3. August 2006

Umfragen und Perspektiven

In der vergangenen Woche befaßte sich der "Spiegel" in seiner Titelgeschichte mit dem Nahostkrieg. Wie es inzwischen üblich ist, gehörten zum Titel-Paket auch Umfragedaten, die in einem Kasten mitgeteilt wurden; auf Seite 86 des Hefts 30/2006.

Zwei Fragen und die Antworten darauf zeigt dieser Kasten. Fragen, beantwortet von 1000 Menschen in Deutschland zwischen dem 18. und 20. Juli. Hier sind sie:
  • "Israel versucht die Angriffe der radikalislamischen Hisbollah auszuschalten. Halten Sie die israelischen Angriffe auf den Libanon durch das Recht auf Selbstverteidigung für gerechtfertigt, oder hat Israel kein Recht dazu?"
  • "Sollte Israel auf den Angriff von Großstädten verzichten, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, selbst wenn die Hisbollah ebenfalls große Städte in Israel mit Raketen angreift?"
  • Auf die erste Frage antworteten 22 Prozent mit "gerechtfertigt" und 63 Prozent mit "nicht gerechtfertigt". Auf die zweite Frage antworteten 72 Prozent mit "ja" und 18 Prozent mit "nein".



    Es geht mir bei den jetzigen Überlegungen nicht um diese Verteilungen der Antworten und auch nicht darum, ob die Fragen fair oder vielleicht etwas suggestiv formuliert waren. Was mich interessiert ist vielmehr, wonach gefragt wurde. Genauer, zum Verhalten welcher Seite in diesem Konflikt die Befragten eine Meinung äußern sollten.

    An dem Konflikt sind zwei Seiten - Israel und die Organisation "Hisbollah" - als Hauptakteure beteiligt, dazu ein Staat (der Libanon) als derjenige, auf dessen Terrain sich der Kampf überwiegend abspielt, und zahlreiche Staaten (vor allem die USA, der Iran, Syrien) als im Hintergrund Beteiligte.

    Sie alle handeln. Man könnte nach einer Bewertung des Handelns jedes dieser Beteiligten fragen. Warum wurde gerade nach dem Verhalten Israels gefragt (oder wurden jedenfalls nur Antworten auf Fragen dazu vom Spiegel publiziert)?



    Man könnte argumentieren, daß der Libanon ja weniger handelt als leidet und daß die Staaten im Hintergrund nicht im gleichen Maß Handelnde sind wie die unmittelbar Beteiligten. Das leuchtet ein. Aber warum wurde nicht gefragt, wie sich beide Kriegsparteien verhalten sollten und wie ihr Verhalten zu bewerten ist?

    Hätten nicht zu den beiden in Bezug auf Israel gestellten Fragen auch zwei Fragen gehört, die parallel das Verhalten der Hisbollah betreffen? Also etwa:
  • "Die Hisbollah greift israelische Städte mit Raketen an. Halten Sie diese Angriffe auf Israel durch das Selbstbestimmungsrecht der Araber für gerechtfertigt, oder hat die Hisbollah kein Recht dazu?"
  • "Sollte die Hisbollah auf den Angriff von Großstädten verzichten, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, selbst wenn Israel im Libanon Militäraktionen unternimmt, bei denen auch Zivilisten getötet werden?"


  • Solche Fragen habe ich in demoskopischen Erhebungen noch nie gelesen. Sie klingen irgendwie auch seltsam, nicht wahr?

    Warum? Mir scheint, das ist eine Frage der Perspektive. Und es ist eine eigenartige, interessante, Perspektive, die sich hier zeigt.



    Ob das, was Israel tut, richtig ist, und was es tun oder nicht tun sollte - das beschäftigt uns. Ob die USA das Richtige tun, oder ob das, was sie tun, zu verurteilen ist - das ist ein Dauerthema der politischen Diskussion in Deutschland, in Europa, in den USA selbst.

    Aber ob das, was die Fatah, die Hamas, die Hisbollah tun, gerechtfertigt ist, das wird kaum erörtert. Genauer gesagt: Es wird in unserem öffentlichen Diskurs in der Regel nicht auf seine Rechtfertigung hin erörtert, sondern lediglich auf seine Ursachen hin.

    Wir analysieren, warum sich Moslems radikalisieren (Weil sie vom Westen ökonomisch ausgebeutet werden? Weil sie mit der Verwestlichung nicht zurechtkommen? Weil sie von Haßpredigern aufgehetzt werden? Weil sie sich gegen die Vorherrschaft des westlichen Imperialismus empören? usw.)

    Aber wir erörtern selten, ob das, was diese radikalen Moslems tun, denn moralisch richtig ist, ob es gut oder böse ist. Wir fragen selten, was die Palästenenser denn tun sollten, was die Hisbollah denn tun sollte; so, wie wir fragen, wie sich denn Israel oder die USA verhalten sollten.

    Wir stellen in Bezug auf sie nicht die Fragen, die wir in Bezug auf die USA, in Bezug auf Israel ganz selbstverständlich stellen.



    Woher diese unterschiedlichen Perspektiven?

    Vordergründig könnte sie für ein besonderes Maß an Selbstbezogenheit und Selbstkritik, an Selbstzweifeln des Westens sprechen. Was wir, was die zu unserem Kulturkreis gehörenden Nationen USA und Israel tun, das prüfen wir, das sehen wir kritisch. Was die anderen tun, das zu be- und verurteilen maßen wir uns nicht an.

    Diese Antwort ist nicht falsch, aber meines Erachtens eben nur in einer vordergründigen Weise gültig. Denn nach moralischen Kriterien beurteilen wir das, was wir ernstnehmen. Daraufhin, ob es gut oder böse ist, beurteilen wir das Verhalten von Menschen, zu denen wir eine personale Beziehung haben.

    Das Handeln des nicht Zurechnungsfähigen verurteilt man nicht, sondern man erklärt es nur. Ihm gegenüber wechseln wir aus der personalen Perspektive in die neutrale, sachbezogene Perspektive, wie wir sie auch Dingen und Vorgängen in der Natur gegenüber einnehmen.

    In der Gesellschaft ist das der Blick des Soziologen und des Psychologen. Anderen Nationen, Völkern, Kulturen gegenüber ist es der Blick des Kulturanthropologen. Des Kulturanthropologen, der es interessant findet, wenn es in einem Volk im Dschungel von Neuguinea üblich ist, Angehörige eines anderen Volks zu töten und zu verspeisen - der das aber niemals unter eine moralische Kategorie wie "böse" oder "verwerflich" subsumieren würde.




    Wenn wir an Israel hohe moralische Standards anlegen, das Verhalten der Hisbollah (oder der Hamas, oder der El Kaida, oder der irakischen Terroristen) aber aus den Umständen heraus erklären, dann ist das, so scheint mir, der Unterschied zwischen der personalen Perspektive und dieser sachlichen Perspektive des Anthropologen.

    Nein, es ist nicht so, daß wir damit die Untaten, die Mordanschläge, die Barbarei der Hisbollah rechtfertigen würden. Es ist viel schlimmer:
    Wir betrachten sie aus einer Perspektive, die die Frage nach der Rechtfertigung überhaupt nicht mehr zu stellen erlaubt.

    Das ist ungefähr die größte Mißachtung, die man jemandem zuteil werden lassen kann.