28. September 2006

Notiz

Bis Mitte Oktober, vielleicht etwas darüber hinaus, bin ich im Urlaub. Daß es mich in dieser Zeit irgendwann überkommt, aus einem Internet-Café heraus einen Beitrag abzuschicken, kann ich nicht ausschließen, will es aber auch nicht androhen. Kommentare können in dieser Zeit leider nicht freigeschaltet werden.

Wer - was ich ohnehin sehr empfehlen möchte - täglich in die Aggregierten Blogs schaut, ist auf dem Laufenden.

Allen, die hier mitlesen, herzlichen Dank für ihr Interesse!

Zettel

Übrigens. Kurzinfos über die zwanzig aktuellen Blogs gibt es hier, und Zusammenfassungen älterer Blogs sind, thematisch geordnet, hier zu finden. Falls jemand die Pause zum Stöbern nutzen möchte ;-)

27. September 2006

Ein Mann tritt für die Freiheit ein

Die Berliner Opernaffäre ist bisher so verlaufen, wie solche Affären - die Rushdie-Affäre, der Karikaturenstreit, der Streit um den Papst - fast ritualisiert verlaufen. Die Positionen, die Argumente sind bekannt. Eine Gruppe von Kommentatoren fordert mehr oder weniger vehement, daß wir nicht gegenüber den Islamisten einknicken. Die anderen raten zum Dialog und zum Vermeiden von Provokationen, ja zur Entschuldigung, wie jüngst die New York Times dem Papst. Nur die Proportionen variieren. Diesmal scheinen die Beschwichtiger eher in der Minderheit zu sein.

Ansonsten hat man bei der jetzigen öffentlichen Diskussion den Eindruck, denselben Film schon wieder im Programm zu finden; diesmal - gerade war ja erst der Papst-Streit - mit einer Wiederholungslatenz, wie man sie bei einem TV-Sender als Zumutung empfinden würde.

Also eigentlich kein Thema; jedenfalls nicht für diesen Blog, so schien es mir bisher. Meine Meinung zur Sache ist kurzgefaßt in diesem Thread in "Zettels kleinem Zimmer" zu lesen: Ich bin für den Dialog, und just deshalb gegen jede Zensur oder Selbstzensur.



Nun hat diese Sache aber heute einen Aspekt bekommen, der mich nun doch zu einer Anmerkung veranlaßt. Gregor Gysi hat sich zu Wort gemeldet, und zwar in der Welt.

Gysi schreibt zunächst das, was im Augenblick die meisten schreiben, nämlich:
Es ist daher eine falsche Reaktion, die Oper aus Angst vor Anschlägen abzusetzen, zumal sie bereits ein Jahr lang aufgeführt wurde, ohne dass es darüber erregte öffentliche Reaktionen oder gar Anschlagsdrohungen gegeben hätte.
Schön. Dann aber wechselt er das Thema:
So falsch die Absetzung der Oper auch ist, so wenig glaubwürdig sind die Aufgeregtheiten der Bundeskanzlerin und weiterer Vertreter der Bundesregierung und anderer Politiker. Sie schüren permanent Ängste vor dem islamischen Terrorismus. Die Gefahren werden immer wieder dargestellt, im gleichen Atemzug wird versucht, die grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufzuheben und die Bundeswehr auch im Innern einzusetzen. Je größer die Terrorgefahr, desto größer auch die Versuchungen der Bundesregierung, Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen.

In einer wie dargestellt erzeugten gesellschaftlichen Atmosphäre der Angst vor dem islamistischen Terrorismus dürfen sich die genannten Politikvertreter nicht wundern, ...
Und so weiter. Gysi möchte die Schuld bei den üblichen Verdächtigen sehen.



Vor der Versuchung, "Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen", warnt uns also Gregor Gysi. Er macht sich Sorgen darum, daß die "grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten" aufgehoben werde.

Hier ist tabellarisch die Biographie von Gregor Gysi zu lesen. Mit noch nicht zwanzig Jahren trat er 1967 der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bei. Als die DDR unterging, hatte er es laut diesem biographischen Überblick zum "Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte Berlin und des Rates der Vorsitzenden der Anwaltskollegien der DDR" gebracht.

Mit anderen Worten, er war der Oberste aller Rechtsanwälte der DDR, die bekanntlich Organe der sozialistischen Rechtspflege waren. In einem System wie dem der DDR war es völlig ausgeschlossen, daß ein Genosse eine solche Schlüsselposition erreichte, der nicht das volle Vertrauen der Staats- und Parteiführung gehabt hätte.

Daß Gysi sich jemals in seiner Funktion in der DDR um "Eingriffe in die Freiheits- und Bürgerrechte" gesorgt hätte, ist nicht bekannt. Ebensowenig ist bekannt, daß er, als er in dieser einflußreichen Position als oberster Rechtsanwalt war, für eine Trennung von Polizei und Geheimdiensten eingetreten wäre.



Als die DDR-Diktatur endete, war Gysi kein unerfahrener junger Mann. Er war über vierzig. Er hatte Zugang zu Westmedien, er konnte sich informieren. Er kannte das diktatorische System der DDR, er kannte die Institutionen, die Rechtsgarantien, die Freiheiten in der Bundesrepublik. Er hat sich für die DDR entschieden. Anders als die Dissidenten hat er diese DDR nicht in Richtung Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verändern versucht, solange er das hätte tun können. Jedenfalls gibt es dafür keine Anzeichen.

Und nun fühlt ausgerechnet dieser Mann sich berechtigt, vor Eingriffen in die Freiheits- und Bürgerrechte zu warnen. Und er attackiert dabei eine Kanzlerin, die, anders als er, als DDR-Bürgerin ihre Arbeit nie in den Dienst des Regimes gestellt hat.



Er hat sich gewandelt, Gregor Gysi? Er hat erkannt, daß die ersten Jahrzehnte seines politischen Lebens ein einziger Irrtum gewesen waren, daß er einer Diktatur gedient hatte? Er verurteilt jetzt das, woran er zwanzig Jahre geglaubt hatte? Vielleicht.

Aber selbst wenn: Kann denn jemand, der selbst so eklatant als Demokrat versagt hat, nicht wenigstens zu Fragen der demokratischen Freiheitsrechte schweigen?

"Menschliches Versagen" und "Antiquiertheit des Menschen"

Die Unfallstelle des Transrapid war noch nicht geräumt, da wußten die Staatsanwälte in Osnabrück laut Presse schon, wie es zu dem Unglück gekommen war. Noch am Freitag, dem Tag des Unglücks, meldete die FAZ: "Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß "menschliches Versagen" das Unglück ausgelöst hat." Und am selben Tag wurde das Geschehen auch schon in seinen wirtschaftlichen Zusammenhang eingebettet. So schrieb der Tagesspiegel unter der Überschrift "Der Faktor Mensch":
Das furchtbare Unglück im Emsland ereignete sich zu einer Zeitpunkt, als der Bundesverkehrsminister in Peking gerade Gespräche über einen weiteren Ausbau der Bahnlinie zum Flughafen von Schanghai führte. Dass Wolfgang Tiefensee seinen Besuch in China abbrach, nachdem er von der Katastrophe erfuhr, war ein Gebot des Respekts vor den Opfern und ihren Angehörigen. Ein Eingeständnis technischen Versagens der Magnetschwebebahn kann man daraus nicht ableiten. Nach allem, was wir zur Stunde wissen, ist das Unglück auf menschliches Versagen zurückzuführen.
Nichts wußte man in Wahrheit "zur Stunde", also am Abend des Tags, an dem sich das Unglück ereignet hatte. Auch jetzt, nach mehr als einer halben Woche, weiß man noch nicht, wie es dazu gekommen ist. Die Rekonstruktion von Unfällen ist immer aufwendig und langwierig, weil ein Unglück nicht seine eine "Unfallursache" hat, wie sie im Polizeibericht steht ("Unfallursache war überhöhte Geschwindigkeit"), sondern weil es aus der kausalen Verkettung vieler Faktoren entsteht.



Inzwischen gibt es Äußerungen von Leuten, die es auch nicht wissen, die aber immerhin in Betracht ziehen, daß "menschliches Versagen" noch keine erschöpfende Antwort auf die Frage ist, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Heute schreibt die FAZ:
Auch der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Winfried Hermann, geht von fehlenden Sicherheitsvorkehrungen auf der Transrapid-Strecke aus. Er sagte am Dienstag in einem Radiointerview: "Es ist zumindest nicht nur menschliches Versagen, sondern auch technisches Mangelwerk, muß man fast sagen." Auf welche "sich verdichtenden Hinweise" er sich genau stützt, wurde allerdings nicht deutlich.
Und auch die Staatsanwaltschaft Osnabrück scheint sich jetzt darauf zu besinnen, daß sie die Aufgabe hat, eine Untersuchung zu führen, und nicht deren Ergebnis forsch vorwegzunehmen. Aus demselben Artikel:
Die Rekonstruktion des genauen Unfallhergangs kann nach Angaben der Staatsanwaltschaft Osnabrück noch lange dauern. (...) Experten des Eisenbahnbundesamtes prüfen das Sicherheitskonzept der Versuchsanlage (...) Die Ermittlungen werden derzeit mit der Befragung von Zeugen des Unglücks fortgesetzt.


Was diese Ermittlungen ergeben, das werden wir in einigen Wochen, vielleicht einigen Monaten wissen. Aber die armen Menschen, denen schon am Tag des Unglücks "menschliches Versagen" zugeschrieben wurde, werden diesem Makel nicht mehr loswerden. Zusätzlich zu dem fürchterlichen Leid, das das Geschehen dieses Tags für sie ohnehin bedeutet.




Im Titel dieses Beitrags stehen zwei auf den ersten Blick sehr disparate Begriffe. Ich versuche jetzt, die Verbindung zwischen ihnen sichtbar zu machen.

"Die Antiquiertheit des Menschen" ist das Hauptwerk von Günther Anders, eine Sammlung von Einzeluntersuchungen. Zitiert wird meist seine Medienkritik. Aber der erste Band beginnt mit einem aus meiner Sicht weitaus originelleren Kapitel, das auch den Titel des Werks am besten illustriert: "Über prometheische Scham". Dort arbeitet Anders den Gedanken aus, daß der Mensch im Zeitalter dessen, was er die Zweite Industrielle Revolution nennt, zunehmend hinter den von ihm geschaffenen Geräten zurückbleibt und er in die Situation gerät,
die von den Geräten verlangt wird: durch die der Gerätebedienung. (...) die Schwierigkeiten der Bedienung: die der Einarbeitung, die des immer drohenden Versagens, schließlich die des effektiven Versagens, die gehören ja zur Bedienungssituation wesentlich dazu. (...) Und obwohl er dort, wo das Gerät herrscht, nun nichts mehr zu suchen hat und fehl am Ort ist, hat er doch an seinem Platz zu verweilen, weil nicht dazusein, gleichfalls über seine Kräfte geht.
Anders zieht hieraus weitgespannte anthropologische Konsequenzen; man kann seine Beschreibung aber auch sehr konkret-praktisch verstehen: Die Arbeitssituation des Menschen, der mit Maschinen zu tun hat, überfordert ihn im Grunde ständig. Sie überfordert ihn deswegen, weil er - sein Körper, sein Gehirn - nicht dazu "ausgelegt" ist, die "Anforderungen" zu erfüllen, die diese Geräte stellen.



