31. Mai 2007

Marginalie: Wie hat Uri Geller es denn gemacht?

Das fragt eine geschätzte Kommentatorin.

Nun gut. Er hat klassische Tricks verwendet; ziemlich primitive. Hier zwei Beispiele aus der damaligen Sendung von "Stern-TV", auf die sich der Kommentar bezieht.



Er hat zunächst gezeigt, daß drei Männer jemanden nicht hochheben konnten. Und dann, nach entsprechenden Beschwörungen, ging es auf einmal doch.

Hier ist der vergebliche Versuch des Hebens:



Hier ist der dann gelungene:



Wie man sieht, hat Geller beim ersten Mal das Heben behindert und beim zweiten Mal es gefördert.



Zweites Beispiel: Ein Gast - eine Schauspielerin - malte etwas, und Geller erkannte das.

Er wendete sich während des Malens zum Publikum. Um zu zeigen, daß er nichts würde sehen können.

Nur konnte er das gerade dadurch. Er hatte nämlich unversehens eine Brille aufgesetzt, die mehr ein Rückspiegel war.

Hier sieht man ihn, wie er unschuldig ins Publikum guckt:



Und hier sieht man den Rückspiegel, in dem er dabei die Zeichnerin beobachtete:


Eine Brille trug Geller während der ganzen Vorstellung nicht; nur während dieses Tricks. Man kann links sehen, wie sie als Rückspiegel eingerichtet war.

Es sind ziemliche dürftige Tricks, die ein Kalanag nie benutzt hätte.

Geller ist ein mittelmäßiger Zauberkünstler, der mit seinen bescheidenen Darbietungen nie über die Vorstadt- Varietés hinausgekommen wäre.

Nur hat er halt die Unverfrorenheit, diese Tricks als paranormale Fähigkeiten zu verkaufen.

Zettels Meckerecke: Der Unfug des "Schnell-Lesens"

Günter Jauch ist ein intelligenter und - aus meiner subjektiven Sicht - sympathischer Journalist.

Er ist mit den Formaten, die er im Augenblick für RTL versorgt, sicherlich unterfordert. Bei der lustigen und informativen Sendung "Wer wird Millionär?" finde ich das nicht schlimm - es ist schließlich eine auf ihre Art perfekte, weltweit funktionierende Sendung.

Anders "Stern-TV". Fast immer, wenn ich diese Sendung einmal einschalte, ärgere ich mich.

Da hat man beispielsweise vor ein paar Jahren den Taschenspieler Uri Geller, dessen Tricks jedem professionellen Magier ein Gähnen entlocken, so auftreten lassen, als verfüge er über paranormale Fähigkeiten. (Er zieht zu Recht den Zorn der Magier- Gilde auf sich, weil er mit dieser Lüge ein Einkommen erzielt, von dem die meisten professionellen Magier, die weitaus besser sind, nur träumen können).



Und heute nun also das Schnell- Lesen. Speed Reading. Vorbereitet schon in einer vorausgehenden Sendung, in der es irgendwie um Erstaunliches ging.

Am Ende dieses Blocks waren vermutlich viele Zuschauer davon überzeugt, daß man es lernen kann, immer mehr Wörter pro Minute zu lesen.

Was schlicht Unfug ist. Das Lesen läuft so ab, daß das Auge einen Ort fixiert und dann zum nächsten Fixationsort springt. Eine Fixation dauert ungefähr 200 bis 300 Millisekunden, ein Sprung ("Sakkade") zwischen 50 und 100 Millisekunden, je nach Amplitude.

Das sind physiologische Konstanten, die niemand ändern kann. Pro Sekunde sind aufgrund dieser Konstanten nicht mehr als drei bis vier Fixationen möglich. Kurze Wörter können mit einer einzigen Fixation gelesen werden, lange benötigen zwei oder drei Fixationen.

Nehmen wir vier Wörter pro Sekunde als oberen Grenzwert an. Dann kommt man auf eine maximale Lesegeschwindigkeit von 240 Wörtern pro Minute. Mehr geht nicht. Weniger ist die Regel.



Was lernt man also in diesen Kursen zum "Schnell-Lesen"? Sehr einfach: Man lernt, nicht zu lesen.

Die Behauptung, jemand könne tausend oder mehr Wörter pro Minute lesen, ist Scharlatanerie. Aber um einen Text so ungefähr zu verstehen, muß man nicht jedes Wort lesen.

Das ganze Geheimnis dieser Schnell-Leserei ist es, daß die Teilnehmer solcher Kurse darin trainiert werden, einen Text zu überfliegen. Also nicht Wort für Wort zu lesen, sondern die vermutlich informationshaltigen Wörter herauszupicken und sich einen Reim auf das zu machen, was sie damit an Information aufnehmen.



Belletristische Texte sind meist hochgradig redundant. Es ist also kein Kunststück, einen Roman auf eine solche Weise zu "lesen" und ungefähr zu wissen, was sich darin zuträgt.

Was der Sinn eines solchen Unterfangens sein soll, weiß ich nicht. Man könnte ebensogut eine Inhaltsangabe lesen; das ginge noch schneller.

Woody Allan hat das alles auf seine Art auf den Begriff gebracht, ungefähr so: "Ich habe einen Schnell- Lesekurs absolviert und konnte danach 'Krieg und Frieden' in einer Stunde lesen. Es spielt in Rußland".

30. Mai 2007

Randbemerkung: Ist das Geheimnis der Autisten jetzt enthüllt?

Leider sind sie verschwunden, diese Kleinanzeigen, die man früher in jeder Illustrierten fand. Die für Mittel warben, abstehende Ohren loszuwerden ("Vorher- Nachher"); die eine "Heimsauna" anpriesen, in der man saß wie in einem Faß; die die Geheimnisse der Rosenkreuzer zu enthüllen versprachen.

Oder die für das perfekte Gedächtnis warben. "Ungewöhnliche Fähigkeiten unseres Gedächtnisses", so ungefähr war jahrzehntelang eine dieser Kleinanzeigen überschrieben; und der neugierige Kunde mußte an Aubanel schreiben, an eine Adresse in Südfrankreich.

Ich habe das damals getan und bekam, wie zu erwarten, die Einladung, teure "Schulungsbriefe" zu abonnieren.

Sie enthielten, vermute ich, die klassischen Methoden der Mnemotechnik, also zB die Methode der Orte. Man kann erstaunlich viel behalten, wenn man es visualisiert und wenn man das Visualisierte räumlich ordnet. Das wußten schon die antiken Rhetoren; von daher die Methode der "Loci", eben der Orte. Orte in einem Tempelgang, so war es klassisch.



Gedächtnis hat offenbar viel mit Visualisieren, viel mit Räumlichkeit zu tun. Vielleicht nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigt, wozu denn Säugetiere ihr Gedächtnis brauchen: Um wieder zu einem Ort zu finden. Um sich zu orientieren, also. Hominiden zumal, die in der Savanne jagten.



Nun gibt es Menschen, die irgendeine der menschlichen Fähigkeiten in ausgeprägtem Maß haben; oft auf Kosten der anderen. Vielleicht fehlen in ihrem Gehirn die erforderlichen Hemmungsmechanismen; bestimmte neuronale Verbindungen wuchern sozusagen, weil ihnen nicht genügend Einhalt geboten wird.

Da kommen dann "ungewöhnliche Fähigkeiten unseres Gedächtnisses" zustande, weit über das hinaus, was jener Versender Aubanel damals in seinen Kleinanzeigen versprechen konnte.

Der große russische Neuropsychologe Luria hat vor fast achtzig Jahren einen solchen Fall beschrieben, den berühmten S.



Jetzt kommt das mal wieder in die Presse. Ein Autist "enthülle" die Geheimnisse seines Rechengenies, ist in "Spiegel-Online" zu lesen.

Ach nein. Er beschreibt nur das, was auch schon der "S." von Luria beschrieben hat; was alle Zahlenkünstler beschreiben: Die Zahlenwelt ist für sie eine Landschaft, eine bunte, zerklüftete usw. Die Zahlen stehen darin herum, man kann in der Landschaft wandern, die Ergebnisse von Rechenoperationen stehen sozusagen da.

Seltsam, sehr seltsam. Mathematik hat offenbar viel mit Vorstellung, mit Visualisierung zu tun. Warum - und warum man im Imaginären rechnen kann, ohne nach den Regeln der Rechenkunst zu rechnen -, das weiß bisher niemand.

Marginalie: Heiligendamm - der Zaun ist zu

Wie das Mittagsmagazin des ZDF meldet, ist in Heiligendamm der Zaun jetzt zu. Die Kontrollen treten in Kraft.

Hans Magnus Enzensberger, dessen Intelligenz ich schätze, dessen Geschwätzigkeit ich nicht schätze, hat einen besonders gechwätzigen Artikel in Spiegel-Online geschrieben. Der schlichte Kern des langen Textes lautet:
Ich erlaube mir deshalb einen Vorschlag zur Güte, der alle Beteiligten zufriedenstellen könnte. Ein Blick in den Weltatlas zeigt, dass es in vielen Regionen, wie in der Karibik oder im Stillen Ozean, abgelegene Inseln gibt, kleine Paradiese, die Exklusivität und ein unbeschwertes Beisammensein ermöglichen können. Drei solcher Zufluchtsorte würden, wenn sie sorgfältig ausgewählt sind, genügen, um Ihre berechtigten Wünsche zu erfüllen.
Nö, das werden sie nicht machen, die wichtigsten Industrienationen.

Sie werden sich nicht in "Zufluchtsorte" absetzen und damit den Politkriminellen signalisieren, daß diese mit Gewalt zum Ziel kommen können.



Es geht ja ausschließlich um symbolische Akte. Die Kriminellen wollen den Staat "vorführen"; sie wollen ihn vor die Wahl stellen, entweder klein beizugeben oder aber mit einer Gewalt zu reagieren, die sich wiederum propagandistisch gegen ihn ausschlachten läßt.

Das war die Strategie der RAF, das ist heute unverändert die Strategie ihrer Schüler, auch wenn sie noch nicht wieder zum Mord entschlossen sind.

Dagegen hilft nur exakt das, was unsere Regierung tut; was vor allem Wolfgang Schäuble glaubwürdig verkörpert: Den Kriminellen mit den Mitteln des Rechtsstaats entgegentreten, keinen Zentimeter nachgeben.

Und sich von ihnen zugleich nicht provozieren lassen.

Die RAF hat die Entschlossenheit des demokratischen Rechtsstaats unterschätzt, sich gegen Politkriminelle sie zu verteidigen. Die heutigen "Autonomen" und ihr Umfeld von Sympathisanten werden dieselbe Erfahrung machen.

29. Mai 2007

Noch einmal ein Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht

Aktuelle Umfragen geben der UMP, der Partei Nicolas Sarkozys, zwischen 37 und 43 Prozent der Stimmen bei den bevorstehenden Wahlen in Frankreich.

Würde in Frankreich nach deutschem Wahlrecht gewählt, dann stünde eine schwierige Regierungsbildung, stünden wahrscheinlich instabile Verhältnisse bevor. Denn dann säßen neben der UMP und den anderen demokratischen Parteien der Linken und der Rechten auch die Rechtsextremisten von Le Pen und wahrscheinlich die Kommunisten im Parlament. Es bliebe nur eine Koalition zwischen Partnern, die in unterschiedlichen politischen Lagern stehen.

