5. Februar 2007

DDR 1978. Oder: Das Elend des Meinungsjournalismus

Ein Buch nach Jahrzehnten wieder in die Hand zu nehmen ist oft eine interessante Erfahrung. Manchmal lese ich mich wieder fest und erliege zum zweiten Mal dem Zauber eines Textes. Manchmal schüttle ich aber auch den Kopf, wenn ich mich daran erinnere, wie ich das Buch damals wahrgenommen habe, und wie anders es mir heute erscheint.

So ist es mir vor ein paar Tagen mit diesem Taschenbuch gegangen:
Dieter Boßmann (Hg.) Schüler über die Einheit der Nation. Ergebnisse einer Umfrage. Mit einem Vorwort von Dirk Sager. Frankfurt: Fischer, 1978
Ich kann mich noch gut an das Buch erinnern und das gewisse Aufsehen, das es damals erregt hat.

Der Herausgeber hatte nicht eigentlich eine Umfrage veranstaltet, sondern bundesweit Kultusministerien und Schulen angeschrieben mit der Bitte, Schüler Aufsätze zur deutschen Teilung schreiben zu lassen.

Ausgewählt werden sollten Klassen, die bereits eine Fahrt nach Berlin gemacht hatten und/oder die einen Preis bei dem Wettbewerb der "Bundeszentrale für politische Bildung" gewonnen hatten. Boßmann wollte also Äußerungen von Schülern haben, die besser als der Durchschnitt mit der Thematik der deutschen Spaltung vertraut waren.

Das Thema wurde ausführlich formuliert und in Form einer Reihe von Fragen erläutert: Welche Meinung hast du zur deutschen Einheit? Wie würde ein wiedervereinigtes Deutschland deiner Meinung nach aussehen? Und dergleichen mehr.



Das Buch enthält Auszüge aus einigen der mehr als zweitausend Aufsätze, die geschrieben wurden. Die Texte sind thematisch geordnet. Dazu gibt es, neben Vorwort und Einleitung des Herausgebers, ein Vorwort von Dirk Sager, der damals seit fünf Jahren Korrespondent des ZDF in Ostberlin gewesen war.

Ich habe in dem Buch geblättert und dies und das gelesen. Das meiste, was diese Schüler schrieben, kommt mir - aus heutiger Sicht - erstaunlich vernünftig, zum Teil nachgerade weitsichtig vor.

Es ist von der Unfreiheit in der DDR die Rede, vom niedrigen Lebensstandard, von der kommunistischen Indoktrination ("Den Jugendlichen werden die Grundsätze des Kommunismus schon so früh eingehämmert, daß sie die Verwirklichung dieser Ideologie als ihr Lebensziel ansehen"), von der Abhängigkeit der DDR von der UdSSR.

Die Wiedervereinigung stellt sich ein 14jähriger Gymnasiast so vor: "Die Bürger der DDR sollten eine freie Wahl abhalten, ob sie sich der BRD anschließen wollen oder nicht. Wenn ja, sollte man eine zweite Wahl abhalten, in der sie die Partei wählen sollten, für die sie sind. Überwiegt hier der Kommunismus, sollte man es bleiben lassen. Wenn nicht, sollte man in der DDR eine ungefähr zweijährige Übergangsregierung bilden, die aus Politikern der DDR zusammengesetzt ist (...)".

Geschrieben 1978 von einem Vierzehnjährigen!



So weit, so gut. So erfreulich, alles in allem; wenn natürlich auch viel Unausgegorenes und Abstruses geschrieben wurde. Aber überwiegend hatten diese Schüler ein realistisches Bild von den Verhältnissen in der DDR. Die meisten waren für die Wiedervereinigung, erkannten aber auch viele der damit verbundenen Probleme.

Wie aber reagierten damals die meisten Medien auf dieses Buch? Mit Entsetzen.

Vorurteile wurden den Schülern bescheinigt, Unwissenheit über die wahren Verhältnisse in der DDR. Es dominierte eine Reaktion, wie es sie, heftiger und auf anderem Feld, später nach der ersten PISA-Studie gab: Wie konnten deutsche Schüler die DDR nur so klischeehaft sehen? Hatte die Schule, hatte das Elternhaus bei der Aufgabe versagt, ihnen ein zutreffendes Bild des zweiten deutschen Staats zu vermitteln?

Der Fischer-Verlag hatte das offenbar antizipiert und deshalb dem Band ein Vorwort von Dirk Sager vorangestellt.