Dazu gehört, daß Menschen fehleranfällig sind. Insofern ist der Mensch, technisch betrachtet, eine Fehlkonstruktionen; Günther Anders zitiert einen Offizier, der den Menschen als halt "faulty", als nun mal fehlerhaft, bezeichnet hat.

Wir machen ständig Fehler; im Kontext unserer technischen Umwelt und nach deren Normen. Wir machen sie zwangsläufig deshalb, weil die Funktionsmerkmale unseres Gehirns sich in einem ganz anders beschaffenen Handlungskontext entwickelt haben, in dem das, was unter den heutigen Bedingungen fehlerhaft ist, adaptiv gewesen war. Wenn man einen Speer schleudert, dann kommt es nicht auf die präzise Flugbahn an; wenn man den Trajectory einer Rakete berechnet, sehr wohl. Wenn dem Steinzeitjäger, der einem Beutetier nachsetzte, ein unerwartetes Hindernis begegnete, dann konnte er es umgehen oder überwinden. Wenn einem Transrapid ein unerwartetes Hindernis begegnet, dann gibt es keine Ad-Hoc-Abhilfe.



"Menschliches Versagen" begleitet alles, was wir in der, sagen wir, Kooperation mit technischen Geräten tun. Beim Schreiben dieses Textes unterläuft mir ständig menschliches Versagen in Gestalt von Tippfehlern. Das Verhalten eines Formel-1-Piloten wimmelt nur so von menschlichem Versagen - er kommt von der Ideallinie ab, schätzt den Abstand zu einem Konkurrenten falsch ein, so daß er ihn mit seinem Auto berührt, berücksichtigt die Nässe der Fahrbahn zu wenig und so weiter.

Der ganze Reiz derartiger Veranstaltungen besteht im Grunde im Auftreten solcher Fälle von menschlichem Versagen. Gäbe es sie nicht, dann könnte man die Leistungsfähigkeit der einzelnen Autos messen und danach ein Computerprogramm die Reihung beim Zieleinlauf berechnen lassen.

Nun sind aber menschliche Fehler oft folgenreich. Verhindern kann man sie nicht. Also besteht die Kunst des Sicherheitsingenieurs, des Softwareergonomen darin, ihre Folgen zu neutralisieren.

Jeder von uns vertippt sich. Wenn ein Tippfehler oder eine Fehlpositionierung der Computermaus zum Löschen einer Datei führen würde, dann läßt das aber der Softwareergonom nicht zu. Er baut eine Sicherheitsfrage ein. Er sorgt dafür, daß auch eine gelöschte Datei wiederherstellbar ist, und so fort.

Ebenso ist es bei Nuklearkraftwerken, bei der Eisenbahn und eben auch beim Transrapid. Die Sicherheitstechnologie dient wesentlich dazu, es sicherzustellen, daß menschliche Fehler keine katastrophalen Folgen haben.

Die Fehler sind nicht vermeidbar; sie liegen in unserer menschlichen Natur. Vermeidbar ist aber, daß sie größeren Schaden anrichten.



Wenn es in einem solchen komplexen System wie einem Nuklearkraftwerk oder einer Transrapid-Versuchsstrecke zu "menschlichem Versagen" mit katastrophalen Folgen kommen konnte, dann bedeutet das also zwangsläufig das Versagen von Sicherheitsvorrichtungen.

Oder anders gesagt: "Menschliches Versagen" und "mangelnde Sicherheitsvorrichtungen" sind keine Alternativen. Sondern menschliches Versagen kann sich in genau dem Maß fatal auswirken, in dem die Sicherheitsvorrichtungen unzureichend sind.

25. September 2006

Randbemerkung: Was ist schlimm an niedriger Wahlbeteiligung?

In Niedersachsen sind gestern die Oberbürgermeister einer Reihe von Großstädten und einige Regionspräsidenten gewählt worden. Diese Stichwahlen fanden überall dort statt, wo im ersten Wahlgang niemand die absolute Mehrheit erreicht hatte. Dazu meldet die Hannoversche Neue Presse:
Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) zeigte sich mit den Ergebnissen der Stichwahlen zufrieden. "Wir freuen uns, dass wir in Oldenburg und Salzgitter den Wechsel geschafft haben", sagte Wulff am Abend in Hannover. (...) Auch der Chef der SPD-Landtagsfaktion, Wolfgang Jüttner, wertete die Stichwahlen insgesamt als Erfolg für die Sozialdemokraten. "Wir haben allen Grund, mit dem Tag zufrieden zu sein", sagte er.
Zufrieden sind sie, Wulff und Jüttner, offenbar darüber, daß mal (wie in Oldenburg) ein Schwarzer einem Roten, mal (wie in Göttingen) ein Roter einem Schwarzen den Oberbürgermeistersessel abgenommen hat.

Die SPD war auch in der Region Hannover zufrieden: Wie die Hannoversche Allgemeine berichtet, setzte sich dort der SPD-Kandidat Hauke Jagau mit 58,5 Prozent durch. "'Uns ist es gelungen, noch einmal zu mobilisieren und so den Vorsprung zu halten. Das ist das Verdienst der Partei', sagte Jagau", so lesen wir es in der Hannover'schen Allgemeinen.



Wie sah diese Mobilisierung aus? Ein paar Zeilen später erfahren wir es: 27,7 Prozent der Wahlberechtigen gingen in der Region Hannover zur Wahl. In der Stadt Hannover waren es 23,3 Prozent.

Wir rechnen: 58,5 Prozent von 27,7 Prozent macht 16,2 Prozent. Sechzehn komma zwei Prozent der Wahlberechtigten haben also Hauke Jagau zum hannoverschen Regionspräsidenten gewählt. Welch eine Mobilisierung!



Über niedrige Wahlbeteiligungen zu lamentieren ist zur Mode geworden. Sie werden als Ausdruck von "Wahlmüdigkeit", von "Politikverdrossenheit" interpretiert. Manche sehen gar schon eine Krise unserer Demokratie heraufziehen.

Wieso eigentlich? Wenn viele Bürger es nicht der Mühe wert finden, zur Wahl zu gehen, dann deutet das darauf hin, daß sie geringe Unterschiede zwischen den Parteien oder Kandidaten sehen.

Was ist daran schlimm? In den meisten demokratischen Rechtsstaaten geht es heute glücklicherweise nicht jedesmal gleich um eine "Richtungsentscheidung", wie einst in der Weimarer Republik mit ihren oft extrem hohen Wahlbeteiligungen.

Gerade in alten, gut funktionierenden Demokratien ist das so. Die großen Parteien sind sich dort meist in den großen Fragen einig und unterscheiden sich nur in der Akzentsetzung - die Demokraten und die GOP in den USA, die sozial angehauchten Konservativen und die liberalen Blair-Sozialisten in GB, die Sozialdemokraten und die sogenannten bürgerlichen Parteien in Schweden.

Das weist auf einen Konsens der Bürger hin, auf politische Stabilität. Der Souverän entscheidet so, wie ein Aufsichtsrat einen Vorstand bestimmt: Man gibt denjenigen den Vorzug, die weniger verbraucht, die ideenreicher, die besser zur Lösung der aktuellen Probleme geeignet erscheinen. Es geht nicht, wie früher einmal, um einen Kampf der Weltanschauungen, gar um "Klasseninteresse".

Manchmal ergeben sich dennoch polarisierende Situationen. Und dann schnellen auch die Wahlbeteiligungen nach oben. Neunundziebzig Prozent bei den Bundestagswahlen 2002, fast achtundsiebzig Prozent drei Jahre später. Eine ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung bei den letzten US-Präsidentschaftswahlen.



Dies gesagt - die geringe Wahlbeteiligung bei kommunalen Stichwahlen scheint mir dennoch auf ein Problem hinzuweisen. Kein fundamentales wie "Politikverdrossenheit", sondern eher ein pragmatisches.

Warum überhaupt Stichwahlen? Weil man möchte, daß derjenige als Sieger hervorgeht, auf den sich eine Mehrheit einigen kann, auch wenn er nicht bei allen die erste Präferenz genießt. Bei der Hauptversammlung eines Vereins zum Beispiel macht das Sinn: Die beiden Bestplazierten treten im zweiten Wahlgang gegeneinander an. Derjenige, der dann den anderen schlägt, hat die Mehrheit hinter sich. Jedenfalls keine Mehrheit gegen sich. Er ist nicht unbedingt der Favorit der Mehrheit, aber die Mehrheit kann mit ihm am besten leben.

Aber bei einer Hauptversammlung ist eben die Wahlbeteiligung kein kritischer Faktor. Wenn zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang - wie bei deutschen Kommunalwahlen üblich - die Wahlbeteiligung drastisch abrutscht, dann schlägt die Logik der Stichwahl in ihr Gegenteil um: Der im zweiten Wahlgang Gewählte hat dann in der Regel nicht mehr, sondern sogar weniger Wähler hinter sich, als wenn schon im ersten Wahlgang mit relativer Mehrheit eine Entscheidung getroffen worden wäre.

Wenn die Wahlbeteiligung nur noch bei einem Viertel der Wahlberechtigten liegt, dann gewinnt am Ende derjenige, dessen Partei nicht die meisten Unentschlossenen überzeugen, sondern die meisten sicheren eigenen Wähler an die Urnen bringen konnte - die Parteimitglieder also, ihr Umfeld.

Das ist nicht der Sinn demokratischer Wahlen, und schon gar nicht rechtfertigt es den organisatorischen Aufwand eines Zweiten Wahlgangs.

24. September 2006

Arabiens Misere (3): Das Erbe des Osmanischen Reichs

Die arabische Misere ist nicht eine Folge des Islam, sondern der Islamismus ist umgekehrt wesentlich eine Folge der arabischen Misere nach dem Scheitern des arabischen Sozialismus. Das war die Hauptthese des vorausgehenden Beitrags. Daß der Islam nicht ursächlich für diese Misere ist, erhellt auch daraus, daß islamische Staaten außerhalb des Nahen bzw. Mittleren Ostens ja durchaus am Aufstieg Asiens partizipieren. Malaysia zum Beispiel - ein Land, in dem der Islam Staatsreligion ist - ist seit Anfang der siebziger Jahre laut World Factbook vom Rohstoffproduzenten zu einer sich entwickelnden multisektoriellen Wirtschaft geworden. Die Wachstumsrate betrug nach derselben Quelle 4,9 Prozent im Jahr 2003, mehr als 7 Prozent 2004 und 5 Prozent 2005. Das BSP pro Kopf der Bevölkerung liegt bei 12100 Dollar (geschätzt für 2005 - zum Vergleich: Syrien und Ägypten jeweils 3900 Dollar).



Es gibt also kaum Belege dafür, daß es der Islam ist, der Arabien daran hindert, dem Beispiel anderer Teile Asiens zu folgen und sich auf den Weg zum modernen, kapitalistischen Industriestaat zu machen. Was aber dann?

Der gescheiterte arabische Sozialismus, gewiß. Aber aus einem gescheiterten Sozialismus kann ja auch gerade neue Wachstumsdynamik hervorgehen, wie China und Osteuropa, wie Indien und inzwischen auch Vietnam zeigen. Was sind die Besonderheiten Arabiens, die bisher dort eine solche Entwicklung verhindert haben?