Aber Frankreich wählt nach einem modifizierten Mehrheitswahlrecht. Und unter diesem Wahlrecht wird die UMP eine absolute, vielleicht sogar eine Zweidrittel - Mehrheit haben. Die Voraussagen schwanken zwischen ungefähr 350 und 420 der 577 Parlamentssitze.



Ist das nicht ungerecht, gar undemokratisch - diese Disproportion zwischen dem Prozentsatz der Wählerstimmen und der Zahl der Sitze in der Nationalversammlung? Ich finde das nicht.

Ich bin seit langem entschiedener Anhänger des Mehrheitswahlrechts. Denn nur das Mehrheitswahlrecht ermöglicht es, daß Wahlen in der Regel zu stabilen Regierungen führen, daß andereseits aber bei jeder Wahl die reale Möglichkeit für einen Regierungswechsel besteht. Das Volk beauftragt eine Partei mit der Führung der Regierungsgeschäfte und verlängert, falls es mit ihrer Leistung zufrieden ist, dieses Mandat. Macht die Regierung einen schlechten Job, dann beauftragt das Volk die Konkurrenz.

Unter dem Verhältniswahlrecht ist es dagegen ein seltener Ausnahmefall, daß eine einzige Partei die Mehrheit erringt. (Mir fällt überhaupt nur ein solcher Fall ein, die Bundestagswahlen 1957). Das Wahlergebnis liefert also keinen eindeutigen Regierungsauftrag.

Wer am Ende regiert, hängt oft von einer kleinen Partei ab. Lange war das in der Bundesrepublik die FDP. Nach den nächsten Wahlen sind es vielleicht gleich zwei kleine Parteien, die FDP und die Grünen. Politische Minderheiten entscheiden darüber, welche der großen Parteien regiert.

Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Meist führt das Verhältniswahlrecht dazu, daß auch extremistische Parteien im Parlament vertreten sind. Dann gibt es in der Regel nur zwei gleichermaßen fatale Möglichkeiten:

Entweder regieren die immer selben Parteien der Mitte miteinander in einer unnatürlichen Koalition; wie in der Weimarer Republik, in der italienischen Nachkriegsrepublik, in der französischen Vierten Republik.

Oder man nimmt Extremisten in die Regierung auf, wie das die französischen Sozialisten mit den Kommunisten getan haben und wie es im Augenblick die polnischen Konservativen mit Rechtsextremisten praktizieren.



Wir hatten bisher in Deutschland mit unserem modifizierten Verhältniswahlrecht ungeheures Glück; das Glück einer politischen Stabilität, wie sie unter diesem Wahlrecht sehr selten ist.

Das lag zum einen daran, daß durch die Nazi- Vergangenheit und die Gegenwart der DDR die extremistischen Parteien so diskreditiert waren, daß sie nicht in den Bundestag kamen.

Und zweitens existierte in Gestalt der CDU eine große Volkspartei als Gegengewicht zur Sozialdemokratie; eine Volkspartei, deren Gründer aus fast allen Parteien der Mitte und der demokratischen Rechten der Weimarer Republik gekommen waren; vom Zentrum über die Deutsche Demokratische Partei bis zur Deutschnationalen Volkspartei.



Das galt für die alte Bundesrepublik. In einem wesentlichen Punkt gilt es nicht mehr für die heutige Bundesrepublik: Die Kommunisten werden sehr wahrscheinlich nicht nur wieder im nächsten Bundestag vertreten sein, sondern sie werden auch wieder so stark sein, daß weder Rotgrün noch Schwarzgelb die absolute Mehrheit erlangen wird.

Das wird von jetzt an die Regel sein - und wir werden damit von jetzt an vor der Wahl zwischen Skylla und Charybdis stehen - entweder werden die Kommunisten in eine Volksfront- Koalition aufgenommen, oder es wird Regierungen mit unnatürlichen Koalitionen zwischen linken und rechten Parteien geben.



Und noch ein Weiteres ist zu bedenken:

Die extreme Linke wird nach der Vereinigung zwischen PDS und WASG weitgehend durch eine einzige, im Bundestag vertretene Partei repräsentiert. Linksextreme Stimmen setzen sich also in Parlamentssitze um. Die extreme Rechte dagegen ist gespalten und hat geringe Chancen, daß sie in den Bundestag kommt. Rechtsextreme Stimmen setzen sich also nicht in Bundestagsmandate um.

Das gibt der Linken im Parlament einen sozusagen strukturellen Vorsprung. Selbst jetzt, wo die CDU in den Umfragen weit vor der SPD rangiert, zeigen die meisten Umfragen keine Mehrheit von Schwarzgelb gegenüber einer Volksfront- Regierung aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Grünen.

Deshalb brauchen wir dringend das Mehrheitswahlrecht. Und die Große Koalition ist eine vielleicht einmalige Gelegenheit, es zu realisieren. Denn natürlich sperren sich alle kleinen Parteien gegen das Mehrheitswahlrecht. Also kann nur eine Große Koalition es durchsetzen.



Ja, aber kann man denn als Liberaler für das Mehrheitswahlrecht sein, das den Untergang der FDP bedeuten würde? Ich habe darauf zwei Antworten:

Erstens führt die französische Variante des Mehrheitswahlrechts keineswegs zum Verschwinden der kleinen Parteien. Durch Bündnisse für den zweiten Wahlgang gelangen auch sie ins Parlament; manchmal (wie zeitweise bei den Kommunisten) sogar so kopfstark wie unter dem Verhältniswahlrecht.

Und zweitens ist der politische Liberalismus ja nicht an eine Partei gebunden. Er war im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit auf Links- und Nationaliberale verteilt. Er würde auch überleben - vielleicht sogar an Einfluß gewinnen - , wenn Linksliberale in einer linken und Liberalkonservative in einer rechten Volkspartei ihre politische Heimat finden würden.

Religion, Atheismus, Evolution

Der "Spiegel" hat in dieser Pfingstwoche eine Titelgeschichte über den Atheismus.

Es ist eine alte, von Augstein begründete Tradition des "Spiegel", zu christlichen Feiertagen solche Titelgeschichten zu bringen. Teils war und ist das wohl kommerzielles Kalkül, teils - jedenfalls war es so bei Rudolf Augstein - der Versuch, sich "aus gegebenem Anlaß" mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Augstein tat das sein Leben lang sehr ernsthaft, ehrlich und auch kenntnisreich.



Diesmal also ist es Alexander Smoltczyk, der die einschlägige Titelgeschichte schreiben durfte. Heute Rom- Korrespondent des "Spiegel"; gewiß eine erfreuliche Gestalt, verglichen mit seinem unsäglichen, agitatorischen Vorgänger Jürgen Schlamp. Zuvor Edelfeder im "Spiegel"- Ressort "Gesellschaft", noch weiter zuvor einmal für die "taz" schreibend. Ein Post- Achtundsechziger, Jahrgang 1958.

Sein Artikel, unschlüssig zwischen "Spiegel"-Masche und einem ernsthaften Essay schwankend, ist nicht sehr lesenswert. Aber das Thema, auf das er aufmerksam macht, erscheint mir einen Kommentar wert.



Vor einem halben Jahrhundert hätte niemand vorhergesagt, welche Bedeutung die Religion am Anfang des Einundzwanzigsten Jahrhunderts haben würde. Die Religion war damals überall im Rückzug begriffen.

Gewiß, in den christlichen Ländern gehörten die meisten Bürger noch einer Konfession an. Aber christliche Intellektuelle gab es kaum noch. Wer intelligent, wer aufgeklärt, wer modern war, der war fast zwangsläufig kein Christ.

Sie waren so selten, die christlichen Intellektuellen, daß man ihnen dieses Etikett ausdrücklich anheftete - der "katholische Schriftsteller" Heinrich Böll, die katholische Luise Rinser. In Frankreich Paul Claudel, Henri de Montherlant, in England Graham Greene. Außenseiter, mehr oder weniger verschrobene.



Ich halte es für wahrscheinlich, daß das Zeitalter der Religionen in der Tat zu Ende geht.

Die Basis jeder Religion ist die Bereitschaft, etwas als wahr zu akzeptieren, weil es gesellschaftlich gültig ist. In einer offenen Gesellschaft gibt es aber, außer den für das Zusammenleben erforderlichen Gesetzen und außer den Ergebnissen der Wissenschaften, die sich ständiger Kritik stellen, nichts Allgemeinverbindliches mehr.

Wenn Religion zur Privatsache wird, dann hört sie im Grunde auf, Religion zu sein. Soweit wir die Geschichte der Religionen kennen, waren sie niemals Privatsache. So wenig, wie das Recht Privatsache ist. Die Religion ist die einer Gesellschaft, nicht die eines Individuums. Allenfalls vorübergehend die einer Gruppe von Dissidenten, wie der Urchristen. Dann wird sie entweder dominant, oder sie geht unter.

In dem Maß, in dem die Gesellschaft sich liberalisiert, wird also die Religion an Bedeutung verlieren.



Der Augenschein widerspricht dem, am Anfang des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, allerdings massiv. "Fundamentalismus" macht Schlagzeilen - nicht nur der islamische, sondern ebenso der christliche in den USA, in Südamerika; ebenso der hinduistische in Indien.

Treten wir also ein in ein neues Zeitalter der Religiosität? Diejenigen, denen Smoltczyk seine Titelgeschichte widmet, scheinen das zu befürchten - Richard Dawkins, Michel Onfray, Paolo Florès d'Arcais; die heutigen expliziten, aggressiven Atheisten.

Also schlagen sie zurück - mit gleichen Waffen. Sie setzen gegen den Glauben an Gott den Glauben an die Nichtexistenz Gottes.

Sie sind so wenig Skeptiker wie diejenigen, gegen die sie angehen. Und sie sind in ihrem Glauben vermutlich schlichter, dümmer, weniger reflektiert als die Verteter des Christentums, die sich immerhin auf zweitausend Jahre der Gelehrsamkeit, der Schulung des Geistes stützen können.



Mir, als einem Kantianer, kommt das alles unverständlich naiv vor.

Für mich liegt es auf der Hand, daß das Gehirn von Primaten, wie es vor vor einigen Millionen Jahren, unter den Herausforderungen an Savannen- Jäger, seine heutige Form bekommen hat, nur darauf eingerichtet sein kann, die Welt in einer sehr beschränkten Sicht zu verstehen.

Ein Hund wie unser Airdale Terrier - ja uns Primaten, evolutionär betrachtet, nicht so sehr fern - versteht vieles; er hat ein ungeheuer sensibles Verständnis für Stimmungen, für soziale Konstellationen. Aber ich werde unserem Hund nicht begreiflich machen können, wie weit der Mond von der Erde entfernt ist. (Dieses Beispiel hat einmal der große Wissenschafts- Journalist Hoimar von Ditfurth verwendet; in einem Aufsatz über Evolution und Transzendenz).

Für mich líegt es auf der Hand, daß wir Primaten nicht besser dran sind als die Caninen. Unser Gehirn erlaubt etwas mehr an Einblick in die Realität als das Gehirn des Hundes - aber welcher Albernheit ist es, zu glauben, wir könnten alles verstehen! Welche dumme Hybris.

Da lachen sozusagen die Hühner. Die ja auch ihre Welt haben, in der sie alles zu verstehen meinen.



Also gibt es - das ist aus meiner Sicht völlig trivial - eine Transzendenz. Das heißt, es gibt unendlich (im exakten Sinn) viel, das sich uns Menschen niemals wird erschließen können.