Wenn man dieses Vorwort liest, dann springt eines ins Auge: Viele der Schüler hatten ein erheblich realistischeres Bild der DDR als der Experte Dirk Sager.

Mit der Kritik der Schüler an der DDR geht er hart ins Gericht, der kritische Kritiker Dirk Sager. Und findet stattdessen lobende Worte für diesen Staat:
Es gäbe dort weniger Autos, es gäbe kein Privateigentum, die "DDRler" lebten auf "Kolchosen", alles sei teurer (...) - alles das läßt unbeachtet, daß dieser Staat bei allen Mängeln seiner Planwirtschaft zu den wichtigsten Industriestaaten gehört, daß seine vergesellschaftete Landwirtschaft so leistungsfähig ist, daß ihr Experten aus dem Westen Achtung zollen. Die Anstrengungen in der Reform des alten deutschen Bildungs- und Ausbildungswesens, der Versuch, der Frau eine dem Mann ebenbürtige Rolle in der Gesellschaft zu geben - kurz, das Programm, eine Gesellschaft mit größtmöglicher sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit aufzubauen, verdient genaueres Hinschauen (...). Denn wenn die DDR wirklich diese Sklavenhaltergesellschaft wäre, dann wäre sie zu den meßbaren Leistungen des Wiederaufbaus, zur internationalen Anerkennung nicht nur auf diplomatischem Parkett kaum fähig gewesen. (S. 14)
Ein so erfreulich positives Bild des Kommunismus hatten nun freilich die meisten Schüler in ihren Aufsätzen nicht erkennen lassen. Dirk Sagers Urteil über sie fällt folglich vernichtend aus:
... belegen diese Schüleraufsätze (...) den Bewußtseinsstand von Nachkriegsgenerationen in der Bundesrepublik. Denn wichtiger als das, was ausgesagt wird (...) scheint mir das Bezugssystem zu sein, aus dem heraus argumentiert wird - ein Bezugssystem, in dem man auf manches Überlieferte aus der Zeit des Nationalsozialismus stößt, aber auch auf Legenden und Mythen, die erst in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik geschaffen wurden (S. 7/8).

Man möchte diesen "Ergebnissen" einer Umfrage Wirkung wünschen. Denn wenn eingeschliffene Sehweisen den Blick für die politische Realität weiterhin verstellen, dann bleibt ... die Gewißheit, daß aus der Mehrzahl der um Auskunft gebetenen jungen Leute recht brave Bürger der Bundesrepublik Deutschland werden, die weiterhin dogmatischem Antikommunismus folgen (S. 16/17).



Dirk Sager war damals einer derjenigen, die unser - auch mein - Bild von der DDR prägten. Besonders großes Vertrauen hatte ich auch in die Berichte von Marlies Menge für die "Zeit", die noch einen Tick positiver waren als die Sagers.

Wie konnte es sein, daß alle diese linken und linksliberalen, meinungsprägenden Journalisten, die doch zum Teil selbst in der DDR lebten, ein so abwegiges Bild von diesem Land hatten? Unrealistischer als das westdeutscher Schüler?

Ich kann das bis heute nicht verstehen.

Sie lebten in Wahrheit natürlich in einem Ghetto, rund um die Uhr vom MfS überwacht. Jeder DDR-Bürger, der mit ihnen sprach, wußte, daß er nicht unbefangen reden konnte. Mit normalen Bürgern sprachen sie kaum jemals; ihr Bild der DDR bezogen sie überwiegend von Offiziellen und Intellektuellen.

Aber dennoch - wie konnten sie die Wirklichkeit dieses Staats schlechter erkennen als politisch interessierte Schüler?

Ich weiß es nicht. Aber mir scheint: Das war - und ist - das Elend des Meinungsjournalismus. Journalisten, die nicht primär hinter der Wahrheit her sind, egal, wie sie aussieht. Keine Reporter des Typus, wie ihn herausragend zum Beispiel der unbestechliche Gerd Ruge verkörperte. Sondern Leute mit einem "Anliegen", mit einem mehr oder weniger geschlossenen Weltbild. Das sie dem Leser vermitteln, es ihm oft aufdrängen wollen.

Anders ist die naive Freundlichkeit, mit der damals Journalisten wie Sager die DDR dargestellt haben, aus meiner heutigen Sicht nicht zu verstehen. Sie waren blind für das, was vor ihren Augen lag.

Gut, daß - jedenfalls damals - sich die meisten jungen Leute einen Blick für die Wirklichkeit bewahrt hatten.