Eine einfache Antwort kann es natürlich nicht geben. Es könnten politische und kulturelle Traditionen eine Rolle spielen, gesellschaftliche und psychologische, geographische und klimatische Faktoren, wirtschaftsgeschichtliche Besonderheiten wie der traditionelle Schwerpunkt beim Handel; natürlich auch religiöse Unterschiede zwischen den nahöstlichen und den fernöstlichen Spielarten des Islam.

Solche Faktoren und ihre komplexen Wechselwirkungen zu untersuchen ist Sache der Fachleute; ich will und kann mich da nicht beteiligen. Ich möchte aber auf einen Umstand aufmerksam machen, der eine Rolle spielen könnte, und von dem ich den Eindruck habe, daß er kaum gewürdigt wird: Die Geschichte im 19. Jahrhundert.



Hier ist eine Weltkarte vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wie üblich sind die britischen Kolonien hellrot und die französischen Kolonien violett eingezeichnet. Tiefrot findet man das niederländische, hellbraun das deutsche Kolonialreich usw.

Man sieht das weltumspannende Netz dieser Kolonien - und mitten darin sozusagen eine koloniale Lücke: den Nahen und Mittleren Osten. Vom Balkan bis nach Afghanistan erstreckt sich ein Band von in der Karte braun gezeichneten Staaten, die in der Legende als "Mohammedanische Reiche" bezeichnet werden. Es sind im wesentlichen das Osmanische Reich, Persien und Afghanistan. Asiatische Staaten, die niemals zu europäischen Kolonialreichen gehörten.

Das ist diejenige Region Asiens, die - mit Ausnahme der Türkei - heutzutage den Sprung in die Moderne nicht zu schaffen scheint, sondern die im Gegenteil vom Islamismus bedroht ist. Eine Koinzidenz? Gut möglich. Aber es könnte auch sein, daß hier ein wesentlicher Faktor liegt.



Der heutige Erfolg großer Teile Asiens basiert wesentlich darauf, daß sie es geschafft haben oder auf dem Weg dazu sind, auf der Basis einer sich immer mehr liberalisierenden Wirtschaft hochwertige Güter herzustellen und Dienstleistungen anzubieten, die international konkurrenzfähig sind. Das ging nur durch die Übernahme westlicher Technologie, westlicher Management-Methoden, vor allem aber der Disziplin, der Arbeitsmoral, der Effizienz, wie sie im westlichen Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet wurden.

Träger dieser Entwicklung waren und sind Eliten, die westlich orientiert sind - oft mit Englisch oder Französisch als Muttersprache, mindestens als Zweitsprache. Menschen, die in der westlichen Kultur ebenso verwurzelt, jedenfalls zu Hause sind wie in ihrer Nationalkultur. Englisch ist nicht nur in Indien Verkehrssprache, sondern auch in vielen anderen Ländern Asiens; die Eliten auch des kommunistischen Vietnam, von Laos und Kambodscha sind kulturell geprägt durch die französische Kolonialzeit.

Und die Länder Arabiens? Deren Kolonialherr war jahrhundertelang das rückständige Osmanische Reich. Es gab für einige von ihnen kurze Mandatszeiten nach dem Ersten Weltkrieg; es hatte gelegentliche britische Besatzungen gegeben, wie in Ägypten. Aber es hat sich nicht über ein Jahrhundert hinweg eine Elite herausgebildet, die wesentlich durch die westliche Kultur geprägt wurde.

Ein wesentlicher Faktor, der vielen Ländern Asiens den Eintritt in die Moderne, das Aufschließen zu Europa und Nordamerika erleichtert, fehlt also weitgehend. Gewiß gibt es Araber, die in Europa oder den USA studiert haben; gewiß gibt es - wie jetzt im Irak - heimgekehrte Emigranten. Aber das sind einzelne Personen, nicht eine ganze Schicht, wie beispielsweise in Indien die britisch geprägte Oberschicht.



Nochmals gesagt: Ich bin fern davon, zu behaupten, das sei der einzige oder auch nur der Hauptfaktor für den Rückstand Arabiens. Anderen Ländern ohne koloniale Vergangenheit - Japan, China, der Türkei - ist es gelungen, durch eine große Kraftanstrengung (Japan schon im 19. Jahrhundert, China unter der Kuomintang, die Türkei durch die eiserne Herrschaft Kemal Atatürks) den Weg in die Moderne zu beschreiten. Ländern mit kolonialer Vergangenheit, wie den meisten Afrikas, ist das andererseits bisher nicht gelungen.

Aber dies zugestanden - ist es nicht verwunderlich, daß das, was eine koloniale Vergangenheit an positiven Folgen doch zumindest nach sich gezogen haben könnte, in der heutigen Globalisierungsdiskussion so wenig beachtet wird?



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

23. September 2006

Randbemerkung: Ein Mann schafft sich Respekt

Auf einer islamistischen WebSite wird gegenwärtig eine Videoaufnahme gezeigt, die schon einmal Anfang August 2004 zu sehen gewesen war. Darauf ermordet ein vermummter Mann, flankiert von zwei Kumpanen, einen Gefangenen. Einen Bericht darüber findet man beispielsweise in der Washington Post. Man erfährt dort, daß das Video Freitag Nacht auftauchte, genau zum Beginn des Ramadan.

Neu gegenüber der alten Version ist, daß jetzt der Name des Mörders genannt wird: Abu Ayyub al-Masri, Nachfolger von Abu Musab al-Zarkawi als Anführer der El Kaida im Irak.

Diese Meldung ist gegenwärtig auch in Spiegel-Online zu lesen.

Die dortige Redaktion hat allerdings einen Vorspann hinzugefügt, der, soweit ich das prüfen konnte, keiner Agenturmeldung entstammt, sondern offenbar das Werk von Spiegel-Online ist:
Der neue Chef der Qaida im Irak, Abu Ajjub al-Masri, scheint sich Respekt verschaffen zu wollen. Ein im Internet veröffentlichtes Video soll den Nachfolger Sarkawis bei der Tötung einer türkischen Geisel zeigen.
"Respekt verschaffen" schreibt Spiegel-Online. Ein Mörder verschafft sich dadurch "Respekt", daß er einem wehrlosen Entführten mit drei Kugeln das Gehirn aus dem Kopf schießt!



Was mag sich der SPON-Redakteur gedacht haben, der für diese Formulierung verantwortlich ist?

Wollte er sein Entsetzen über die verkommene Moral einer Mörderbande zum Ausdruck bringen, deren Anführer sich bereits dadurch "Respekt" verschaffen kann, daß er einen gefesselten, hilflosen Menschen abschlachtet? Wollte er darauf hinweisen, daß die in nahezu jeder Kultur am meisten verachtete Tätigkeit, die des Henkers, in der pervertierten Sicht der El Kaida jemanden zum Anführer qualifiziert?

Ich würde mich freuen, wenn es so wäre. Ich fürchte aber, der Redakteur, der das geschrieben hat sich gar nichts dabei gedacht.



Wie auch immer - das Entscheidende fehlt in der Meldung von SPON, wie auch in Meldung der Washington Post. Man findet es in der Jerusalem Post, die den Mord beschreibt, wie er auf dem Video zu sehen ist:
The militants stand behind a man wearing a tan shirt who is silent while al-Masri reads from a paper, criticizing companies and people working with the US military.

"Although we have urged Muslims around the world and in Turkey, in particular, ... they insist, including this apostate," al-Masri said in Arabic.

The hostage, reading from a statement in Turkish that is translated into Arabic by subtitles, identifies himself as Murad Buger, an employee of a Turkish company subcontracting for a Jordanian company that provides services to US military bases.

"I have seen the injustice of the Americans with my own eyes but I stayed for few dollars," Buger said, adding, "torture is intensifying in Abu Ghraib (prison)." He also urged Turkish companies to withdraw from Iraq.

Al-Masri then shoots Buger in the head three times.
Es geht also augenscheinlich nicht darum, daß der Anführer der Mörderbande "sich Respekt verschafft". Sondern es geht den Mördern wieder einmal darum, Angst unter denjenigen zu verbreiten, die am Aufbau des neuen Irak mitarbeiten.



Das ist es ja, was "Terrorismus" definiert: Terroristen kämpfen nicht gegen ihren Gegner. Die El Kaida liefert der irakischen Armee oder der US-Armee keine Gefechte. Sondern Terroristen versuchen eben das zu verbreiten, was das lateinische terror bedeutet - Furcht, Schrecken.

Nicht um Respekt geht es ihnen. Sondern um Entsetzen.

Arabiens Misere (2): Der Arabische Sozialismus

Woher rührt die arabische Misere? Zwei, drei Antworten liegen auf der Hand: Für sehr viele Araber hat sie ihre Ursache in der Existenz Israels. Für vermutlich noch mehr Araber liegt sie außerdem an der Ausbeutung durch die Vereinigten Staaten, am "Raub des arabischen Öls" und so weiter. Viele links­stehende Europäer und Amerikaner werden sich vielleicht nicht der ersten dieser beiden Antworten anschließen, aber umso überzeugter der zweiten. Für sie ist die arabische Misere nur Teil der allgemeinen Misere desjenigen Teils der Welt, den man einmal die "Dritte Welt" nannte. Und dessen Misere wiederum wird als Ausdruck der noch allgemeineren Misere gedeutet, die der Kapitalismus, so denkt man es sich, über die Welt gebracht hat.

Die Antwort, die andererseits vielen nicht linksstehenden Europäern als erste in den Sinn kommen dürfte, lautet: Es liegt am Islam. Solange in einem Land eine Religion herrscht, die über ihre eigentliche Aufgabe hinaus auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach mittelalterlichen Normen zu regeln beansprucht, kann es nichts werden mit dem Aufbau einer freien Gesellschaft und des Kapitalismus. Der Islam ist eine Religion des Jenseits, nicht des calvinistischen Schaffens und Schuftens im Diesseits. Eine Religion der Ehre, der Phantasie, der Märchen und Rituale, nicht der pragmatischen Zweckmäßigkeit und des Erfolgs. Also unfähig, die Herausforderungen der Moderne zu bestehen.



Die beiden ersten Antworten sind leicht zu widerlegen:

Israel behindert mit seiner Existenz in keiner Weise eine Entwicklung in den arabischen Staaten, wie sie sich in den übrigen Teilen Asiens vollzieht. Wie sollte es? Ganz im Gegenteil - das Konzept von Perez und Rabin, das dem Prozeß von Oslo zugrundelag, war ja just das einer Wirtschaftsregion "Naher Osten", in der sich israelisches Know How mit dem Rohstoff- und Menschenreichtum der arabischen Staaten verbinden sollte. Das ist gescheitert, vielleicht für lange Zeit. Aber daß Israel allein durch seine Existenz Syrien, Libyen oder Ägypten daran hindert, den Weg Singapurs, Taiwans oder Südkoreas zu gehen, das wird man nicht begründen können.

Ebenso ist es nicht begründbar, daß die Vereinigten Staaten - oder generell "die westlichen Länder" - Arabien an seiner Entwicklung hindern würden. Daß sie Erdöl fördern und verkaufen, auch wenn sie dabei mit Ölkozernen kooperieren, die einen erheblichen Teil des Gewinns kassieren, das ist erkennbar zum Nutzen der Länder, die über dieses Erdöl verfügen - in der Tat sind ja Länder wie Dubai und Katar als einzige Arabiens dabei, zumindest im konsumptiven Sektor den Anschluß an die Moderne zu finden. Daß die Armut Syriens daran liegt, daß es von den USA ausgebeutet wird, - das nachzuweisen dürfte selbst einem gewieften Dialektiker schwerfallen.