Diese triviale Einsicht ist, denke ich, eine der vielen Wurzeln der Religiosität.

Wenn man nicht weiter weiß und verstanden hat, daß man nicht weiter wissen wird - dann kann man, sozusagen, die Spielregeln wechseln und sagen: Nun gut, dann lasse ich mir das offenbaren, was ich nicht wissen kann.

Das ist die religiöse Antwort; eine, die mir faul erscheint.



Oder man kann zur Kenntnis nehmen, daß wir nun einmal unwissend sind, wenn wir an die Leistungsgrenzen unseres Primatengehirns gelangen.

Das muß man halt ertragen; je nach Temperament zynisch, deprimiert, oder mit Lichtenberg'scher Heiterkeit.

Zu der ich sehr neige. Nein, ich bin kein Atheist. Wie käme ich dazu, mir ein Urteil über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes anzumaßen? Ich bin schlicht und bescheiden unwissend, auf Griechisch ein Agnostiker.

Ja, gewiß haben sie alle Recht, die Religionen, wenn sie darauf beharren, daß wir Menschen aus eigenem Erkenntnisvermögen wenig wissen können.

Die Dummheit der wissenschaftsgläubigen Atheisten, die sich einbilden, ihrer Erkenntnis seien keine Grenzen gesetzt, erscheint mir wie die Dummheit von Kindern, die in Allmachtsphantasien schwelgen.

Die Dummheit von Gläubigen, die sich einbilden, ihnen würde durch Offenbarung das zuteil, was sie aus eigener Kraft nicht wissen können, kommt mir allerdings genauso infantil vor.



Nein, noch infantiler. Das sacrificium intellectus der Gläubigen ist ja nichts anderes als der Verzicht darauf, erwachsen zu werden. Sie wollen sich an der Hand nehmen lassen, statt aus eigener Kraft aufrecht zu gehen.

28. Mai 2007

Zettels Meckerecke: Die Komplicen der Politkriminellen

Eigentlich interessiert mich an den bevorstehenden sogenannten Aktionen zum G-8-Gipfel nur eines: Werden deren Organisatoren die Kriminellen dulden, vielleicht sogar unterstützen, die anläßlich dieser Aktionen Verbrechen planen?

Oder werden sie - als die gesetzestreuen Bürger, die zu sein sie ja beanspruchen - kriminelle Handlungen zu verhindern suchen; vielleicht auch, was ja eigentlich bei gesetzestreuen Bürgern selbstverständlich ist, mit der Polizei zusammenarbeiten, um Schläger, Steinewerfer, sonstige Kriminelle dingfest zu machen?



Ich habe da so meine Vermutungen. Aber jeder hat das Recht auf the benefit of the doubt. Vielleicht erweisen sich ja die Organisationen, die für friedlichen Protest eintreten, als rechtsstaatlicher denkend, als ich es ihnen zutraue.

Immerhin wird beispielsweise die Organisation Block-8 von zahlreichen Hochschullehrern unterstützt. Hochschullehrer kooperieren normalerweise nicht mit Verbrechern.



Was sich gestern in Hamburg abgespielt hat, gibt nun allerdings Anlaß zum Pessimismus. Es ist im Grunde unglaublich.

Die "Welt" meldet:
Am Nachmittag hatten die Demonstranten mit Sprechchören und Transparenten gegen das Außenministertreffen protestiert. Angeführt wurde der Zug von über 1000 Autonomen, die Sonnenbrillen und schwarze Kapuzen trugen. Die Polizei konzentrierte ihre Kräfte auf diesen Block. Immer wieder stockte der Zug, es kam zu Rangeleien. An der Hafenstraße wurden aus dem Kreis der Autonomen Rauchbomben geworfen und Leuchtraketen abgefeuert.
Wie allgemein bekannt ist, sind die Anmelder einer Demonstration für deren Organisation verantwortlich, also zB auch dafür, wer in den vorderen Reihen diese Demonstration anführt.

Wenn mehr als 1000 sogenannte Autonome diese Demonstration anführen konnten, dann kann das nach menschlichem Ermessen nicht gegen den Willen der Veranstalter geschehen sein. Hätten die Kriminellen versucht, sich gegen den Willen der Veranstalter an die Spitze der Demonstration zu drängen, dann hätte man dagegen vorgehen können, notfalls in Zusammenarbeit mit der Polizei. Oder eben die Demonstration absagen, wenn sie den Veranstaltern entglitten war, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Sodann heißt es in der "Welt":
Weiter hinten wurde der Demonstrationszug aber bunt gemischt. Eine achtköpfige Band begleitete die Protestierenden, die Spruchbänder mit Parolen wie "Kapitalismus abschaffen" oder "Sozialabbau und Krieg sind der Terror der Reichen" trugen. Hier marschierten auch Familien mit Kindern mit.
Im Schutz der Autonomen, so ist man versucht zu vermuten. Vorneweg die "Militanten", und dahinter der Troß.

Daß diese "Autonomen" Kriminelle sind, haben sie auch heute wieder unter Beweis gestellt. Aus dem Bericht der "Welt":
Nach einer überwiegend friedlichen Demonstration der Globalisierungskritiker kam es zu teilweise schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Autonomen. (...) Immer wieder hätten dabei Autonome Polizisten mit Reizgas, Steinen und Farbbeuteln angegriffen und wiederholt Müllcontainer angezündet, berichtete die Polizei. (...) Beim Auseinandergehen der Demonstranten sei es zu einer ernsten Situation gekommen, als ein Beamter seine Dienstwaffe gezogen habe, berichtete die Polizei weiter. Der Beamte sei massiv von einer Gruppe Demonstranten bedroht und mit Steinen sowie Farbbeuteln attackiert worden.


Warum haben sie das gemacht? Jeder weiß es: Weil sie Gewalt als Mittel der Politik einsetzen. Weil sie von vornherein zur Gewalt entschlossen waren und deshalb die dafür erforderlichen Mittel mitgebracht und sich vermummt hatten,

Aber die Veranstalter - Komplicen dieser Verbrecher - wollen uns für dumm verkaufen. Sie vertrauen offenbar darauf, mit jeder Lüge durchzukommen. Aus einer dpa-Meldung von gestern Abend:
Die Veranstalter der Demonstration gegen den ASEM- Gipfel in Hamburg haben das Vorgehen der Polizei scharf kritisiert. Sie warfen den Beamten vor, diese hätten die Demonstranten nicht friedlich abziehen lassen. Dadurch sei die Stimmung unnötig aufgeheizt worden.
So aufgeheizt war sie offenbar, die Stimmung bei den Politkriminellen, daß sie vor lauter Zorn in ihren Taschen Reizgas und Farbbeutel fanden.

Randbemerkung: Warum ist der Sowjet- Kommunismus zusammengebrochen? Keine gute Frage

In der Washington Post diskutiert Jim Hoagland, wie man mit Putin umgehen solle.

Sein Artikel enthält einen Rückblick, den ich kommentieren möchte. Hoagland weist darauf hin, daß das Ende des Sowjet- Kommunismus in den USA und in Westeuropa ganz verschieden interpretiert wird:

In den USA sah man es als den Erfolg der Konfrontations- Politik Reagans; insbesondere seiner Strategie, die Sowjetunion in einen Rüstungswettlauf zu zwingen, der ihren ökonomischen Kollaps nach sich zog.

In Europa dagegen, schreibt Hoagland, hatte man eine andere Deutung ("narrative"): Der Zusammenbruch des Sowjet- Kommunismus wird dem Helsinki- Prozeß zugeschrieben; dem "Wandel durch Annäherung".



Hoagland schreibt dieser unterschiedlichen Sichtweise "much of the grief in transatlantic relations of the past decade" zu, einen großen Teil des Harms in der transatlantischen Beziehung während des vergangenen Jahrzehnts.

Auf den ersten Blick mag das sehr zugespitzt erscheinen; aber Hoagland könnte schon etwas sehr Richtiges gesehen haben: Diese unterschiedliche Einschätzung des Zusammenbruchs des Sowjet- Kommunismus war ja auch die Grundlage einer grundverschiedenen Politik gegenüber dem postkommunistischen Rußland.

Für die USA blieb Rußland der niedergerungene Gegner, über den man sich keine Illusionen machte. Man hat in den USA immer mit sehr scharfem Blick gesehen, wie in Rußland die alten Machtstrukturen erhalten blieben. Wie zwar die Ideologie der Marxisten- Leninisten diskreditiert war, wie ihre Techniken der Machterhaltung aber unverändert verwendet wurden; seit Putins Machtantritt mit großem Erfolg.

In Westeuropa aber sah man, voll Gorbi- Schwärmerei, in Rußland so etwas wie einen gelehrigen Schüler, der sich begierig daran machen würde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von uns zu lernen. Hatte man doch den Helsinki- "Dialog" erfolgreich geführt (der in Wahrheit nichts anderes gewesen war als der Versuch beider Seiten, die andere übers Ohr zu hauen).



Jim Hoagland meint, beide Interpretationen "obscured the reality of the internal collapse of an overextended empire"; beide hätten die Realität des inneren Zusammenbruchs eines überspannten Reichs verschleiert.

Mir scheint, da hat er Recht. Eine auch nur noch halbwegs lebensfähige Sowjetunion hätte die Herausforderung Reagans ebenso überstanden wie die Legitimationsprobleme, die der Helsinki- Prozeß mit sich gebracht hatte.

"Was fällt, muß man stoßen" hat Nietzsche geschrieben. Im Rückblick ist das eigentlich Erklärungsbedürftige, wie der Sozialismus, wie dieses letzte Kolonialreich, wie dieses bürokratische Monstrum sich bis 1990 halten konnte.

Dieses auf den Ideen des Zynikers Marx und des Machiavellisten Lenin basierende System war ja nicht erst in den achtziger Jahren "marode" geworden; sondern es war im Grunde nie lebensfähig gewesen.



Jeder, der dorthin reiste, konnte das sehen. Als ich 1966 in Moskau war, war mein erstes Erlebnis, daß der Portier des Hotels schwarz Rubel tauschen wollte; er schubste mich zu diesem Zweck in den Aufzug.

Das zweite Erlebnis, am nächsten Tag, war, daß wir Ausländer, Teilnehmer eines Kongresses, nicht gemeinsam mit unseren russischen Kollegen essen durften, weil für diese ein minderwertiges Essen vorgesehen war.

Die Armut, die Allgegenwart des Verbrechens war mit Händen zu greifen. Wir Ausländer waren ständig buchstäblich eingekreist von Gaunern, die irgendwelche Geschäfte machen wollten.

Das armseligen Warenangebot, die riesigen Avenuen mit ihren Fahrstreifen, die allein für die Machthaber vorgesehen waren - daß dies ein, wie man später sagte, failed state war, konnte keinem Besucher verborgen bleiben.



Also - die Frage scheint mir überhaupt nicht zu sein, warum das Sowjetsystem zusammenbrach, sondern warum es sich siebzig Jahre halten konnte.

Sicher gibt es dafür nicht eine einzige Antwort.

Die Russen haben seit Jahrhunderten unter der Knute ihrer Herrscher gelebt; das ist meines Erachtens der wichtigste Faktor. Sie haben - auch jetzt, unter Putin - dadurch in ihrer Mehrheit nicht die Kraft, nicht das Selbstvertrauen, nicht das Freiheitsbewußtsein, um sich der Tyrannei entgegenzustellen.

