosophie-CD aus der "Digitalen Bibliothek" suchen müssen, die irgendwo in der Nähe meines Rechners herumliegt; oder auch nicht.




Was ist das für eine Unsitte, zu zitieren, ohne die Fundstelle anzugeben?

Welchen Wert hat denn ein Zitat, dessen Kontext man nicht kennt? Exakt den Wert null. Man weiß ja überhaupt nicht, was der Autor meinte. Vielleicht hat er den betreffenden Satz nur geschrieben, um ihn anschließend zu widerlegen. Vielleicht hat er ihn - als Dramatiker - einer Figur in den Mund gelegt, ohne ihn im Geringsten selbst zu teilen. Vielleicht ergibt sich aus sonst einem Grund, daß der Satz, im Zusammenhang gelesen, einen ganz anderen Sinn hat, als wenn man ihn isoliert liest.



Das ist alles trivial. Jeder Erstsemester lernt, daß man beim Zitieren die Quelle anzugeben hat; und zwar so genau, daß der Leser die Fundstelle mit der geringsten möglichen Mühe aufsuchen kann. Erstsemester in vielen Studienfächern lernen auch genau, wie man richtig zitiert.

Ja, geht das denn alles verloren, wenn man sich im Web tummelt? Oder schreiben im Web nur Leute, die nie eine Universität von innen gesehen haben?

Ich weiß es nicht. Es ist mir wirklich ein Rätsel.

Oder, um es mit Schiller zu sagen: "Erkläret mir, Graf Örindur, diesen Zwiespalt der Natur." So ungefähr habe ich das Schiller-Zitat in Erinnerung. Aber wo steht es?

Ich werde den Teufel tun und versuchen, das im Web herauszufinden.