Verlassen wir also diese offensichtlich ideologisch begrün­de­ten Erklärungen. Wie steht es mit der Ansicht, der Islam sei an Arabiens Misere schuld? Der Islam sei nun einmal eine Religion, deren weltlicher Herrschaftsanspruch der Entwicklung einer modernen, auf HighTech, Demokratie und Kapitalismus basierenden Gesellschaft entgegenstünde?

Nun, der letzte Satz dürfte stimmen. Nur benennt er keine Ursache, sondern viel eher eine Folge der arabischen Misere.

Denn vor einem halben Jahrhundert "herrschte" in den meisten arabischen Ländern (zu den Ausnahmen gehörten der damalige Nordjemen und Saudi-Arabien) keineswegs der Islam. Ganz im Gegenteil: Es blühte ein panarabischer Nationalismus, der teils als Nasserismus und teils als sozialistischer Baathismus auftrat. Ausgeprägt säkular, eher kemalistisch als islamistisch. (Der Nasserismus ist Vergangenheit, aber von den beiden baathistisch regierten Staaten existiert einer - Syrien - ja immer noch, und der andere existierte bekanntlich bis 2003).

Sebastian Haffner beschrieb vor gut drei Jahrzehnten in einer seiner "Stern"-Kolumnen die damaligen Unruhen im Nahen Osten als die "Geburtswehen der arabischen Nation". Das war damals - in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren - eine realistische Sichtweise. Es gab diverse "Vereinigte Arabische Republiken", und die arabische Einigung erwartete man in Form des Zusammenschlusses zu einer säkularen, sozialistischen Republik - nicht unbedingt nach dem Vorbild des Sowjetkommunismus; eher ein spezifisch "arabischer Sozialismus". Und als Folge einer solchen Entwicklung erschien damals der Aufstieg eines großarabischen Reichs in der Art, wie wir es heute bei China und Indien erleben, durchaus realistisch.

Eines arabischen Reichs, nicht eines islamischen oder gar islamistischen. Die Islamisten waren damals das, was sie auch schon im Osmanischen Reich und zur Kolonial- und Mandatszeit gewesen waren: Grüppchen von zottelbärtigen Extremisten, klandestin in ihren Zirkeln konspirierend, ohne politische Bedeutung. Auf der politischen Bühne agierten Sozialisten wie der Gründer der Baath-Partei, Michel Aflaq, der einer griechisch-orthodoxen Familie entstammte. Ebenso war der Gründer palästinensischen PFLP, George Habasch, griechisch-orthodoxer Herkunft. Keiner dieser Männer, die damals an die Macht drängten - ob Arafat in Palästina, ob Kassem und dann Saddam Hussein im Irak, ob Assad in Syrien, ob Abdul Fattah Ismail im Südjemen, ob Boumedienne in Algerien - war in irgendeiner Weise religiös motiviert. Sie waren Sozialisten, dachten sälukar und wollten Arabien so schnell wie möglich verwestlichen.

Der Islamismus bekam erst Gewicht, als der von diesen Revolutionären in ihrer Jugend erhoffte und von ihnen als älter werdende Staatsmänner realisierte arabische Sozialismus den Weg jedes Sozialismus ging. Die Staaten wurden immer repressiver, die Menschen verarmten, die nasseristische und die baathistische Ideologie wurden genauso zu Rechtfertigungsideologien für die Ausbeutung der Menschen durch eine Funktionärskaste wie die marxistische.

Dieser Prozeß vollzog sich überall in Arabien, wo der arabische Sozialismus Fuß gefaßt hatte. Das Ergebnis war eine explosive Mischung aus einer aufgrund der besseren Gesundheitsvorsorge schnell wachsenden Bevölkerung, einer relativ gut ausgebildeten jungen Generation, wirtschaftlicher Stagnation im günstigsten Fall, oft aber wirtschaftlichem Niedergang,totalitärer Unterdrückung und der Zerstörung gewachsener gesellschaftlicher Strukturen.

Kurz, der arabische Sozialismus zerstörte die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kultur, so wie der Sozialismus das von Peking bis Havanna überall getan hat. Und wie überall erzeugte er damit Gegenbewegungen: Den Aufbau des Kapitalismus in China und in den Ländern und ehemaligen Kolonien der untergegangenen UdSSR. Und in Arabien den Islamismus.

Warum tut sich Arabien so schwer mit dem Übergang zur Demokratie und zum Kapitalismus? Woher dieser seltsam rückwärtsgewandte, im Wortsinn reaktionäre Islamismus als die spezifisch arabische Reaktion auf das weltweite Scheitern des Sozialismus? Ein paar Gedanken dazu folgen im dritten Teil.



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

22. September 2006

Verschwörungstheorien (6): Spiegel-Leser und Internauten

Verschwörungstheorien hat es immer gegeben. Oft hatten sie pseudoreligiösen Charakter, wie der Hexenglaube. Die modernen, im Internet kursierenden Verschwörungstheorien sind aber nicht Pseudoreligion, sondern viel eher Pseudowissenschaft.

Pseudowissenschaft? Ist das nicht zu hart? In der Tat - auf den ersten Blick könnte man fast eine wissenschaftliche Verfahrensweise sehen:
  • Eine gängige Theorie - sagen wir, daß die Landefähre "Eagle" der Mission Apollo 11 auf dem Mond gelandet sei - wird in Zweifel gezogen.
  • Es werden Daten vorgelegt, die, so wird behauptet, damit nicht übereinstimmen,
  • und es wird eine alternative Theorie vorgetragen - hier: die Bilder von der Mondlandung seien in einem Hollywood-Studio entstanden.
  • Das Für und Wider der Theorie wird dann in vielen Tausenden Internet-Beiträgen diskutiert,
  • - so, wie Wissenschaftler auf Kongressen und in Fachzeitschriften ihre Theorien diskutieren. Was ist daran falsch? Das ist das Thema des jetzigen, abschließenden Beitrags dieser Serie.



    Hans Magnus Enzensberger, damals noch ein junger, kaum bekannter Rundfunkredakteur, wurde schlagartig bekannt, als er 1957 seinen Funkdialog "Die Sprache des Spiegel" verfaßt hatte. Er wurde am 8. Februar 1957 gesendet, und schon im Heft 10 vom 6. März druckte der "Spiegel" den Text, leicht gekürzt. Zwar versehen mit ironischen Zeichnungen von Hicks, aber immerhin in großzügiger Liberalität von demjenigen Blatt publiziert, das Enzensberger gnadenlos angegriffen hatte.

    Denn gnadenlos waren sie, die Thesen, die Enzensberger - im Dialog mit einem etwas dümmlichen fiktiven Leser - über den "Spiegel" entwickelte. Die vierte und letzte lautete: "Der Spiegel orientiert nicht, sondern er desorientiert". Das begründet Enzensberger damit, daß dem Leser vorgegaukelt werde, er wisse Bescheid. "Obwohl total unwissend, erhebt der SPIEGEL-Leser den Anspruch, alles verstehen und aburteilen zu können." Das Verfahren des Magazis kläre "ihn über seinen faktischen Zustand, den der Ignoranz, keineswegs auf, sondern verschleiert ihn im Gegenteil mit allen Mitteln. Nicht Orientierung, sondern ihr Verlust ist die Folge."

    Diese Analyse scheint mir trefflich auf die Lage des heutigen Internet-Starkkonsumenten - nennen wir ihn den Internauten - zu passen. Das legendäre Archiv des Spiegel ist gewissermaßen für uns alle geöffnet worden - nein, wir haben Zugang zu einer Informationsfülle, die noch nicht einmal dieses Archiv vor dem Internet-Zeitalter auch nur entfernt erreichen konnte.

    Wir können alles in Erfahrung bringen, fast alles. Und wir verfügen andererseits in der Regel überhaupt nicht über die Voraussetzungen dazu, es angemessen zu beurteilen. "Angemessen" - das heißt so, wie es der Fachmann tut. Wie es nur der Fachmann kann, der die einzelne Information nicht at face value nimmt, sondern sie hinsichtlich ihrer Plausibilität zu bewerten weiß. Der Fachmann, der im Lauf seiner Erfahrung unscharfe, aber erfolgreiche ("fuzzy") Kriterien dafür entwickelt hat, ob etwas glaubhaft ist oder nicht. Der Fachmann, für den die einzelne Information nicht eine einzelne Information ist, sondern ein Puzzle-Stein innerhalb eines Gesamtbilds; zu bewerten sub specie dieses Gesamtbilds. Der Fachmann mit einem intuitiven Verständnis für das Bayes'sche Theorem, das es verlangt, an Daten umso höhere Ansprüche zu stellen, je mehr sie dem bisherigen Wissen zu widersprechen scheinen.



    Was Enzensberger dem Spiegel-Leser des Jahres 1957 zugeschrieben hat - daß er trotz faktischer Ignoranz den Anspruch erhebt, alles verstehen und aburteilen zu können -, das ist dank des Internet ubiquitär geworden. Und andererseits haben wir die in den vorausgehenden Teilen der Serie beschriebene Situation: Generalisierte Mißtrauen ist gewissermaßen auf der Suche danach, in gläubiges Vertrauen umzuschlagen.

    Das sind, zusammengenommen, zusammenwirkend, die Ingredienzien für die modernen Verschwörungstheorien. Es ist ein Grundmißtrauen da - gegen die Wissenschaft, gegen die Institutionen, gegen Regierungen zumal -, das auf ein schier unerschöpfliches Angebot an Informationen im Web trifft.

    Das ist eine Situation, in der das Mißtrauen nicht mehr nur eine Voraussetzung für neuen Glauben ist, sondern zugleich dessen Inhalt: Aus den im Web verfügbaren Informationen wird eine Theorie gebastelt, die das Mißtrauen einerseits erfüllt (weil Wissenschaftlern, der Regierung usw. Lug und Trug zugeschrieben wird), es andererseits aber transzendiert: Denn das in der Verschwörungstheorie konkretisierte Mißtrauen ist selbst nun der neue Glaubensinhalt.



    Was die Polizei und Scharen investigativer Journalisten nicht geschafft haben - hinter dem Mord an Kennedy mehr zu entdecken als die Tat eines Psychopathen -, das trauen sich die Internauten zu.

    Ein am Computer sitzender Buchproduzent wie Andreas von Bülow traut sich zu, entlarven zu können, wer in Wahrheit hinter dem Anschlag vom 11. September 2001 steckt. Immerhin war er mal Staatssekretär im Verteidigungsministerium; und lesen, was im Internet steht, kann er ja auch. Was er vermutet, widerspricht allen offiziellen Informationen? Ja eben, denn diese sind ja Teil der Verschwörung, sagt sich der Internaut.

    Die Mondlandung wurde in einem Hollywood-Studio gefälscht, glaubt der Internaut. Er hat sich Bilder und Videos von der ersten Mondlandung angeguckt, hat etwas über den Van-Allen-Gürtel gelesen, hat sich Gedanken über das Aussehen des Himmels gemacht, wie man ihn vom Mond aus sehen sollte, und über den Krater, den eine Mondlandefähre erzeugt. Die Schatten auf den Mondbildern - so stellt er fest, der Internaut - fallen nicht parallel, der Himmel auf den Fotos zeigt keine Sterne, die Landefähre hat keinen Krater erzeugt, die Astronauten hätten gar nicht ohne Schäden durch den Van-Allen-Gürtel fliegen können. Und so weiter. Also war die Mondlandung ein Fake.