Zweitens spielte die westliche Linke sicherlich eine entscheidende Rolle. Selten in der Geschichte hat eine brutale Dikatur soviel an Zustimmung, an Unterstützung, an Wohlwollen in anderen, freiheitlichen Ländern erfahren wie die Sowjetunion.

Und das ist ja noch nicht vorbei. Die Art, wie der linke Flügel der SPD die Verhältnisse im heutigen Rußland schönredet, wie diejenigen, die sonst hypersensibel bei jeder Verletzung der Menschenrechte sind, das Land des "lupenreinen Demokraten" als einen Partner ansehen, "äquidistant" mit den USA - das zeigt, daß viele immer noch nichts gelernt haben.



Nichts gelernt? Nein, das ist wohl falsch. Wer immer noch das Ziel verfolgt, in Europa den Sozialismus zu errichten, der weiß, daß das nur geht, wenn die USA hier keinen Einfluß mehr haben.

Und das wiederum geht nur, wenn wir uns in Richtung Rußland orientieren. Rußland ist nicht mehr kommunistisch. Aber im strategischen Kalkül der deutschen, der westeuropäischen Kommunisten und Sozialisten aller Spielarten ist es deshalb trotzdem auch weiter der entscheidende Faktor.

27. Mai 2007

Pfingsten, das liebliche Fest ...

Von einem Pfingst-"Fest" spricht man heute nur noch selten. Sehr zu Recht. Denn ein Fest - also ein soziales Ereignis mit bestimmten Traditionen, oft bestimmten Ritualen, mit gemeinsamem Feiern, vor allem mit einem (meist religiösen) Sinn - ist Pfingsten für die meisten Deutschen nicht mehr.

Es ist dem Pfingstfest gegangen wie den meisten christlichen Festen. Sie wurden erst vom Fest- zum Feiertag und dann vom Feiertag zum freien Tag. Im Grunde sind die meisten ehemaligen Festtage heute Urlaubstage, nur übers Jahr verstreut, zusätzlich zum Jahresurlaub. Urlaubstage, die man bekanntlich dann, wenn sie günstig liegen, mittels Brückentagen zu einem kleinen veritablen Urlaub ausbauen kann.



Ich neige nicht zur Kulturkritik. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß früher alles, oder auch nur vieles, besser war als heute. Ich bin im Gegenteil fortschrittsgläubig. Ich bin sicher, daß die Menschen heute in Europa ungleich besser leben als irgendwann in unserer Geschichte.

Auch, was das kulturelle Leben angeht. Niemals haben so viele Menschen soviel Zugang zu Kultur gehabt, und davon auch Gebrauch gemacht, wie heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Nie waren, beispielsweise, die Deutschen in ihrer Gesamtheit so gebildet wie heute.

Trotzdem empfinde ich es als einen Verlust, daß uns die Feste verlorengehen. Von allen christlichen Feirtagen hat nur noch Weihnachten bei uns den Charakter eines Festes, in geringem Umfang vielleicht noch Ostern. Das heißt, es handelt sich nicht nur um Urlaubstage, sondern um Tage, an denen etwas Besonderes stattfindet.

Aber schon bei Ostern geht es los mit der, sagen wir, Festvergessenheit. Nach einer Umfrage von 2002 kannten nur 52 Prozent der Befragten die Bedeutung des Karfreitags und von Ostern.

Immerhin - auch die Ignoranten dürften in ihrer Mehrheit ein Osterfrühstück genießen, vielleicht im Schmuck eines Osterstraußes; und ihre Kinder suchen vermutlich Ostereier. Rudimentäre Festlichkeit ist noch erhalten.

Nicht bei Pfingsten. Die Ignoranz ist, nicht verwunderlich, noch extremer als bei Ostern: Eine diesjährige Umfrage für die Frauenzeitschrift "Bella" förderte zutage, daß nicht weniger als 73 Prozent der Befragten die Bedeutung des Pfingstfests nicht kannten.

Und "Pfingstbräuche" - wo werden sie noch zelebriert? In Frankfurt, da gibt es den "Wäldchestag"; der ist allerdings der (inoffizielle) "dritte Feiertag" am Dienstag nach Pfingsten. Mag sein, daß hier und da auch noch ein Pfingstochse geschmückt wird oder dergleichen. Aber das ist Folklore, nicht mehr Brauchtum.



Feste sind etwas Schönes; in vielen Kulturen ja etwas nachgerade Rauschhaftes. Feste zu feiern ist etwas hochgradig Emotionales. Soziale Emotionalität, der Gleichklang der Affekte. Gerüche, Speisen, die festliche Kleidung, Melodien, oft auch Tänze spielen dabei eine Rolle.

Da das alle Kulturen in der einen oder anderen Form haben - sollte es uns wirklich verlorengehen? Nein. Nur müssen wir, vermute ich, von den überkommenen Festen Abschied nehmen.

Ihre Funktionen werden heute durch andere Veranstaltungen erfüllt, die viele Merkmale eines Festes tragen - Pop-Konzerte zum Beispiel.

Oder eine Fußball-WM. Dieses Feiern, diese ungeheure Festtagsstimmung im Sommer 2006 - ich glaube, das war so etwas wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten zusammen. Ersatz- Weihnachten, Ersatz- Ostern, Ersatz- Pfingsten. Vielleicht im Grunde ja auch nicht schlechter. Statt Fest halt Event.



Nein, so richtig sind sie doch kein Ersatz für Feste, die Events.

Denn was die alten Feste auszeichnete, das war der Umstand, daß sie so vieles in unserer Psyche zugleich ansprachen - vom religiösen Emfinden über soziales Erleben, über die Freuden der Musik und des Tanzes bis hin zu sehr sinnlichen Genüssen. Das fehlt den Events, jedenfalls den meisten.

Sie waren schon raffiniert, unsere Altvorderen, was das Befriedigen unserer Bedürfnisse anging. Mir scheint, so ganz reichen wir noch nicht wieder an ihre psychologische Raffinesse heran.

26. Mai 2007

Randbemerkung: Aktuelles zur kommunistischen Machtergreifung in Venezuela

Nach wie vor von den deutschen Medien kaum beachtet, wird das Drehbuch für die kommunistische Machtergreifung in Venezuela weiter Punkt für Punkt abgearbeitet.

Das Militär wird von Abweichlern gesäubert, die Ölfelder werden verstaatlicht. Ein Ermächtigungsgesetz wird der Regierung weitgehende Vollmachten geben. Eine Sozialistische Einheitspartei wurde gegründet.

Was noch fehlt, das ist die Gleichschaltung der Medien.

An diesem Wochenende wurde eine der letzten freien TV-Anstalten, Radio Caracas Television, unter staatliche Kontrolle gestellt. Die Sendeanlagen sind vom Militär übernommen worden.

Aber das Europäische Parlament, das ja sehr auf die Einhaltung der Menschenrechte achtet, es wird doch sicher protestiert haben? Ja! Allerdings ...

Dies meldet heute AP:
Chavez said the fact that only 65 of the European Parliament's 785 members participated in a vote condemning the government's decision showed the issue was of little interest (...)

Chavez erklärte, der Umstand, daß nur 65 der 785 Mitglieder des Europäischen Parlaments an einer Abstimmung teilgenommen hätten, die die Entscheidung der Regierung verurteilt, habe gezeigt, daß die Angelegenheit wenig Interesse finde (...).
Wie schrieb doch Chávez' Berater, der deutsche Professor Heinz Dieterich Steffan, über die Lage in Venezuela? "Die Machtübernahme ist weitgehend gelungen, wenn auch noch nicht so weit, wie wir es uns wünschen".

Gemach, gemach. Jedenfalls Europa wird Chávez auf dem Weg, auch noch die letzten Wünsche des Professors Dieterich Steffan zu erfüllen, keinen Stein in den Weg legen.

25. Mai 2007

Zettels Meckerecke - mit der Bahn à grande vitesse nach Paris, oh la la!

Hätte man es hingekriegt, daß der ICE und der TGV heute zur Einweihung der neuen Verbindungen pünktlich in Paris eingetroffen wären, dann wäre das irgendwie verlogen gewesen. Man entschied sich offenbar für Ehrlichkeit, und so hatte man 35 Minuten Verspätung.



Denn die Deutsche Bahn ist ja beteiligt. Also sind Verspätungen nicht die Ausnahme, sondern zu erwarten.

Als ich kürzlich mit der Bahn in Paris war, war die Fahrt im Thalys genußvoll wie immer: Ein pünktlicher, komfortabler Zug, in dem man in der Ersten Klasse mit einem Bord- Service erfreut wird, der in einem Zug der Deutschen Bahn undenkbar wäre. Mit kleinen Menüs und Getränken am Platz, mit aktuellen Zeitungen in vier Sprachen, mit dem Service von freundlichen Stewardessen, die sich um das Wohl jedes Gasts bemühen.

Aber wer nicht in Köln oder Aachen wohnt, der muß ja erst mal dorthin kommen, um in den Thalys einzusteigen. Also in der Regel - so war es bei mir - mit der Deutschen Bahn. Und das ging so:

Die Fahrkarten für den Thalys hatte ich über das Internet gebucht und mir zuschicken lassen. Die Karten nach Köln wollte ich am Tag vor der Fahrt in einem Bahnhof in unserer Nähe erwerben, dem einer mittleren Großstadt. Aber als ich um ungefähr viertel nach acht dort hinkam, war das "Reisezentrum" geschlossen.

Nun ja, es gibt ja heutzutage diese Automaten, an denen man mit Kreditkarte zahlen kann. Nur war ich mir unsicher, ob ich eine einfache Karte nach Köln lösen sollte oder eine Rückfahrkarte; denn ich wußte nicht, wie lange eine Rückfahrkarte über diese Entfernung gilt.

Aber zum Glück war die Reiseauskunft im Bahnhof noch geöffnet. Hier ist, als Gedächtnisprotokoll festgehalten, mein Dialog mit dem dort Dienst tuenden Beamten.
Ich: Ich hätte gern eine Auskunft. Wie lange ist eine Rückfahrkarte von hier nach Köln für die Rückfahrt gültig?

Er: Das steht drauf.

Ich: Aber ich habe die Karte ja noch nicht.

Er: Dann kaufen Sie sich eine am Schalter.

Ich: Aber der Schalter ist doch geschlossen. [Anmerkung: Sein Auskunfts- Stand befand sich ungefähr zwei Meter neben dem geschlossenen "Reisezentrum"]. Ich will mir die Karte am Automaten besorgen. Und da möchte ich eben wissen, ob ich eine Rückfahrkarte nehmen kann.

Er: Dann müssen Sie eben pünktlich kommen.

Ich: Sind Sie jetzt so nett und sagen mir, wie lange eine Rückfahrkarte von hier nach Köln gültig ist?

Er: Das weiß ich nicht.

Ich: Das wissen Sie nicht?

Er: Ich bin für die Fahrplanauskunft zuständig. Gültigkeitsdauern kamen in unserer Schulung nicht vor.

Der Zug nach Köln hatte dann am nächsten Tag eine Verspätung, die im Lauf der Fahrt auf ungefähr 25 Minuten anwuchs. Nur weil ich das erwartet hatte und eine Stunde früher gefahren war, als nach Fahrplan erforderlich gewesen wäre, erreichte ich den gebuchten Thalys.