    Alles naive Vorstellungen, wie man sie eben hat, wenn man kein Fachmann ist. Alle zurechtzurücken, wenn sich ein Fachmann wie Phil Plait die Mühe macht, das zu tun. So, wie die Spekulationen zu 9/11 von Journalisten, die wirklich recherchieren, leicht als auf grober Unkenntnis beruhend entlarvt werden können - die "noch lebenden" Terroristen entpuppen sich beispielsweise als Menschen, die zufällig denselben Namen haben. Der Spiegel hat das vor drei Jahren, zum damals zweiten Jahrestag des Anschlag, minutiös nachgewiesen.



    Werden solche Widerlegungen den modernen Verschwörungstheorien den Garaus machen? Ich halte das für unwahrscheinlich. Es geht ja bei diesen Theorien nicht nur darum, in der Art von Wissenschaftlern etwas zu beurteilen, sondern es geht immer auch um ein Verurteilen.

    Verurteilen - denn Verschwörungstheorien sind ja nicht wertfrei. Insofern gleichen auch die modernen Internet-Versionen den alten Theorien, die den Hexen, den Juden, den Freimaurern alles Übel dieser Welt zuschrieben. In den modernen Versionen sind es fast immer Institutionen der Vereinigten Staaten, denen diese Schurkenrolle zugedacht wird. Die NASA, die die Mondlandung vorgetäuscht habe. Die CIA, die hinter dem Mord am eigenen Präsidenten Kennedy stecken soll. Die US-Regierung und/oder die CIA, die gar den Mord an dreitausend eigenen Bürgern inszeniert oder geduldet haben sollen, dazu gleich auch noch einen Raketenangriff auf das eigene Verteidigungsministerium.



    Was sich darin ausdrückt, das ist nicht nur die maßlose Selbstüberschätzung von Internauten, die ihre dem Web entnommenen Wissensbruchstücke gegen das Urteil von Fachleuten setzen. Sondern es ist auch ein Haß auf diejenigen, die man als die Verschwörer sieht - eben wie in den älteren Versionen die Zigeuner, die Juden, die Freimaurer.

    Dagegen hilft, fürchte ich, keine Widerlegung.



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    21. September 2006

    Zettels Meckerecke: Schon wieder ein Papst-Editorial

    Das Editorial der "New York Times" zur Regensburger Vorlesung des Papstes, das ich vor einigen Tagen kommentiert habe, erschien mir damals als so etwas wie ein Ausrutscher; als eine Fehlleistung, wie sie auch einer exzellenten Redaktion unterlaufen kann. Zumal die parallelen Berichte von Ian Fisher im Nachrichtenteil absolut auf dem üblichen Niveau der NYT gewesen waren.

    Heute nun hat die NYT schon wieder ein Editorial zu diesem Thema. Titel "The Pope's Act of Contrition", des Papstes Akt der Reue. Und danach sieht es nicht mehr nach einem Ausrutscher aus. Das veranlaßt mich, schon wieder einen Papst-Kommentar der NYT zu kommentieren. Die Übersetzungen sind von mir.



    Das Editorial beginnt mit diesem Satz:
    Now that Pope Benedict XVI has expressed regret for offending Muslims in remarks he made last week, we hope Catholics and Muslims alike will put aside the pontiff's ill-considered comments and move forward in a conciliatory spirit.

    Nachdem jetzt Papst Benedikt XVI sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht hat, daß er mit seinen Bemerkungen von letzter Woche Moslems beleidigt hat, hoffen wir, daß Katholiken ebenso wie Moslems die unbedachten Äußerungen des Papsts ad acta legen und sich in einem Geist der Versöhnung nach vorn bewegen.
    Hat der Papst "Reue" geäußert? (contrition ist im Englischen noch stärker als remorse, das ebenfalls Reue bedeutet; contrition ist eine tiefe, sozusagen spirituelle Reue; Zerknirschung).

    Hat der Papst sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, daß er mit seinen Bemerkungen Moslems beleidigt hat (to offend heißt auch kränken, verletzen, jemandem Leid zufügen)?

    Stimmt das also, was die Überschrift und der erste Satz dieses Editorial behaupten?



    Der Osservatore Romano bringt die offizielle englische Übersetzung der Stellungnahme des Papstes in Castel Gandolfo am 17. September. Darin heißt es (Hervorhebungen von mir):
    At this time, I wish also to add that I am deeply sorry for the reactions in some countries to a few passages of my Address at the University of Regensburg, which were considered offensive to the sensibility of Muslims. These in fact were a quotation from a Medieval text, which do not in any way express my personal thought.

    Yesterday, the Cardinal Secretary of State published a statement in this regard in which he explained the true meaning of my words. I hope that this serves to appease hearts and to clarify the true meaning of my Address, which in its totality was and is an invitation to frank and sincere dialogue, with great mutual respect. This is the meaning of the discourse.


    Jetzt möchte ich noch hinzufügen, daß ich die Reaktionen in einigen Ländern auf einige wenige Passagen meiner Vorlesung an der Universität Regensburg, die als die Empfindungen der Moslems beleidigend betrachtet wurden, sehr bedaure. Diese waren in Wirklichkeit ein Zitat aus einem mittelalterlichen Text, der in keiner Weise mein eigenes Denken ausdrückt.

    Gestern hat der Kardinalstaatssekretär hierzu eine Stellungnahme herausgegeben, in der er den wahren Sinn meiner Worte erläuterte. Ich hoffe, daß das dazu dient, die Herzen zu besänftigen und den wahren Sinn meiner Vorlesung zu klären, die in ihrer Gesamtheit eine Einladung zu einem offenen und ernsthaften Dialog mit großem gegenseitigem Respekt ist. Das ist der Sinn dieser Ausführungen.
    Am 20.9. hat der Papst noch einmal in seiner Generalaudienz zu der Regensburger Vorlesung Stellung genommen. Dort hat er gesagt (offizelle deutsche Übersetzung des Vatikans):
    Mit meinem Besuch wollte ich die Bande zwischen der Kirche in Deutschland und dem Stuhl Petri festigen; ich wollte die Menschen im Glauben an Jesus Christus stärken, den wir in der Gemeinschaft der Kirche bekennen. Ein besonderes Anliegen war es mir, das Verhältnis von Glaube und Vernunft und die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs sowie des Dialogs zwischen Wissenschaft und Religion aufzuzeigen. Hier bedarf es der Selbstkritik und, wie ich in München hervorgehoben habe, der Toleranz, die "die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist", einschließt. Mit diesen Worten möchte ich nochmals klar meinen tiefen Respekt vor den Weltreligionen und vor den Muslimen bekunden, mit denen wir gemeinsam eintreten "für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen" (Nostra Ætate, 3).


    Der Papst sagt, er bedaure es, daß seine Worte mißverstanden worden seien. Und er erklärt in beiden Stellungnahmen noch einmal den Sinn seiner Vorlesung: Ein Plädoyer für Vernunft und Toleranz. That's all. Kein Wort von Reue oder Zerknirschung ("contrition"), keine Rede von Bedauern, die Moslems beleidigt zu haben ("regret for offending Muslims").

    Wer immer das Editorial der New York Times geschrieben hat - wie kann man so klare Worte nur so vollständig mißverstehen?

    20. September 2006

    Verschwörungstheorien (5): Die große Regression

    Bisher habe ich mich mit dem Hintergrund von Verschwörungstheorien befaßt: Da unser Weltwissen überwiegend nicht aus eigener Erfahrung stammt, müssen wir Quellen vertrauen; das sind in traditionellen Kulturen die Religion, die Institutionen. Das Vertrauen in diese Autoritäten als Quellen des Weltwissens ist aber in der Neuzeit durch den cartesianischen Zweifel zerstört worden. Doch haben wir diesen an wesensmäßig zweifelnde Institutionen wie Wissenschaft und freie Presse gewissermaßen delegiert. Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind jedoch auch diese zweifelhaft geworden, und zwar aufgrund des vor allem durch den Marxismus verbreiteten generalisierten Mißtrauens, das hinter scheinbarer Erkenntnis - auch der Wissenschaften, auch der Medien - nur Interesse wittert.

    Im letzten Teil der Serie habe ich einen Vorgang beschriebenen, der einem Dialektiker Freude bereiten dürfte: Das generalisierte Mißtrauen schlägt um in ein nachgerade naives Vertrauen. Eine Haltung, die überall nur Lug und Trug wittert, ist schwer durchzuhalten; sie ist unnatürlich und im Grunde pathologisch. Folglich wurden und werden aus radikal Mißtrauischen - manchmal über Nacht, gewissermaßen an einer Kreuzung auf dem Weg nach Damaskus - Sektenanhänger, Kommunisten, Esoteriker, zu Diesem und Jenem Bekehrte. Die freigewordenen Bindungen werden wieder besetzt, Vertrauen kehrt umso intensiver zurück, je radikaler es dem generalisierten Mißtrauen geopfert worden war.

    Oft beinhaltet diese wiedergewonnene Sicherheit der Weltkenntnis Verschwörungstheorien. Warum aber gerade Verschwörungstheorien?



    Generalisiertes Mißtrauen, das nach Glauben sucht - das ist ungefähr die Situation eine Ausgehungerten, der mit einem Fünfhundert-Euro-Schein in die Lebensmittelabteilung des KaDeWe gelassen wird. Man möchte etwas haben, und man sieht sich einem riesigen, ganz unüberschaubaren Angebot gegenüber. Alles schmeckt vermutlich.

    Wissenschaftstheoretisch gesprochen: Everything goes. Das ist die Formel Paul Feyerabends, die oft so verstanden wird, daß sie dieses Lebensgefühl zugleich bedient und gerechtfertigt habe. Wenn uns das generalisierte Mißtrauen jede Sicherheit der Erkenntnis verwehrt, und wenn die menschliche Natur uns gleichwohl dazu drängt, etwas zu glauben - ja, dann ist die Auswahl groß, in der Tat. Ei, was nehmen wir denn? Darf's dieses sein, darf's jenes sein? "Ebbes Gudes werd's scho sei", wie der Frankfurter Volksdichter Friedrich Stoltze es in einem seiner unsterblichen Gedichte sagt.



    Nun ist die Geschichte der Zivilisation so verlaufen, daß wir umso weniger begreifen, je mehr wir begreifen. "Wir" - die Menschheit als Ganzes, ihre Wissenschaft als gemeinsames Unternehmen, begreifen immer mehr. "Wir", die Normalbürger, können davon immer weniger fassen.

    Wir können immer weniger davon "fassen" in dem sehr konkreten Sinn, daß wir es nicht mehr in Vorstellungen fassen können. Oder daß die Vorstellungen, in die wir es allenfalls fassen könnten, immer bizarrer werden.

    Eine Erde, die nicht flach ist, so wie wir es mit unseren eigenen Augen sehen, sondern eine Kugel - an der hängen dann also die Antipoden mit dem Kopf nach unten, offenbar festgesogen wie die Fliegen? Die Erde, die mit unfaßbarer Geschwindigkeit durchs All fliegt, darin frei schwebend wie eine Seifenblase - ja Herrgott, wer soll sich das denn vorstellen? Unsere Seele - nicht unsterblich, sondern die Funktion eines Agglomerats von hundert Milliarden Zellen? Mit dem Tod endend, so wie es mit dem Wind vorbei ist, wenn er nicht mehr weht?

    Das Licht - nichts Helles, sondern elektromagnetische Wellen in einem kleinen Bereich des elektromagnetischen Spektrums? Wellen noch dazu, die sich im leeren Raum, ohne einen Äther oder sonst ein sie tragendes Substrat, fortpflanzen? Und dann auch wieder gar keine Wellen sind, sondern Partikel? Oder vielmehr beides zugleich? Energie soll gar keine Substanz sein, sondern nur, rein funktionell, die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten? Die wieder nichts ist als Kraft mal Weg? Das Leben - eigentlich nur Biochemie? Wo bleibt da die Lebenskraft, das Eigentliche des Lebendigen?



    Und so fort. Die Menschen haben sich allen diesen kognitiven Zumutungen nur solange gefügt, wie sie den Wissenschaften vertrauten, wie sie den Wissenschaftlern vertrauten. Wenn diese aber - generalisiertes Mißtrauen! - nur die Büttel des Kapitals sind oder derjeniger, die sich kulturelle Konstrukte ausdenken - ja, dann ist es doch viel plausibler, das wirklich Plausible zu glauben! Krankheit ist eine Störung in der Körperenergie, also kann sie der Geistheiler beseitigen. Edelsteine sind edel, Blüten sind schön - also ist es doch schön, wenn man mit Blüten und Edelsteinen heilen kann. Oder mit Verschüttlungen, in denen am besten gar nichts drin ist - also auch nichts aus der Chemie, der mißtrauten. Und die Möbel stellt man so auf, wie es die chinesische Weisheit rät.

    Das alles ist viel plausibler als die grauen Theorien der blassen Wissenschaften. Folglich glaubt man es, wenn man erst einmal das generalisierte Mißtrauen so weit getrieben hat, den Wissenschaften nicht zu trauen. Man kehrt zurück zu vorwissenschaftlichen Erklärungen. Eine große Regression.



    Und so ist es nun auch mit der Geschichte, mit der Politik. Auch da gibt es Fachwissenschaftler, die uns mit Komplexität kommen. Sie sagen uns, daß historische Prozesse hochgradig miteinander verschachtelt sind, die Resultante aus vielen Faktoren, von denen jener in die eine, dieser in die andere Richtung wirkt. Unvorhersehbar zumal, wie jedes chaotische System. Zu viele freie Parameter gibt es in einem solchen hochkomplexen System, als daß man eine Vorhersage wagen könnte. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, daß kleine Ursachen - ein Attentat, der Ausgang einer Schlacht, die Krankheit eines Staatsmanns - riesige Wirkungen haben könnten.

    Nein, das mag und das muß der vom generalisierten Mißtrauen Genesene nicht glauben! Die Geschichte liegt, falls er Marxist ist, vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch: Entwicklung der Produktivkräfte, die daraus resultierenden Klassengegensätze, der daraus resultierende Lauf der Geschichte. In Abendkursen auch dem aufgeschlossenen Arbeiter vermittelbar.

    Und wer solche Kurse nicht genossen hat oder sich gegen die marxistische Wahrheit sträubt, der hat, vom generalisierten Mißtrauen befreit, gleichwohl eine reiche Auswahl: Die Geschichte, die Politik als eine Kette von Intrigen, so wie in seinem Verein oder im Mehrfamilien-Plattenbau zum Beispiel.

    Daß bei den Oberen konspiriert und intrigiert wird, was das Zeug hält, das erzählen uns die alten Mythen - wie es zuging auf dem Olymp, in Milgard; auch in der Welt des Alten Testaments. Es sind Bilder, manchmal geradezu archetypische Vorstellungen, die wir im Kopf haben - die irgendwo zusammenhockenden Verschwörer, die die Weltherrschaft planen; die Regierenden, die ihr Volk belügen und betrügen wie Hagen den edlen Siefried, die Strippenzieher auf allen Ebenenen, vom kleinen Troll bis zum großen Odin.



    Also: Die jüdische Weltverschwörung. Die Weltverschwörung der Templer, der Illuminaten, der Bilderberger, der Trilateral Commission, dergleichen. Das sind die großen, die sozusagen wie die Sagen der Edda immer weitergesponnenen Mären.

    Und dann gibt es das, was ich im letzten Teil die selbstgestrickten Verschwörungstheorien genannt habe - Verschwörungstheorien beispielsweise zum Moon Hoax, zu 9/11.

    Diese Theorien sind aufs engste ans Internet gebunden, sie sind dessen Produkt. Sie stecken voller Wissen, wie es nur das Web so zugänglich bietet. Sie basieren auf methodischem Zweifel. Sie tragen also auf den ersten Blick die Merkmale von Wissenschaftlichkeit, und sie sind doch Pseudowissenschaft.

    Was macht sie dazu? Was unterscheidet die Zweifel der Verschwörungstheoretiker, ihre Theorien von dem, was Wissenschaftler tun und produzieren? Damit wird sich der folgende und letzte Teil befassen.
    (Fortsetzung folgt



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    16. September 2006

    Zettels Meckerecke: Beleidigung und Toleranz

    Den gestrigen Beitrag über die Vorlesung des Papsts und die Reaktion darauf hatte ich mit einem pessimistischen Ausblick beendet:
    Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen? Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.
    Ausgerechnet die New York Times erfüllt heute diese düstere Erwartung, ja übererfüllt sie. Nicht einfach in einem Kommentar, sondern in einem Editorial. Ein Editorial ist in amerikanischen Zeitungen ein nicht namentlich gezeichneter Kommentar, der gewissermaßen die offizielle Meinung der Redaktion wiedergibt.

    In diesem heutigen Editorial der NYT "The Pope's Words" also lesen wir als das Fazit: He needs to offer a deep and persuasive apology. Er muß eine tiefe und überzeugende Entschuldigung vorbringen.



    Sehen wir uns dieses Editorial etwas genauer an:
    There is more than enough religious anger in the world. So it is particularly disturbing that Pope Benedict XVI has insulted Muslims, quoting a 14th-century description of Islam as "evil and inhuman."
    Das Editorial findet es also "beunruhigend", daß der Papst "Moslems beleidigt" habe, indem er eine "Beschreibung des Islam" aus dem 14. Jahrhundert als "böse und inhuman" zitiert habe.

    Daran ist eigentlich nur richtig, daß der von Ratzinger zitierte Kaiser Manuel II. Palaeologos im 14. Jahrhundert lebte.

    Ansonsten
  • hat der Papst keine Moslems beleidigt - er hat über sie als Angehörige einer Religionsgemeinschaft ja gar nichts geäußert.

  • Er hat auch nicht eine "Beschreibung des Islam" zitiert, sondern eine Äußerung von Manuel II. Palaeologos über Mohammed.

  • Und dieser Autor hat ausdrücklich auch nicht Mohammed generell gekennzeichnet, sondern er hat sich zu dem geäußert, was Mohammed "Neues gebracht hat".

  • Dort finde man, sagt Manuel II. Palaeologos, "nur Schlechtes und Inhumanes". "Schlecht" mit "evil" zu übersetzen ist zumindest fragwürdig. Ich hätte es mit "bad" übersetzt. "Evil" ist "böse".

  • Und vor allem - hat sich denn Ratzinger das Zitat zu eigen gemacht? In keiner Weise. In "erstaunlich schroffer Form" spreche der Kaiser, sagt Ratzinger. Er tut als ein Professor, der eine Vorlesung hält, etwas, was man in einer Vorlesung ständig tut - er zitiert einen historischen Autor, um von ihm ausgehend seine eigene Argumentation zu entwickeln.

  • Und diese hat überhaupt nicht den Islam zum Gegenstand. Das Thema der Vorlesung ist vielmehr die Vernunft und ihre Beziehung zur Religion.


  • In dem Editorial folgen Anmerkungen zu Papst Benedikt, deren Zusammenhang mit der ihm jetzt vorgeworfenen "Beleidigung" sich jedenfalls mir nicht erschließt.

    Das Editorial erwähnt, daß Ratzinger als Kardinal gegen den Beitritt der Türkei zur EU eingetreten sei - was in aller Welt hat das mit der jetzigen angeblichen Beleidigung zu tun? Neigt jemand zum Beleidigen, wenn er eine solche Erweiterung der EU ablehnt?

    Ein doctrinal conservative (ein doktrinärer Konservativer) sei der Papst, heißt es weiter - angenommen, er ist das (was man mit Gründen bezweifeln kann): Was hat es dann mit der angeblichen Beleidigung zu tun? Neigen Konservative besonders dazu, andere zu beleidigen?



    Aber zitieren wir den ganzen Satz: A doctrinal conservative, his greatest fear appears to be the loss of a uniform Catholic identity, not exactly the best jumping-off point for tolerance or interfaith dialogue. Übersetzt: Ein dokrinärer Konservativer, scheint es seine größte Angst zu sein, daß die einheitliche katholische Identität verlorengeht, nicht gerade der beste Ausgangspunkt für Toleranz oder einen Dialog zwischen den Religionen.

    Und da nun scheint mir der Geist dieses Editorial sichtbar zu werden: Der Autor oder die Autorin sieht das Bewahren der eigenen Identität als ein Hindernis für Toleranz und Dialog an. Welche Überlegung dahintersteckt, weiß ich nicht. Aus meiner Sicht jedenfalls bedeutet Toleranz nicht, daß man sich dem anderen anpaßt, sondern daß man dessen Überzeugung - in ihrer Verschiedenheit zur eigenen Meinung - respektiert.

    Respektieren kann man aber nur, was man ernst nimmt. Und Ernstnehmen bedeutet auch Kritisieren. Die Bereitschaft zu einem Dialog, in dem man das, was man beim Anderen falsch findet, auch offen kritisiert, durchzieht die Vorlesung Ratzingers.

    Der Autor oder die Autorin des Editorial hat augenscheinlich ein anderes Toleranzverständnis. Eines, das es offenbar den Moslems nicht zumuten will, zu ertragen, daß ein Autor des vierzehnten Jahrhunderts zitiert wird.

    Eines, das es offenbar andererseits aber nicht als intolerant klassifiziert - jedenfalls findet das keine Erwähnung in dem Editorial -, daß als Reaktion auf einen Satz in einer akademischen Vorlesung der Papst in effigie verbrannt und daß gewalttätig demonstriert wird.

    Kurz - das scheint mir ein Verständnis von Toleranz zu sein, das man vielleicht in den USA "liberal" nennt, das aber mit europäischem Verständnis von Liberalität wenig zu tun hat. Einem Verständnis von Liberalität, wie es seinen Ausdruck in der berühmten Marginalie gefunden, die Friedrich II. am 22. Juni 1740 an den Rand einer ihm vorgelegten Akte schrieb. In heutiger Orthographie: "Die Religionen müssen alle toleriert werden, und muß der Fiscal nur das Auge darauf haben, daß keine der anderen Abbruch tue, denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selig werden".




    Ergänzende Anmerkung: Der Kommentar in der NYT, der Gegenstand dieser Beitrags ist, steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der (wie fast immer bei der NYT) ausgewogenen und detaillierten Berichterstattung im Nachrichtenteil. Bereits am 13. September war z.B. dieser ausgezeichnete Artikel von Ian Fisher erschienen, der ausführlich über die Vorlesung informiert.
    Randbemerkung: Die Meute als Auditorium

    Beim Nouvel Observateur ist es im Augenblick der Aufmacher. Auch Spiegel-Online hat es als Aufmacher. El País hat es auf der Startseite. Der Messagero hat es an zweiter Stelle auf der Titelseite: Der Papst wird massiv, er wird lautstark von Moslems kritisiert.