Bei der Rückfahrt war das etwas anders. Da hatten alle ab Köln in meine Richtung startenden Züge so viel Verspätung, daß das bekannte Kompensations- Phänomen auftrat: Ich konnte unerwartet früh losfahren, weil nicht nur mein vorgesehener Zug, sondern auch ein früherer große Verspätung hatte. So daß ich in diesem fahren konnte, den ich nach Fahrplan gar nicht hätte erreichen können.

Dieser Zug nun freilich erlebte ein unerwartetes Schicksal: Er wurde auf eine andere Strecke umgeleitet, was eine beträchtliche zusätzliche Verspätung zur Folge hatte.

Warum wurde er umgeleitet? Wegen spielender Kinder auf den Geleisen war die gesamte ICE- Strecke gesperrt worden. Der Zug fuhr jetzt auf Nebenstrecken, auf denen normalerweise Regionalbahnen unterwegs sind.

Ich fragte den Zugchef, warum man denn nicht einfach die Kinder von den Geleisen hätte entfernen können, statt gleich die ganze Strecke zu sperren.

Seine Antwort: Wie ich mir das denn vorstellen würde? Es gebe für einen solchen Fall eine "Prozedur".

Diese sehe vor, daß zunächst die Zentrale der Bundespolizei eingeschaltet werde. Das dauere natürlich.

Diese schicke dann Polizeikräfte an den betreffenden Streckenabschnitt, und das dauere natürlich.

Wenn die Polizei die Strecke abgesucht, die Kinder aufgegriffen und sie zu ihren Eltern gebracht habe, dann werde das der Deutschen Bahn mitgeteilt, und dann erst könne die Strecke wieder freigegeben werden.



Tja. Wäre ich nur mit der SNCF gereist, dann wäre es eine langweilige, wenn auch komfortable Fahrt gewesen. So richtig spannend machte das Bahnfahren - wie meist - erst die Deutsche Bahn.

Gedanken zu Frankreich (13): Bayrou ist raus, Sarkozy spielt Bayrou

François Bayrou ist gescheitert, jedenfalls auf absehbare Zeit. Nach Bayrous beständigem Aufstieg seit Anfang des Jahres kam die Wende seltsamerweise zu dem Augenblick im Wahlkampf, der sein größter Triumph zu sein schien: Die Debatte mit Ségolène Royal zwischen den beiden Wahlgängen.

Damals hatte er nicht nur den ersten Wahlgang mit einem exzellenten Ergebnis hinter sich gebracht, sondern es auch noch geschafft, als Drittplazierter zwischen den beiden Wahlgängen in den Schlagzeilen zu bleiben.

Er hatte sich in der Debatte Royal ein wenig genähert; aber nur gerade so viel, daß er sich als Oppositionsführer nach dem zu erwartenden Sieg Sarkozys profiliert hatte. Seine Ziel, an die Stelle der jetzigen rückständigen, mit den Kommunisten verbündeten Linken eine moderne Linke Mitte zu setzen, schien damals erreichbar; auch ich sah das zu diesem Zeitpunkt so.



Bayrou hatte aber einen Faktor falsch eingeschätzt. Und zwar einen wichtigen Faktor so radikal falsch, wie das einem Spitzenpolitiker eigentlich nicht passieren darf. Das wurde deutlich in den Tagen nach der Wahl Sarkozys. Die französische Presse benutzte harte Worte dafür. In einer Zeitung wurde der Alte Fritz mit "Hunde, wollt ihr ewig leben?" zitiert, in einer anderen war von "Kanonenfutter" die Rede.

Bayrou hatte es schlicht versäumt, sich um das Schicksal der Abgeordneten seiner bisherigen Partei, der UDF, zu kümmern. Der sortants, wie man das in Frankreich nennt, die eben nicht sortants sein wollen - der bisherigen Abgeordneten, die keine ehemaligen werden möchten.

Diese nämlich waren bei den letzten Parlamentswahlen fast alle durch Wahlabsprachen mit der UMP, der Partei Sarkozys, in die Nationalversammlung gekommen. Und Bayrous Techtelmechtel mit den Sozialisten, gipfelnd in der Mitteilung, er werde Sarkozy nicht wählen, drohte ihnen folglich das Aus zu bescheren.

Bayrou habe, so ungefähr las ich es in einer Zeitung, mit der Annäherung an Royal sich selbst in Szene gesetzt und sich einen Dreck darum gekümmert, was aus seinen Getreuen werden würde, wenn sie die Unterstützung durch die UMP verlören.



Und so wurden sie Bayrou untreu, die Getreuen. Nicht nur erklärten fast alle UDF- Abgeordneten zwischen den beiden Wahlgängen, sie würden für Sarkozy stimmen. Nicht nur ging einer der Getreuesten, Hervé Morin, nach Sarkozys Sieg mit fliegenden Fahnen zu diesem über und ließ sich von ihm zum Verteidigungsminister machen.

Sondern als Bayrou seine neue Bewegung, das Mouvement Démocrate (MoDem) gründete, war kaum eine Handvoll dieser Abgeordneten auch nur auf der Gründungs- Versammlung anwesend. Und in den Wahlkreisen treten sie nun unter einem eigenen Etikett an, Parti social libéral européen. Fast alle bisherige Fraktionskollegen Bayrous kandidieren jetzt gegen die Kandidaten seiner neuen Partei!



Also: Bayrou, c'est fini, jedenfalls fürs erste. Und doch - Bayrou a gagné. Gewonnen haben die Ideen Bayrous, jedenfalls viele seiner zentralen Ideen.

Im "Nouvel Observateur" dieser Woche wundert sich mein Lieblings- Kommentator Jacques Julliard darüber, daß Sarkozy keineswegs das "rechte" Kabinett gebildet hat, das man von ihm erwartet hatte. Da sei nichts von dem "Geruch des Ultra- Liberalismus", den die Linke von einem Kabinett Sarkozys erwartet hatte. Die Linken könnten ihre Gasmasken, die sie für den Stellungskrieg ausgepackt hätten, wieder wegpacken.

In der Tat - ein sehr ähnliches Kabinett hatte Bayrou für den Fall seiner Wahl angekündigt; mit Ministern aus der Rechten, der Linken, der Mitte in den Schlüsselposition. Sarkozy hat jetzt nicht nur den Bayrou- Vertrauten Morin als Verteidigungsminister, sondern gar den Linken Kouchner, einst Minister Mitterands, als Außenminister.

Und auch Bayrous Lieblingsthema - "Weniger Staat, mehr Vertrauen in die Selbständigkeit der Bürger" - findet sich in den Ankündigungen von Sarkozy. Wie überhaupt die Ziele, die er in seiner Rede zur Amtseinführung formulierte, fast Punkt für Punkt mit dem Programm Bayrous übereinstimmten: Die Franzosen zusammenführen, klare moralische Werte setzen, Leistung solle sich wieder lohnen, Frankreich müsse sich dem weltweiten Wettbewerb stellen.

Kurzum: Sarkozy präsentiert sich im Augenblick als der beste Bayrou, den es je gab.



Wie wird es mit Bayrou weitergehen? Wenn nicht noch etwas sehr Überraschendes geschieht, wird sein MoDem, mangels Wahlabsprachen zwischen den beiden Parlaments- Wahlgängen, im Parlament so gut wie keine Rolle spielen. (Ganz anders, als ich es seinerzeit erwartet hatte).

Allerdings gärt es im Augenblick bei den Sozialisten. Deren sozialdemokratischem Flügel (Rocard, Strauss-Kahn) steht Bayrou nicht allzu fern. Vielleicht hat seine Idee einer Partei, die weder von Bündnissen mit den Linksextremisten noch von Wählerstimmen von Rechtsextremisten abhängt, doch noch eine Chance, falls das französische Parteiensystem nach den Wahlen in Bewegung kommen sollte.

Warum Doping absurd ist und zugleich rational - spieltheoretische Anmerkungen

Im Grunde ist es absurd: Rad-Profis riskieren ihre Gesundheit, lügen und betrügen, machen sich von einer Mafia abhängig, leben Jahrzehnte mit schlechtem Gewissen - und das alles ohne jeden Vorteil für irgendwen von ihnen. Ohne Vorteil für ihre Rennställe, für die Sponsoren, für das Publikum.

Das alles war und ist schlicht für die Katz - sieht man von ein paar Kriminellen ab, die am Doping verdienen, indem sie die betreffenden Mittel herstellen, ihren Vertrieb organisieren, mafiöse Strukturen aufbauen und unterhalten



Sonst hat niemand etwas von dieser Praxis. Alle Beteiligten sind die Dummen.

Denn angenommen, niemand würde dopen - dann hätten die Radsport- Fans genauso viel Spaß wie jetzt. Es würde im Radsport genauso viel Geld verdient werden wie jetzt. Die Radrennen, die großen Rundfahrten wären keinen Deut langweiliger als jetzt. Kein Rennstall würde sich schlechter stellen, kein Sponsor weniger Publicity gewinnen

Ja, man würde überhaupt nichts merken - kein Zuschauer kann das unterscheiden, ob alle nun ein wenig schneller oder ein weniger langsamer fahren.

Ergo: Die Rennställe, die Fahrer schaden sich selbst, ohne jeden Vorteil für sich selbst. Warum benehmen sie sich wie die Idioten?



Das ist eine der Fragen, mit denen sich die Spieltheorie befaßt. Eigentlich keine "Theorie", sondern eine interdisziplinäre Wissenschaft zwischen Mathematik, Sozialpsychologie, Ökonomie und auch ein wenig der Philosophie.

Eine alles andere als spielerische Wissenschaft, trotz ihres Names. Eine Wissenschaft, die gern bestimmte Szenarien untersucht; ähnlich, wie das in der modernen analytischen Philosophie die Ethik macht. Ich habe das in einem früheren Beitrag anhand des Trolley-Problems zu erläutern versucht.

Hier ist ein anderes Problem einschlägig, oder vielmehr ein Dilemma: das Gefangenen- Dilemma.

Zwei Gefangene sind in diesem Szenario getrennt eingesperrt. Jeder muß mit dem Schlimmsten rechnen, wenn der Andere ihn verrät. Er kann das aber abwenden, indem er seinerseits den Anderen verrät.

Beide handeln also rational, wenn sie den Anderen verraten. Aber beide stünden sich besser, wenn sie kooperierten und einander nicht verraten würden.



Nur setzt Kooperation Vertrauen voraus. Wenn einer kooperiert und der andere nicht, dann ist der Kooperierende der Gelackmeierte. Man kann also, wenn die Situation einmalig ist, vernünftigerweise nicht kooperieren; es wäre selbstmörderisch.

Aber wenn man das Spiel wiederholt - es "iterativ" spielt -, dann kann man sozusagen Vertrauen aufbauen. Bis am Ende beide Beteiligte überzeugt sind, daß die Kooperation beiden nützt, und sie sich daran halten.

Freilich kann jederzeit einer wieder auf Verrat umsteigen und sich damit einen Vorteil verschaffen. Einen Vorteil, der für den Kooperierenden unter Umständen tödlich ist.

Deshalb kann Kooperation dauerhaft nur funktionieren, wenn gegenseitige Kontrolle gewährleistet ist. Die Abrüstung der damaligen Supermächte in den achtziger Jahren wurde erst durch die Fortschritte in der Satelliten- Spionage möglich.



Aus spieltheoretischer Sicht ist es also trivial, daß jeder Sportler dopt, wenn er voraussetzen muß, daß es auch der Konkurrent tut. Er hat gar keine Wahl - es sei denn die, aus dem Spiel auszusteigen; also seinen Beruf aufzugeben, seinen Arbeitsplatz zu opfern.

Ich kann deshalb nicht sehen, daß dem einzelnen Radrennfahrer, der gedopt hat, ein Vorwurf zu machen ist. Der Fehler lag und liegt in einem System, das nach dem Szenario des Gefangenen- Dilemmas konstruiert war und ist.

Auch hier helfen nur gewissermaßen Abrüstungs- Verhandlungen - und verbesserte Kontrollen. Alle Beteiligten, mit Ausnahme wie gesagt der Mafia, haben Interesse daran, das Doping abzuschaffen. Das geht nur, wenn sie kooperieren. Und kooperieren können sie nur, wenn sie sich gegenseitig kontrollieren; wie die Großmächte in den achtziger Jahren mit der Satellitenspionage.



Wie man das im einzelnen organisieren könnte, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht könnte man die Mannschaftsärzte regelmäßig zwischen den einzelnen Teams austauschen, so wie das Militär das traditionell mit Manöverbeobachtern macht. Vielleicht könnte man - als "vertrauensbildende Maßnahme", wie seinerzeit zwischen den Großmächten - sogar einzelne Fahrer zwischen den Teams austauschen; warum eigentlich nicht?

Jedenfalls legt die Spieltheorie nahe, daß das Problem sich nicht durch schärfere Gesetze, nicht durch Überwachung von außen und dergleichen lösen läßt. Es läßt sich nur dadurch lösen, daß die Beteiligten ihr gemeinsames Interesse entdecken und Wege finden, diesem Interesse kooperierend gerecht zu werden.

24. Mai 2007

Empfehlung: "Rendezvous mit dem Tod" (heute im SWR)

Heute um 23.40 wiederholt der SWR die Sendung von Wilfried Huismann "Rendezvous mit dem Tod". Sie befaßt sich mit den Hintergründen des Mords an John F. Kennedy.

Ich empfehle diese Sendung sehr.

Als ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich nicht viel erwartet - halt wieder eine der vielen Verschwörungstheorien, dachte ich. So plausibel oder unplausibel wie alle; denn alle picken sie ja einzelne Fakten heraus und hängen daran ihre Spekulationen auf. Wie immer bei Verschwörungstheorien fehlt, so erwartete ich es, die empirische Bodenhaftung.

Aber das ist bei dieser Sendung nicht so. Wilfried Huismann, ein renommierter Dokumentarfilmer, hat drei Jahre an diesem Film gearbeitet. Was er behauptet, erscheint mir ausnehmend gut durch Interviews und Dokumente belegt. Einen Hintergrund- Artikel brachte damals, als der Film erstmals vom WDR ausgestrahlt wurde, die "London Times".

Wenn ich die Sendung heute aufgezeichnet und noch einmal genau angesehen habe, gibt es voraussichtlich noch einen ausführlicheren Beitrag dazu; auch zu der Kritik, die ausgerechnet aus dem WDR auf Huismann niederging.




Nachtrag: Die Sendung wurde leider kurzfristig zugunsten eines Beitrags über den Radsport abgesetzt. Ein neuer Sendetermin scheint noch nicht festzustehen.

Marginalie: Chirac, der Irak - und die Rolle Gerhard Schröders

Es gehört zu den modernen Geschichtslegenden, daß Chirac von vornherein gegen den Irak- Krieg gewesen sei.

Er hat in Wahrheit eine Beteiligung Frankreichs an diesem Krieg lange offen gehalten; im Sommer 2002 war sogar ein französischer General in den USA, um die Einzelheiten einer eventuellen Beteiligung französischer Truppen am Krieg gegen Saddam Hussein zu besprechen.

Das lag in der Logik der französischen Außenpolitik. Denn Frankreich hatte etablierte Interessen im Irak. Natürlich wollte man nach dem Krieg nicht aus dem Spiel sein.

Was veranlaßte Frankreich, auf die militärischen und wirtschaftlichen Vorteile zu verzichten, die eine Beteiligung am Irak- Krieg mit sich gebracht hätte?

Wieso wurde Frankreich im Januar 2003 plötzlich zum Gegenspieler der USA? Was motivierte de Villepins hektische diplomatische Aktivität Anfang 2003?

Eine Aktivität, deren Ziel es ja nicht war, den Krieg zu verhindern; dieser stand unmittelbar vor seinem Beginn. Sondern deren erkennbares Ziel es war, die USA zu zwingen, ihn ohne eine ausdrückliche Ermächtigung durch den Weltsicherheitsrat zu führen. Also die USA ins Unrecht zu setzen; damit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß sie ihre Ziele im Irak verfehlen würden.

Ich habe damals, vor dem Krieg, in Infotalk die Vermutung geäußert, daß es Chirac gar nicht primär um die USA ging, sondern um Deutschland.

Es war ein Hauptziel der gaullistischen Außenpolitik seit 1958 gewesen, Deutschland aus der Allianz mit den USA zu lösen und an Frankreich zu binden. Von Adenauer bis Kohl wurden alle deutschen Kanzler mit der Aussicht eines französisch- deutschen Kondominiums über Europa geködert. Alle haben sie widerstanden, weil sie wußten, daß allein eine - um ein im Augenblick modernes Wort zu verwenden - "Äquidistanz" zu Frankreich und den USA den deutschen Interessen entsprach.



Bis eben Schröder im Spätsommer 2002 seine Zusage gegenüber Bush brach, einem Krieg gegen den Irak keinen Widerstand entgegenzusetzen. Ein rein innenpolitisch motiviertes Manöver; wie immer bei Schröder skrupellos, wenn es um den Erhalt der eigenen Macht ging.

Im Januar 2003 war Deutschland damit so isoliert, daß es reif war für den Versuch der französischen Diplomatie, Deutschland an Frankreich zu binden, indem man gemeinsam in Frontstellung zu den USA ging. Schröder wirkte nach den Besprechungen anläßlich des Jahrestags des Elysée- Vertrags nachgerade euphorisch - kein Wunder, denn er hatte wieder einen Verbündeten; bald gar zwei.

Damit war in der Tat die amerikanische Irak-Politik gescheitert.

Die Koalitionstruppen waren aufmarschiert; der Krieg war unvermeidlich geworden. Aber dank des Verrats von Schröder, dank des Machiavellismus der französischen Diplomatie, dank schließlich auch der Politik Putins, der seine eigene Chance witterte, konnte der Irak- Krieg nicht als Krieg der Völkergemeinschaft geführt werden.

Er fand damit unter ganz anderen Voraussetzungen statt als der von Bush sen. geführte erste Krieg gegen Saddam. Die Islamisten konnten diesen zweiten Krieg als einen Kreuzzug der Imperialisten darstellen; Chirac und Schröder waren ihre Zeugen.




Der Anlaß für diese Marginalie ist ein aktueller Artikel von John Rosenthal in World Politics Review, der Punkt für Punkt meine damaligen Analysen bestätigt.

Dank an WadiBlog, das mich auf den Artikel von Rosenthal aufmerksam gemacht hat.

Zettels Meckerecke: Pervers, in der Tat

Dailynet brachte gestern diese Pressemitteilung:
Petra Pau: Perverser Schritt zum präventiven Sicherheitsstaat

Die Polizei hat bei vermeintlichen G8-Gegnern Körpergeruchsproben als Wiedererkennungs- Marke für speziell abgerichtete Hunde genommen. Dazu erklärt Petra Pau, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. und Mitglied im Innenausschuss:

Das ist ein weiterer Schritt vom demokratischen Rechtsstaat zum präventiven Sicherheitsstaat, noch dazu ein perverser.

Ein Staat, der derartige Anleihen beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR nimmt, beraubt sich jeder bürgerrechtlichen Legitimation.

Pressekontakt:
Christian Posselt
Deutscher Bundestag
Fraktion DIE LINKE.
Pressereferent
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Tel: 030 227 52803
Fax: 030 227 56801
email: christian.posselt@linksfraktion.de
website: http://www.linksfraktion.de

In der Wikipedia ist über Petra Pau zu lesen:
Petra Pau (* 9. August 1963 in Berlin) ist eine deutsche Politikerin (Linkspartei.PDS). (...)

Nach dem Besuch einer Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) begann Petra Pau 1979 eine Ausbildung am Zentralinstitut der Pionierorganisation in Droyßig, die sie 1983 als Freundschaftspionierleiterin und als Unterstufenlehrerin für Deutsch und Kunsterziehung beendete. Bis 1985 war sie in ihrem erlernten Beruf tätig und begann dann ein Studium an der SED-Parteihochschule Karl Marx, welches sie 1988 als Diplom- Gesellschafts- wissenschaftlerin abschloss. Sie war dann bis 1990 Mitarbeiterin beim Zentralrat der FDJ, den sie nach der Wende abwickelte.
Bei der erfolgreichen Revolution gegen den Staat mit dem Ministerium für Staatssicherheit war Petra Pau 26 Jahre alt. Sie hatte bis dahin diesem Staat nicht nur gedient, sondern sie hatte ihm als Berufs- Funktionärin gedient.

Sie hat einem Staat gedient, den man mit Recht als "präventiven Sicherheitsstaat" bezeichnen kann, auch als einen perversen, wenn man denn diese Terminologie schätzt.

Sie hat sich, immerhin damals keine Jugendliche mehr, nicht gegen die Herrschaft der Stasi gewandt; sie hat sie im Gegenteil als Funktionärin des Regimes unterstützt.



Welche Unverfrorenheit gehört dazu, daß eine Frau, die sich aktiv für einen Staat eingesetzt hat, der jeder "bürgerrechtlichen Legitimation" entbehrte, sich jetzt öffentlich um die "bürgerrechtliche Legitimation" des demokratischen Rechtsstaats sorgt, den ihr Staat bis zu seinem Ende erbittert bekämpft hat?

Welche Verlogenheit braucht eine Frau, die einem Unrechtsstaat in hoher Funktion gedient hat, um jetzt vor "Anleihen" beim Repressionsapparat dieses Staats zu warnen?



Nein, keine Unverfrorenheit, keine Verlogenheit. Petra Pau verhält sich nur so, wie Marxisten-Leninisten das gelernt haben: machiavellistisch. Perversion - ja, die ist hier schon im Spiel. Es ist aber nicht die persönliche Perversion der Petra Pau, sondern es ist die Perversion leninistischen Denkens, das keine Moral kennt, außer der Moral der Macht.

Wenn die liberale Öffentlichkeit, wenn die nichtkommunistische Linke so dumm sind, den Kommunisten zu glauben, daß sie kollektiv im Herbst 1989 von einem Saulus- Paulus- Erlebnis erfaßt wurden; daß sie stracks von Funktionären des Totalitarismus (die sie alle waren, die heutige Führung der PDS aus dem Osten) zu überzeugten Bürgerrechtlern geworden sind: Warum soll man sie dann nicht an der Nase herumführen, diese dummen Bürger?

Und wenn man es einer DDR-Funktionärin, wenn man es Spitzen der Nomenklatura wie Gysi und Bisky abkauft, daß sie jetzt den bürgerlichen Rechtsstaat gegen Stasi- Gefahren verteidigen wollen - warum sollen sie, warum soll die kommunistische Partei dann nicht diese Taktik versuchen?