    Was ist geschehen? Der Papst hat eine Abschiedsreise nach Bayern unternommen. Er war an den Stätten, die ihm einmal wichtig gewesen sind. An der Universität Regensburg, an der er lange Professor gewesen ist, hat er eine Abschiedsvorlesung gehalten.

    Ich habe sie im TV verfolgt, bevor ich sie hier auf der WebSite der FAZ noch einmal nachgelesen habe. Eine sorgfältige, durchdachte Vorlesung, beim Zuhören noch viele eindrucksvoller, als wenn man sie liest. Eine Vorlesung, die zeigt, wie sehr Ratzinger ein gelehrter Papst ist - so, wie Pacelli und Montini aristokratische Päpste waren, Roncalli ein moralischer Papst und Woytila ein Papst des Charismas.

    Ein gelehrter Papst - nein, ein Gelehrter, der es zum Papst gebracht hat, hielt diese Vorlesung. Wie es ein guter Dozent macht, schlug er nach ein paar einleitenden Sätzen sehr bald das Thema an, wenn auch fast beiläufig. Er sprach vom Verhältnis zu seinen Kollegen aus den anderen Fakultäten, damals in Regensburg, und merkte dazu an:
    Daß wir in allen Spezialisierungen, die uns manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen, das wurde erlebbar.
    Damit war das Thema der Vorlesung genannt - die Vernunft, die es ermöglicht, sich über alle Grenzen hinweg miteinander zu verständigen. Sogar mit Agnostikern, denn:
    Daß es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.
    Es geht also um den Dialog über Grenzen der eigenen Überzeugtheit hinweg, und Ratzinger sagt, daß er auf dem gemeinsamen Boden der Vernunft möglich ist.



    Auf diese Textstelle folgt unmittelbar diejenige, die jetzt die Medien füllt. Ich zitiere sie als Ganzes, auch wenn es ein etwas längeres Zitat wird. Der Satz, der jetzt für weltweite Aufgeregtheit sorgt, ist von mir zusammen mit seinem Kontext hervorgehoben:
    All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte. Der Kaiser hat wohl während der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben sind als die Antworten des persischen Gelehrten. Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes- und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise um das Verhältnis der "drei Gesetze": Altes Testament, Neues Testament, Koran. In dieser Vorlesung möchte ich nur einen, im Aufbau des Dialogs eher marginalen, Punkt behandeln, der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.

    In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde kommt der Kaiser auf das Thema des Djihad (heiliger Krieg) zu sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen - es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten, später entstandenen, Bestimmungen über den heiligen Krieg. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von "Schriftbesitzern" und "Ungläubigen" einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten". Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. "Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung": "Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann".
    Es geht also auch in dieser Passage um Vernunft. Es geht um die Vernunft, mit der man "eine vernünftige Seele überzeugen" kann. Während man Menschen nicht mit Gewalt zu einem Glauben bekehren kann, den sie ablehnen.

    Und so resümiert Ratzinger denn auch:
    Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.
    Dies ist für ihn der theologisch-philosophische Ausgangspunkt für eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Islam:
    Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazn so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Idolatrie treiben.
    Das nun ist in der Tat fundamental - fundamentaler geht es kaum noch. Ratzinger spricht damit eine grundlegende Differenz nicht nur mit dem Islam an, sondern einen Streitpunkt, der die christliche Theologie wie ein Graben durchzieht: Ist auch Gott an die Vernunft gebunden? Ratzinger sagt, in der Tradition von Augustinus und Thomas von Aquin: Ja, er ist. Und das bedeutet: Auch die Theologie hat sich dem Dialog im Licht der Vernunft zu stellen. Ratzinger sagt deutlich, wie fundamental das ist:
    Hier tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.


    Ratzinger verfolgt dann diesen Gedanken durch die Geschichte der Theologie hindurch. Schon im Alten Testament sieht er die "Bestreitung des Mythos, zu der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in einer inneren Analogie steht." "Mit diesem neuen Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand" heißt es dann. "So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche (...) dem Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung ..."

    Im nächsten, sehr detaillierten Teil der Vorlesung geht Professor Ratzinger den kirchlichen Strömungen nach, die dieser theologischen Position entgegenstanden - der Voluntarismus von Duns Scotus, das "Sola Scriptura" (allein die Schrift) Luthers, die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, mit der - in der Vorlesung vertreten durch Harnack - er sich ausführlich auseinandersetzt, die moderne Theorie der Enkulturation. Gegen die Harnack'sche Verwissenschaftlichung der Religion hat er einen zentralen Einwand. Er sagt im Grunde nicht, daß diese Theologie falsch sei, sondern daß sie gefährlich sei:
    Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive "Gewissen" wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören.


    Das Fazit, zu dem diese Überlegungen führen, liegt auf der Hand:
    Die eben in ganz groben Zügen versuchte Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt. (...) Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. (...)
    Und dann schlägt Ratzinger den Bogen zurück zum Kaiser Manuel II. Palaeologos und seinem Dialog mit dem persischen Gelehrten:
    Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. (...) Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. (...) Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und kann damit nur einen großen Schaden erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe - das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt. "Nicht vernunftgemäß (mit dem Logos) handeln ist dem Wesen Gottes zuwider", hat Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden ist die große Aufgabe der Universität.


    Ratzingers Auditorium waren Studenten und Dozenten der Universität Regensburg. Sein weiteres Auditorium waren und sind Menschen, die in der Lage sind, einen philosophisch-theologischen Text zu verstehen.

    Aber nun hat er ein weltweites Auditorium: Ein millionenfaches Auditorium von Moslems, die kein Wort seiner Vorlesung gehört oder gelesen haben, die nichts von ihrer Argumentation oder auch nur ihre Intention wissen und von denen die meisten ihr vermutlich auch gar nicht folgen könnten.

    Ihnen wird von denjenigen, denen sie als ihren Imams vertrauen, ein einziger, bewußt oder aus Dummheit falsch verstandener Satz aus der Vorlesung vorgeworfen wie dem Köter ein Stück Fleisch. Oder vielmehr: Mit dem Stück Fleisch wird vor ihnen gewedelt in der Hoffnung, daß sie wild werden und sich hinein verbeißen.

    Die Meute als Auditorium, im Zeitalter des Internet.



    Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen?

    Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.

    15. September 2006

    Arabiens Misere (1): Wirtschaftlicher Rückstand

    Was heute Globalisierung heißt, ist im Kern die Realisierung des Traums der Linken in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren: Des Traums von einer Welt, in der nicht mehr Europa und Amerika den "Reichtum gepachtet" haben, dazu ihre Dependancen Australien und Neuseeland sowie Japan, sondern in der dieser Reichtum sich zunehmend gleich verteilt - eingeebnet, "flat", wie es Thomas L. Friedman in seinem Bestseller "The world is flat" genannt hat.

    Dieser Prozeß begann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den schon damals kapitalistischen Ländern Ostasiens - Taiwan, Hongkong, Singapur, Südkorea zum Beispiel, die inzwischen kurz vor dem Ziel stehen, zu uns aufzuschließen. Südkorea lag im Jahr 2005 mit seinem BSP pro Kopf der Bevölkerung (20400 Dollar) ungefähr auf dem Niveau von Griechenland (22200 Dollar) und weit vor beispielsweise Polen (13300 Dollar). Taiwan (27600 Dollar) lag nur noch knapp hinter Italien (29200; Daten aus dem World Factbook).

    Inzwischen haben sich fast alle anderen Ländern Asiens auf den kapitalistischen Weg zum Wohlstand gemacht. Der aktuelle Spiegel hat eine Titelgeschichte zu dieser Entwicklung, die mit dem Einzug des Neoliberalismus nach China und Indien auch diese Länder erreicht hat. Selbst das formal noch kommunistische Vietnam hat mit dem Aufbau jenes Kapitalismus begonnen, gegen den die heute dort Herrschenden vor weniger als einem halben Jahrhundert noch einen blutigen Krieg angezettelt hatten.



    Nur ein Teil Asiens ist von diesem Prozeß ausgenommen, auf eine nachgerade spektakuläre Weise ausgenommen: Der Nahe Osten, vor allem Arabien. Friedman nennt ihn im Interview mit der FAZ den "unflachsten Teil der ganzen Welt". Keine Aufbruchstimmung wie im übrigen Asien, sondern ökonomische Stagnation, politische Unfreiheit in den meisten Ländern, Radikalisierung statt Demokratisierung.

    Hier ist die Liste des BSP pro Kopf der Bevölkerung. In den Staaten ohne massive Öleinkünfte liegt es weit niedriger als in Ostasien; zwischen 893 Dollar im Jemen und beispielsweise 3556 Dollar in Syrien. Nur der Libanon macht eine Ausnahme. Er liegt mit einem Pro-Kopf-BSP von 14799 Dollar weit an der Spitze der arabischen Nicht-Ölstaaten; bis zur Invasion des Irak das einzige freie und kapitalistische arabische Land.

    Diese Daten des European Institute for Research on Mediterranean and Euro-Arab Cooperation sind überwiegend von 2000, dürften sich seither aber kaum geändert haben. Das Factbook gibt zB. für den Jemen für das Jahr 2005 geschätzte 900 Dollar an, für Syrien geschätzte 3900 Dollar.

    Wie kommt das? Woran liegt die arabische Misere?

    Man wird auf eine solche Frage selbstredend keine einfache Antwort geben können; und eine sichere, beweisbare schon gar nicht. Ich möchte aber in dieser kleinen Serie zweierlei versuchen: Erstens diejenigen Antworten nennen, die sich anbieten, von denen ich aber denke, daß sie falsch sind. Zweitens die Richtung skizzieren, in der nach meiner Auffassung die Antwort gesucht werden muß.

    Im nächsten Teil wird es zunächst um diejenige Antwort gehen, die vermutlich fast jedem sofort einfällt: Es liegt am Islam. Diese Antwort halte ich für falsch.



    © Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    12. September 2006

    Zettels Meckerecke
    Greller Spot

    Zu dem Verderben, das der Marxismus angerichtet hat, gehört die Verbreitung eines generalisierten Mißtrauens, was die Motive von Menschen angeht. Was immer sie an Triebfedern für ihre Entscheidungen, für ihre Handlungsweisen angeben - der Marxist weiß, daß sie in Wahrheit ihren ökonomischen Interessen folgen. Mag sein, daß die Menschen sich selbst darüber täuschen. Mag sein, daß sie der kollektiven Täuschung eines "falschen Bewußtseins", einer Ideologie, zum Opfer fallen - für den Marxisten gilt es, unter die Oberfläche zu blicken, den Schleier weg- und die Maske herunterzuziehen. Und derart die egoistischen Interessen hervorzuziehen, die - so denkt er, der Marxist, - unser Handeln bestimmen wie die Puppenspieler das Hampeln ihrer Marionetten.

    Diese Haltung des mißtrauischen Ökonomisierens ist seit der Zeit der Achtundsechziger zum Gemeingut vielleicht nicht der Deutschen geworden, aber, sagen wir, der Mehrheit der schreibenden Deutschen. Das wollen wir doch mal sehen, ist der Tenor ihrer Schreibe, welche wirtschaftlichen Interessen jemand verfolgt, wenn er sich vordergründig zu einem Sachthema äußert, wenn er gar von Werten, von Anstand, von Persönlichkeitsrechten spricht. So denkt er, der mediokre deutsche Journalist, so schreibt er.



    Vergangene Woche ist eine Auseinandersetzung an die Öffentlichkeit gelangt, die die bevorstehende Uraufführung eines Theaterstücks betrifft: Das Hamburger Thalia-Theater probt ein neues Stück von Elfriede Jelinek, von dem man Auszüge unter dem Titel "Ulrike Maria Meinhof" auf Jelineks Website lesen kann; die Uraufführung soll am 28. Oktober sein. Gegen bestimmte Aspekte dieses Stücks hat sich Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Marie Meinhof, gewandt und Textänderungen verlangt.

    Das Hamburger Abendblatt zitiert Bettina Röhl über Jelinek:
    "Jelinek zerrt Meinhof als Mutter auf die Bühne und in diesem Zusammenhang auch die real lebenden Menschen in Gestalt von meiner Schwester und mir. Was Jelinek über Mutter Meinhof liefert, ist historisch, faktisch, wenn ich es so positiv als möglich ausdrücken darf, ein einziger Schmarrn. Meinhof wird irgendwie allgemein als so etwas wie Volkseigentum angesehen und diejenigen, die mit Meinhof zu tun hatten oder zu ihrer Familie gehörten, je nach Bedarf gleich mit".
    Und in einem weiteren Artikel im Hamburger Abendblatt steht dieses Zitat von Bettina Röhl:
    "Ich habe Jelinek persönlich geschrieben und ihr ausführlich den Sachverhalt, die historischen Tatsachen, die Rechte und auch die unerträgliche Perpetuierung des RAF-Mythos, den sie angeblich zerstören will, auseinandergesetzt. (...) Meinhof und auch ich sind Menschen aus Fleisch und Blut und keine Jelinekschen Kunstfiguren."
    Verständlich genug, sollte man meinen. Bettina Röhl wehrt sich dagegen, daß ihre Familie zum Gegenstand eines Stücks gemacht wird, mit dessen Tendenz sie nicht einverstanden ist.



    Bisher hat sich hauptsächlich das Hamburger Abendblatt des Themas angenommen; aber es beginnt sozusagen geographische Kreise zu ziehen. Gestern hat es die TAZ aufgegriffen, wenngleich erst in ihrer Nordausgabe. Autor oder Autorin ist ein(e) gewisse(r) PS.

    PS schreibt unter dem Titel "Greller Spot auf Mutter Meinhof":
    "Elfriede Jelinek, des Konservatismus unverdächtig, hat es also gewagt: Im Stück "Ulrike Maria Stuart" konfrontiert sie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin als konkurrierende Königinnen. Im Mai hat es am Hamburger Thalia Theater eine Probe jenes Stücks gegeben, das der Tochter nun ganz und gar nicht gefällt. Sie verlangt Änderungen. (...) Den Ruf nach einer neuen RAF hört sie in Stemanns Inszenierung. Den Humus für neue Terror-Ideen sieht sie darin keimen. Und überdies ihre Persönlichkeitsrechte verletzt (...)"
    So weit, so gut; sieht man vom "keimenden Humus" ab. Aber nun kommt's. Nun kommt es so, wie MarxistInnen sich das Leben vorstellen:
    "Was motiviert Bettina Röhl, die sich Freitag zum Gespräch mit dem Thalia-Intendanten Ulrich Khuon traf, aber dann, Änderungen an Inszenierung und Text zu verlangen? Vielleicht die Lust auf Aufmerksamkeit, erzeugbar durch die virtuose Nutzung propagandistischen Bestecks. Ein geschicktes Prozedere in Zeiten, in denen wieder einmal - siehe Eva Herman - über Mutterrollen diskutiert wird. Auch der Ruf nach Wahrung der Privatsphäre ist - siehe den Prozess gegen Maxim Biller - modern und medienkompatibel."
    Nicht um ihr Persönlichkeitsrecht geht es Bettina Röhl, hoho, haha. Runter mit der Maske - und was sehen wir dann? Die "Lust auf Aufmerksamkeit", die "virtuose Nutzung propagandistischen Bestecks", ein "geschicktes Prozedere" der Publizistin Röhl, die bekanntlich gerade ein Buch über Ulrike Marie Meinhof publiziert hat.

    Schreibt PS, der (oder die) es ja wissen muß, als jemand, der (oder die) "medienkompatibel" die TAZ mit diesem Beitrag beliefert hat.



    "Nichts ist verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen", hat Tucholsky geschrieben.

    11. September 2006

    Verschwörungstheorien (4): Aus der Skepsis in den Glauben

    In den ersten drei Teilen dieser Serie habe ich versucht, den Hintergrund von Verschwörungstheorien zu beleuchten:

    Erstens, unsere Kenntnis der Welt stammt überwiegend nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus Quellen, denen wir vertrauen. In traditionellen Kulturen sind das die Institutionen, die überkommenene Sitten und Gesetze, die Religion.

    Zweitens, dieses selbstverständliche Vertrauen in das Überkommene ist in der Moderne zerstört und durch den systematischen cartesianischen Zweifel ersetzt worden, der es es verlangt, nur Nachgeprüftes zu glauben. Dieses Nachprüfen können wir aber längst nicht mehr selbst vornehmen, sondern wir delegieren es gewissermaßen - an Wissenschaftler, an eine unabhängige Justiz, an die freie Presse.

    Drittens, dieses Delegieren setzt voraus, daß wir Vertrauen in diejenigen haben, an die wir unseren Zweifel delegieren. Dieses Vetrauen ist aber seit dem Neunzehnten Jahrhundert schwer erschüttert - wurde erschüttert durch die Meister des Mißtrauens, Nietzsche, Freud und, weitaus am einflußreichsten, Marx.

    Sehen wir uns nun an, wie vor diesem Hintergrund Verschwörungstheorien entstanden und entstehen.



    Wer mit dem radikalen Mißtrauen wirklich ernst macht, der lebt sozial in einer kognitiven Welt des Lugs und Trugs. Die Wissenschaft - sie ist für ihn nichts als "bürgerliche Wissenschaft" im Dienst des Kapitals, bestenfalls eine "soziale Konstruktion"; jedenfalls weit davon entfernt, vertrauenswürdig zu sein. Die Freie Presse - alles andere als frei; die Pressefreiheit nur, gemäß der vielzitierten Formulierung von Paul Sethe, "die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten". Auch der Presse, überhaupt den Medien kann man also nicht glauben. Recht und Gesetz - auch sie sind nur Ausdruck der "persönlichen Macht ... (der) ... Herrschende(n)"; nur Ausdruck des durch "ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens", wie Marx in der "Deutschen Ideologie" schreibt.

    Lüge, Verschleierung, Fassade, Ideologie also, was die Instanzen der Gesellschaft angeht. Und nicht besser steht es im persönlichen, interpersonalen Bereich, wenn man neben Marx auch noch Nietzsche und Freud ernst nimmt.



    Dieser Zustand eines generalisierten Mißtrauens ist schwierig dauerhaft durchzuhalten. Er ist deshalb in der Regel so etwas wie ein Durchgangssyndrom. Die Instanzen und Personen, denen man nicht mehr traut, hinterlassen sozusagen freie Bindungen, die nach Absättigung verlangen. Und so verwandeln sich nicht selten die mißtrauischsten Skeptiker in die vertrauensvollsten Gläubigen. Nicht immer plötzlich, wie beim Damaskuserlebnis des Saulus. Aber doch sehr oft schnell und radikal. Aus Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts wurden staatsgläubige Jakobiner, aus russischen Nihilisten überzeugte Marxisten, aus französischen Existentialisten eifrig-ergebene militants der PCF.

    Im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts haben viele Angehörige der Generation der "Achtundsechziger" einen solchen Wandlungsprozeß durchgemacht. Innerhalb weniger Jahre wurden "kritische Studenten", die als Angehörige der APO (der Außerparlamentarischen Opposition) der späten Sechziger Jahre jede Autorität "hinterfragt", hinter jeder wissenschaftlichen Aussage Ideologie gewittert hatten, zu parteifrommen Mitgliedern der KPD/AO, der KPD/ML, des KBW, des KB usw., die ihre Marx- und Mao-Weisheiten unkritischer paukten als ein Firmling seinen Kleinen Katechismus.

    Andere wurden zu ebenso kritiklosen Anhängern indischer Gurus, suchten ihr Seelenheil in Aussteigersekten wie der Gemeinde des Otto Muehl, wandten sich dem Glauben an die Astrologie, das Hexentum oder die Heilkraft von Edelsteinen zu. Sie trauten der Wissenschaft nicht, aber der Pseudowissenschaft. Sie mißtrauten zutiefst den gewählten Volksvertretern in der Demokratie, liefen aber selbsternannten Führern nach wie Heidschnucken ihrem Leithammel. Sie belächelten die christliche Religion, waren aber bereit, Waldgeistern zu huldigen und bei einem Yogi das Fliegen zu lernen.



    Die Heilslehren, denen ein Teil (der vergleichsweise rationale Teil) dieser Bekehrten anheimfiel - die stalinistische, die maoistische, die trotzkistische Heilslehre - teilen mit den anderen totalitären Strömungen des Zwanzigsten Jahrhunderts einen ausgeprägten Manichäismus: Das gute Proletariat gegen den bösen Kapitalismus, die guten Arier gegen die bösen Juden, die guten Moslems gegen die bösen Ungläubigen. Damit geht einher, daß den jeweiligen Bösen Verschwörungen zugeschrieben werden - die der Weisen von Zion (der Juden, der Freimaurer usw.) gegen den aufrechten arischen Menschen, die Verschwörung der Imperialisten (der Bilderberger, der Trilateralen Kommission usw.) gegen den Sozialismus, die Verschwörung der USA und ihrer Vasallen gegen den Islam.

    Das ist die eine Variante von Verschwörungstheorien - eingebettet in mehr oder weniger ausgearbeitete Weltanschauungen oder religiöse Überzeugungen, politisch oft mächtig und also fähig, ihren Wahn blutig durchzusetzen.

    Die zweite Variante ist demgegenüber harmlos, fast könnte man sagen liebenswürdig. Auch sie geht aus Mißtrauen hervor, das in unkritischen Glauben umschlägt. Aber während die Verschwörungstheorien innerhalb der großen Ideologien sozusagen HigTech sind, haben wir es hier mit Selbstgestricktem zu tun. Mal sind es Buchautoren, die diese Art von Verschwörungstheorien verbreiten, mal entstehen sie im Internet und gedeihen und vermehren sich dort nach den Regeln des WWW.

    Sie sind eine seltsame Erscheinung, diese im Web zu besichtigenden Verschwörungstheorien, weil sie das Paradoxe, das allen Verschwörungstheorien anhaftet, auf die Spitze treiben: Just in einem Medium, das wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte jedem ermöglicht, sich über Sachverhalte zu informieren, blühen Theorien wie die vom Moon Hoax, die eine souveräne Mißachtung nicht nur von Sachverhalten, sondern auch des gesunden Menschenverstands erkennen lassen. Mit solchen Verschwörungstheorien befaßt sich der fünfte Teil.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.