22. Mai 2007

Der moderne Terrorismus: Töten als Show Business

Im Krieg tötet man, um die Kraft des Feindes zu schwächen. Jeder tote Feind ist ein Gegner weniger, der seinerseits versuchen könnte, eigene Leute zu töten. Töten oder schwer verwunden oder gefangennehmen muß man die Feinde, wenn man nicht selbst das Schicksal der Niederlage erleiden will.

Das ist rational, wenn auch unmenschlich. Es ist so seit Jahrtausenden.



Im Krieg wird zweitens getötet im Rausch des Sieges. Die Einwohner von belagerten Städten, die sich nicht freiwillig ergaben, wurden hingemordet als Strafe für ihre Renitenz. Gefangene wurden ermordet, just zum perversen Genuß der Sieger, wie die Gekreuzigten, die im Rom der Spätantike die Via Appia säumten.

Wenn man nicht mordet, dann vergewaltigt man mindestens, wie die Rote Armee im Siegesrausch 1945. Das ist das Recht der Sieger, so sieht man das traditionell. Voraufklärerisch, wie das kommunistische Rußland war.



Es soll, drittens, freilich auch Furcht machen, das Töten, das Vergewaltigen, das Quälen der Besiegten. Vae Victis! - das ist vor allem ein machiavellistisches Mittel der Politik.

Abschreckung durch den Augenschein. Grausamkeit nicht nur zur Freude des Grausamen, sondern vor allem, damit jeder gewarnt sei, sich ihm zu widersetzen. Dem, dessen Graumsamkeit bekannt ist, beugt man sich gewissermaßen vorbeugend.



Warum haben aber die deutschen Terroristen der sogenannten RAF gemordet? Warum morden heute Terroristen in Bagdad, aktuell in Ankara?

Ob sie nun, wie die RAF, Beamte und Wirtschaftsleute ermordet haben, samt ihren Begleitern; oder ob sie wahllos jeden ermorden, der sich zufällig dort befindet, wo die Bombe explodiert - es liegt auf der Hand, daß keines der drei klassischen Motive für das Töten im Krieg zutrifft; auch nicht für das Töten im Bürgerkrieg.

Diese modernen politischen Mörder können dadurch ihre Feinde nicht spürbar dezimieren; sie haben nicht im Rausch des Sieges gemordet; sie haben auch nicht zur Abschreckung getötet.



Ist es also schlicht der Blutrausch, wie bei allen Serienmördern? Das sollte man meines Erachtens ernsthaft in Betracht ziehen. Dieser Gesichtspunkt - daß Terroristen vor allem krank sind - wird meines Erachtens viel zu wenig bedacht.

Daß Leute wie Christian Klar Lustmörder waren, ist jedenfalls nicht von vornherein unwahrscheinlich.

Der Kick, wenn man einen Menschen tötet, mag schon eine entscheidende Rolle bei ihrer Entschlossenheit zum Töten gespielt haben. Herr über das Leben anderer zu sein, das ist wohl ein starkes Motiv. Gottähnlichkeit des Gerechten.

Kein RAF-Terrorist hat sich jedenfalls nach meiner Kenntnis entsetzt darüber geäußert, daß er Menschen ermordet hat. Karl-Heinz Dellwo hat in einem unsäglichen Interview des WDR auf eine entspechende Frage gesagt, nein, seine Tat sei für ihn nicht traumatisch; so sinngemäß.

Eine solche Uneinsichtigkeit von Mördern haben noch nicht einmal viele KZ- Täter gezeigt. Das ist schon auf seine Art eindrucksvoll, wie unmenschlich diese RAF- Leute waren. SS-Mentalität.



Solche Motive sind nun allerdings schwer nachweisbar. Klammern wir sie also aus. Unterstellen wir einmal, daß terroristische Mörder keine Lustmörder sind. Welches rationale Motiv haben sie dann, zu morden um des Mordens willen? Irgendwo eine Bombe hochgehen zu lassen, die Menschen tötet, irgendeinen Wirtschaftsführer oder Politiker zu ermorden?

Die Antwort lautet, soweit ich das durchschaue: Es geht allein um das Medien- Echo. Der Mord ist nicht ein Ziel in sich, sondern er ist ein Mittel, um in die Schlagzeilen zu kommen, um CNN, um weltweit die TV-Anstalten zu Berichten zu veranlassen.

Die Aktionen von Terroristen sind Happenings.

Natürlich wußten die RAF-Terroristen, daß die polizeiliche Verfolgung des deutschen Terrorismus nicht nachlassen würde, wenn sie Buback ermordeten. Aber sie hatten Publicity.

Natürlich wissen die Terroristen im Irak, daß sie die Regierung, daß sie die Koalitionstruppen nicht schwächen, wenn sie Menschen ermorden, die sich zufällig auf einem Markt befinden. Aber sie haben Publicity.

Terroristen in der Türkei suchen jetzt offensichtlich diese Publicity. Wer immer nun die Mörder gewesen sind - man fragt sich jetzt, wer sie denn sind, was sie denn wollen.



Der heutigeTerrorismus, und das hat die RAF mit am ersten erkannt, hat den Charakter von modernen Gladiatorenspielen: Menschen werden getötet, damit das Publikum darauf reagiert. Der Mord wird zur Show.

Der Mord wird zur Inszenierung, wie im Colloseum. Die Mörder sind so zynisch wie diejenigen, die damals, in der Spätantike, die Choreographie des Todes eingerichtet haben, komplett mit künstlichen Palmen, künstlichen Seeschlachten.

Das Töten von Menschen war für die RAF, es ist heute für die islamistischen Terroristen, es ist für die gestrigen Mörder von Ankara zum Show Business geworden.
Sie sind ohne jede Moral.

Ein Tiefpunkt der Zivilisation; ein Maß an Zynismus, das auch die klassischen Tyrannen und Despoten nicht kannten.

Marginalie: Die Terminologie der Politkriminellen

Heute wird von einem Verbrechen berichtet, das vergangene Nacht in Hamburg verübt wurde.

Nein, es wird nicht von einem Verbrechen berichtet. Die Kriminellen, die das Auto des Chefredakteurs von "Bild" angezündet haben, werden nicht als kriminell bezeichnet, sondern - quer durch die Medien - als "militant".

In der "Welt" zum Beispiel heißt es: "In der Hansestadt eskaliert die Gewalt militanter Globalisierungsgegner". Die "FAZ" teilt mit: "Die Polizei rechnet vor dem G-8-Gipfel mit weiteren militanten Aktionen."



Mich wundert es immer wieder, wie unbedacht auch seriöse, demokratische Medien die Sprachregelung der Polit- Kriminellen übernehmen. "Militant" nennen diese sich selbst und wollen damit vertuschen, daß sie Kriminelle sind.

Akzeptiert man diese Terminologie - akzeptiert man somit, daß ein Verbrechen kein Verbrechen mehr ist, sobald der Verbrecher ein politisches Motiv für seine Taten reklamiert -, dann ist auch Christian Klar kein Krimineller, sondern er hat seine politischen Ziele lediglich militant vertreten.

Und was rechtfertigt es, wenn man sich erst einmal auf diese verquere Betrachtungsweise eingelassen hat, eigentlich noch, die Nazis als das zu bezeichen, was sie waren, nämlich politisch motivierte Verbrecher?

Wie der Sozialismus die französischen Restaurants verändert hat. Und warum es das Bistrot von Madame Cornut nicht mehr gibt

Als ich das "Chez Clovis" betrat, kam alles mir irgendwie fremd vor. Gewiß, der Tisch links an der Wand, an dem ich immer esse, war noch da. Aber am Tresen konnte ich Madama Cornut nicht entdecken. Und der schöne alte Garderobe- Ständer neben der Treppe zur oberen Etage war verschwunden.

Es erschien eine, wie ich dachte, junge Kellnerin, die ich nicht kannte. Ich fragte sie, wo ich denn meinen Mantel hinhängen könnte. Antwort: Ich solle ihn doch einfach über einen Stuhl legen.

Da schwante mir Böses.



Die Kellnerin war keine Kellnerin, sondern die Frau oder Freundin des neuen Pächters, eines Nordafrikaners.

Monsieur und Madame Cornut hatten das "Chez Clovis" aufgegeben. Vor genau einer Woche, wie ich dann erfuhr.

Es heißt jetzt auch gar nicht mehr "Chez Clovis", sondern "Café Clovis"; das hatte ich übersehen. Und statt der köstlichen Gerichte aus der Auvergne wie der Cassolette de Rognons de Veau à la Moutarde stehen nun Allerweltsspeisen wie Rillette und Saumon Fumé auf der Speisekarte.



Ein altes Bistrot aus der Zeit der Halles weniger; eines der letzten. Gewiß niederkonkurriert von den Großen, von den Restaurant- Ketten wie dem Hippopotamus, das gleich nebenan eine Filiale hat?

Nein, jedenfalls nicht hauptsächlich. Madame Cornut hat es mir letztes Jahr erzählt, warum sie mit dem Gedanken spielte, aufzugeben. Ich hatte damals allerdings gedacht, es sei nur ein Gedankenspiel gewesen.

Sie hatte Angst, den Kampf gegen die Gesetze der Sozialisten zu verlieren. Sie erzählte mir das damals, am 30. April, als ich mich darüber gewundert hatte, daß der 1. Mai nun in Frankreich gesetzlicher Feiertag geworden war. Das war er dort nämlich traditionell nicht gewesen. (In Deutschland haben ihn bekanntlich die Nazis dazu gemacht).

Und da meinte sie, Madame Cornut, sarkastisch: Zum Ausgleich für die 35- Stunden- Woche hätte man jetzt den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag gemacht.

Ein Gesetz der sozialistisch- kommunistischen Regierung, das die rechten Regierungen der letzten fünf Jahre nicht zu kippen gewagt hatten, schreibt in Frankreich die 35-Stunden-Woche vor. Bei vollem Lohnausgleich.

Das hat unzählige mittelständische Unternehmen in den Ruin getrieben, kleine Handwerker mit wenigen Beschäftigten, und eben viele Restaurants. Kleine Unternehmen, bei denen die Lohnkosten einen großen Teil der Kosten ausmachen.



Sie haben sich dagegen gewehrt, und dabei hat sich das Angebot der kleinen und mittleren Restaurants radikal verändert.

Noch vor einem, zwei Jahrzehnten wurden überall Ménus angeboten, oft La Formule genannt. Sie bestanden aus Hors d'Ouevre, Entrée, Plat, Fromage, Dessert. Manchmal war auch der Tischwein inbegriffen, gelegentlich auch der Café.

Fünf Gänge also, die Portionen entsprechend klein. Das bedeutete fünfmal Servieren, fünfmal Abräumen. Es war also lohnintensiv. Auch, was die Küche anging.

Als Reaktion auf die 35-Stunden-Woche - so erklärte es mir Madame Cornut vor einem Jahr - wurden die Portionen größer und die Zahl der Gänge entsprechend kleiner. Heute besteht die Formule in den meisten kleinen und mittleren Restaurants nur noch aus zwei Gängen - entweder Entrée und Plat oder, alternativ, Plat und Dessert. Man kann auch, gegen Aufpreis, beides haben. Aber das wird selten gewählt, weil heutzutage schon zwei Gänge satt machen.

Manche Bistrots, wie mein zweites Stamm- Bistrot, Le Béarn, bieten noch nicht einmal das mehr an, sondern nur noch, wie in Deutschland, ein simples Hauptgericht. Das aber mit Riesenportionen, wie in Deutschland.

Damit kann jetzt ein Kellner soviele Gäste bedienen wie zuvor zwei. So hat man sich vor den Folgen des Sozialismus gerettet, schlecht und recht. Arbeitsplätze wurden durch die 35-Stundenwoche vernichtet, aber die Restaurants konnten überleben.



Wie immer trifft der Sozialismus nicht die großen Firmen und nicht die reichen Kunden. In den Restaurants, in denen ein Abendessen ab 150 Euro kostet, wird nach wie vor ein vollständiges Menü serviert; es kostet jetzt halt statt 150 vielleicht 180 Euro. Dort mag die 35- Stunden- Woche sogar neue Arbeitsplätze geschaffen haben, denn den reichen Kunden kann man keine Verminderung des Service zumuten. Sie zahlen ja auch gern mehr.

Den französischen Mittelstand aber haben die Jahre des Sozialismus hart getroffen. Wie es Jacques Julliard, der stellvertretende Chefredakteur des linken Nouvel Observateur richtig schrieb: Die Sozialisten reichen dem Lumpenproletariat die Hand, über die Köpfe der kleinen Leute hinweg.



Wird Sarkozy es schaffen, die 35-Stundenwoche, ebenso wie den sonstigen sozialistischen Wahnwitz, zu kippen? Er ist augenscheinlich dazu entschlossen.

Einfach wird es nicht werden; die Gewerkschaften rüsten sich schon zur Verteidigung der "Errungenschaften" des Sozialismus. Paris wird, das schien nach meinem Eindruck die einhellige Meinung zu sein, nach der Rentrée, der Rückkehr aus den Ferien, einen heißen Herbst erleben.

20. Mai 2007

Zur Wiedereröffnung von "Zettels Raum": Verbotene Fotos aus Paris ... oh lala!

Wer zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren in Paris war, als Mann und ohne weibliche Begleitung (und wenn er als Tourist identifizierbar war), der kennt die Szene:

Es nähert sich ein unauffälliger Herr. Er öffnet seinen Sakko oder Mantel, und es werden Fotos sichtbar. Nein, sichtbar eigentlich nicht, eher ahnbar. Denn schwupp! sind sie wieder weg, der Sakko oder Mantel wieder zu.

Zu dieser kleinen Pantomime sagt der Fremde etwas in derjenigen Sprache, die er als die des Touristen vermutet. Etwa "Schaafe Bilde" oder "Fiilsi Pikschös". Und zugleich wird ihm, dem so angemachten Touristen, ein Stapel Karten, eine Art verdecktes Kartenspiel, zum Kauf hingehalten.



Sie ist vorbei, die Zeit der verbotenen Fotos aus Paris.

Vorbei in unserer Gegenwart, in der "Bravo" zur Freude seiner jugendlichen Leser erheblich Expliziteres druckt als das, was damals in den Pariser Mänteln und Sakkos verborgen hing.

Und doch ist sie auch wieder nicht ganz vorbei, die Zeit der verbotenen Fotos aus Paris. Ich habe welche mitgebracht, und ich zeige sie hier.



Ich war auf dem Weg von der Métro- Station "Halles" zu meinem Hotel in der Rue du Roule. Eine Gegend, in der sich die Milieus treffen und mischen: Ein paar Schritte entfernt die Rue St. Denis, in der Irma la Douce wirkte. Ein paar Schritte in die andere Richtung, zur Seine hin, aber die noble Rue de Rivoli, der Louvre.

Dort also, etwas mehr zur Rotlicht- Seite hin, sah ich eine Szene, die mir interessant erschien. Ein wenig wie aus einem dieser Gangsterfilme, in denen die Gangster mit dem Citroen CV 15/6 durch Paris bretterten.

Also, da standen zwei oder drei Zivilisten, umringt von Polizisten. Einer der Zivilisten schimpfte laut auf Sarkozy, die Polizisten sagten nichts; jedenfalls war aus meiner Entfernung nichts zu hören.

Ich zückte die Kamera, um das zu fotografieren. Gerade hatte ich das erste Bild gemacht, da tönte eine kreischende Stimme aus der Gruppe: "Cessez de fotografier". Ich solle aufhören, zu fotografieren.

Ich dachte, eine Dame aus dem Milieu, die da von der Polizei zerniert war, rief mir das zu, weil sie nicht als Missetäterin fotografiert werden wollte. Aber nein, es war eine Polizistin gewesen.

Die sofort auf mich zustürzte, mit zweien ihrer Kollegen. Einen Augenblick dachte ich, jetzt würden sie mich zu Boden werfen. Aber sie umringten mich nur. Einer wollte meine Kennkarte. Die Polizistin schrie mich an, wie ich dazu komme, Polizei zu fotografieren.

Ich muß wohl ziemlich verdattert ausgesehen haben, wohl auch irgendwie harmlos. Jedenfalls beruhigte sich die Szene allmählich. Ich solle alle Fotos auf der Kamera löschen, wurde verlangt. Das weigerte ich mich zu tun. Dann ließ sich der anscheinend Dienstälteste, ein bulliger Nordafrikaner, dazu herab, es beim Löschen des inkriminierten Fotos zu belassen.

Ich fragte, gegen welches Gesetz ich denn verstoßen hätte. Antwort: In Frankreich sei es generell verboten, Polizisten zu fotografieren. Also habe ich das Foto, überwacht von diesem Polizisten, gelöscht, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß es das einzige zu dieser Szene gewesen war, ließ man mich gehen.



Dieses verbotene Foto aus Pjönjang Paris also ist nun gelöscht, für alle Zeit verloren. (Ob es Kameras mit einer Geheimtaste gibt, mit der man in solchen Fällen eine automatische, versteckte Kopie erzeugen kann? Exportmodell für Polizeistaaten?)

Aber danach habe ich, alter Liberaler, mich daran gemacht, erst Recht Polizei zu fotografieren. Natürlich verdeckt, aus sicherer Distanz. Hier sind einige dieser verbotenen Bilder aus Paris:





14. Mai 2007

Randbemerkung: Der Sieg der Kommunisten in Bremen

Das Zitat des Tages hat Lothar Bisky geliefert: "Was wir in den Ländern können, das haben wir im Osten gezeigt" sagte er auf einer Pressekonferenz zur gestrigen Wahl in Bremen.

In der Tat, sie haben das zwischen 1949 und 1989 gezeigt, die Kommunisten.

Aber offenbar gerät das in Vergessenheit, was sie damals konnten; wenn auch nicht in Ländern, so doch in Bezirken.



Auf Anhieb mehr als acht Prozent in Bremen, das ist schon was. Auch wenn in Bremen die Kommunisten traditionell stark sind, im "roten Bremen".

"Wir sind der Wahlsieger" hat, sozusagen Bisky ergänzend, der PDS-Geschäftsführer Bartsch in der Bundestags- Runde gesagt.

Ja, das sind sie, die Kommunisten.



Das Interessante an dieser Wahl ist aus meiner Sicht erstens, daß mitten in einem Aufschwung, wie ihn Deutschland in dieser Stärke selten erlebt hat, die beiden Regierungsparteien, die doch für diesen Aufschwung verantwortlich sind, abgestraft wurden.

Versteht "der Wähler" nicht, daß er diesen Aufschwung den neoliberalen Reformen verdankt, die Schröder in seinen letzten beiden Jahren gezwungenermaßen begonnen hatte, und die die heutige Regierung konsequent realisiert?

Nein, er versteht es offenbar nicht, "der Wähler". Ich fürchte, viele sagen sich: Jetzt läuft die Wirtschaft ja wieder, also kann man ja jetzt umverteilen.

Daß es mit dem Aufschwung zu Ende wäre, sobald die Umverteiler wieder, wie zwischen 1998 und 2003, das Sagen hätten - das scheint er nicht zu verstehen, "der Wähler".

Daß dann, wenn die mit mehr als acht Prozent in Bremen gewählten Kommunisten ihre Vorstellungen durchsetzen könnten, bald nichts mehr zu verteilen da wäre - das übersteigt offenbar den Horizont "des Wählers".

Naja, nicht "des Wählers". Aber halt eines hinreichend großen Teils der Wähler.



Hinreichend, um - und das ist der zweite interessante Aspekt dieses Wahlergebnisses - unter normalen Bedingungen das Parlamentarische System instabil zu machen. Ich habe das hier und hier am Beispiel Frankreichs diskutiert: Eine parlamentarische Demokratie, in der nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, ist in der Regel ihren Extremisten ausgeliefert.

Entweder, weil die Stärke der extremistischen Fraktionen im Parlament unnatürliche Koalitionen zwischen linken und rechten demokratischen Parteien erzwingt - wie in der Weimarer Republik, wie im Nachkriegsitalien, wie in der französischen Vierten Republik, wie gegenwärtig in Deutschland.

Oder, weil demokratische Parteien sich mit den jeweiligen Extremisten ihrer Seite zusammentun, zumindest von ihnen wählen lassen müssen - wie der Demokrat Prodi in Italien, der völlig von den Kommunisten abhängig ist, wie auch der Demokrat Sarkozy in Frankreich, der nur dank der Stimmen der Rechtsextremisten zum Staatspräsidenten gewählt wurde.



Unter normalen Bedingungen wäre das jetzt auch die Situation in Bremen. Nur deshalb, weil dieses Bundesland ja mehr ein Siedlungsverbund aus zwei Städten ist und weil dort seit der Zeit von Wilhelm zwo die Roten so stark sind wie kaum irgendwo in Deutschland - nur deshalb reicht es dort zu einer Mehrheit von zwei demokratischen linken Parteien.

Wenn aber die Kommunisten auch in anderen Bundesländern mehr als fünf Prozent schaffen, dann wird überall dort, wo es keine schwarze oder schwarz- gelbe Mehrheit gibt, die SPD vor der Entscheidung stehen, entweder in die Opposition zu gehen oder Juniorpartner einer Großen Koalition zu sein - oder aber den Kommunisten an die Macht zu verhelfen.

Erhard Eppler, der kluge Vordenker der Linken in der SPD, hat das erkannt. Und er hat, mit zwingender Logik aus machtpolitischer Sicht, für Koalitionen mit den Kommunisten plädiert.

Die sich jetzt in Bremen uninteressiert zeigen, weil die Trauben zu hoch hängen. Aber selbstverständlich hat noch nie seit Lenin eine Kommunistische Partei irgendwo auf der Welt die Chance verschmäht, einen Fuß in die Tür zur Macht zu kriegen, wenn das eine realistische Möglichkeit ist.



"Aber es geht doch jetzt um die Partei 'Die Linke', nicht um Kommunisten." Ich vermute, daß viele Leser sich das denken, wenn sie bis hierher gelesen haben.

Sie sind der Agitprop der Kommunisten zum Opfer gefallen. Die PDS war ebenso eine kommunistische Partei wie damals, als sie noch SED hieß. Die "Linke", wie sie sich jetzt umbenennt, nachdem sie die WASG geschluckt hat, ist ebenso eine kommunistische Partei, wie die PDS es gewesen war, die umbenannte SED, die die umbenannte KPD gewesen war.

Man wählt aus taktischen Gründen immer mal wieder einen neuen Namen; aber die Vorstellung, daß dadurch Kommunisten zu Nichtkommunisten würden, ist naiv.

Wer es nicht glaubt, der möge vielleicht diesen Beitrag und den dort verlinkten zweiten Beitrag zu Oskar Lafontaines Solidarität mit den französischen Kommunisten lesen.