29. Mai 2007

Religion, Atheismus, Evolution

Der "Spiegel" hat in dieser Pfingstwoche eine Titelgeschichte über den Atheismus.

Es ist eine alte, von Augstein begründete Tradition des "Spiegel", zu christlichen Feiertagen solche Titelgeschichten zu bringen. Teils war und ist das wohl kommerzielles Kalkül, teils - jedenfalls war es so bei Rudolf Augstein - der Versuch, sich "aus gegebenem Anlaß" mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Augstein tat das sein Leben lang sehr ernsthaft, ehrlich und auch kenntnisreich.



Diesmal also ist es Alexander Smoltczyk, der die einschlägige Titelgeschichte schreiben durfte. Heute Rom- Korrespondent des "Spiegel"; gewiß eine erfreuliche Gestalt, verglichen mit seinem unsäglichen, agitatorischen Vorgänger Jürgen Schlamp. Zuvor Edelfeder im "Spiegel"- Ressort "Gesellschaft", noch weiter zuvor einmal für die "taz" schreibend. Ein Post- Achtundsechziger, Jahrgang 1958.

Sein Artikel, unschlüssig zwischen "Spiegel"-Masche und einem ernsthaften Essay schwankend, ist nicht sehr lesenswert. Aber das Thema, auf das er aufmerksam macht, erscheint mir einen Kommentar wert.



Vor einem halben Jahrhundert hätte niemand vorhergesagt, welche Bedeutung die Religion am Anfang des Einundzwanzigsten Jahrhunderts haben würde. Die Religion war damals überall im Rückzug begriffen.

Gewiß, in den christlichen Ländern gehörten die meisten Bürger noch einer Konfession an. Aber christliche Intellektuelle gab es kaum noch. Wer intelligent, wer aufgeklärt, wer modern war, der war fast zwangsläufig kein Christ.

Sie waren so selten, die christlichen Intellektuellen, daß man ihnen dieses Etikett ausdrücklich anheftete - der "katholische Schriftsteller" Heinrich Böll, die katholische Luise Rinser. In Frankreich Paul Claudel, Henri de Montherlant, in England Graham Greene. Außenseiter, mehr oder weniger verschrobene.



Ich halte es für wahrscheinlich, daß das Zeitalter der Religionen in der Tat zu Ende geht.

Die Basis jeder Religion ist die Bereitschaft, etwas als wahr zu akzeptieren, weil es gesellschaftlich gültig ist. In einer offenen Gesellschaft gibt es aber, außer den für das Zusammenleben erforderlichen Gesetzen und außer den Ergebnissen der Wissenschaften, die sich ständiger Kritik stellen, nichts Allgemeinverbindliches mehr.

Wenn Religion zur Privatsache wird, dann hört sie im Grunde auf, Religion zu sein. Soweit wir die Geschichte der Religionen kennen, waren sie niemals Privatsache. So wenig, wie das Recht Privatsache ist. Die Religion ist die einer Gesellschaft, nicht die eines Individuums. Allenfalls vorübergehend die einer Gruppe von Dissidenten, wie der Urchristen. Dann wird sie entweder dominant, oder sie geht unter.

In dem Maß, in dem die Gesellschaft sich liberalisiert, wird also die Religion an Bedeutung verlieren.



Der Augenschein widerspricht dem, am Anfang des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, allerdings massiv. "Fundamentalismus" macht Schlagzeilen - nicht nur der islamische, sondern ebenso der christliche in den USA, in Südamerika; ebenso der hinduistische in Indien.

Treten wir also ein in ein neues Zeitalter der Religiosität? Diejenigen, denen Smoltczyk seine Titelgeschichte widmet, scheinen das zu befürchten - Richard Dawkins, Michel Onfray, Paolo Florès d'Arcais; die heutigen expliziten, aggressiven Atheisten.

Also schlagen sie zurück - mit gleichen Waffen. Sie setzen gegen den Glauben an Gott den Glauben an die Nichtexistenz Gottes.

Sie sind so wenig Skeptiker wie diejenigen, gegen die sie angehen. Und sie sind in ihrem Glauben vermutlich schlichter, dümmer, weniger reflektiert als die Verteter des Christentums, die sich immerhin auf zweitausend Jahre der Gelehrsamkeit, der Schulung des Geistes stützen können.



Mir, als einem Kantianer, kommt das alles unverständlich naiv vor.

Für mich liegt es auf der Hand, daß das Gehirn von Primaten, wie es vor vor einigen Millionen Jahren, unter den Herausforderungen an Savannen- Jäger, seine heutige Form bekommen hat, nur darauf eingerichtet sein kann, die Welt in einer sehr beschränkten Sicht zu verstehen.

Ein Hund wie unser Airdale Terrier - ja uns Primaten, evolutionär betrachtet, nicht so sehr fern - versteht vieles; er hat ein ungeheuer sensibles Verständnis für Stimmungen, für soziale Konstellationen. Aber ich werde unserem Hund nicht begreiflich machen können, wie weit der Mond von der Erde entfernt ist. (Dieses Beispiel hat einmal der große Wissenschafts- Journalist Hoimar von Ditfurth verwendet; in einem Aufsatz über Evolution und Transzendenz).

Für mich líegt es auf der Hand, daß wir Primaten nicht besser dran sind als die Caninen. Unser Gehirn erlaubt etwas mehr an Einblick in die Realität als das Gehirn des Hundes - aber welcher Albernheit ist es, zu glauben, wir könnten alles verstehen! Welche dumme Hybris.

Da lachen sozusagen die Hühner. Die ja auch ihre Welt haben, in der sie alles zu verstehen meinen.



Also gibt es - das ist aus meiner Sicht völlig trivial - eine Transzendenz. Das heißt, es gibt unendlich (im exakten Sinn) viel, das sich uns Menschen niemals wird erschließen können.

Diese triviale Einsicht ist, denke ich, eine der vielen Wurzeln der Religiosität.

Wenn man nicht weiter weiß und verstanden hat, daß man nicht weiter wissen wird - dann kann man, sozusagen, die Spielregeln wechseln und sagen: Nun gut, dann lasse ich mir das offenbaren, was ich nicht wissen kann.

Das ist die religiöse Antwort; eine, die mir faul erscheint.



Oder man kann zur Kenntnis nehmen, daß wir nun einmal unwissend sind, wenn wir an die Leistungsgrenzen unseres Primatengehirns gelangen.

Das muß man halt ertragen; je nach Temperament zynisch, deprimiert, oder mit Lichtenberg'scher Heiterkeit.

Zu der ich sehr neige. Nein, ich bin kein Atheist. Wie käme ich dazu, mir ein Urteil über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes anzumaßen? Ich bin schlicht und bescheiden unwissend, auf Griechisch ein Agnostiker.

Ja, gewiß haben sie alle Recht, die Religionen, wenn sie darauf beharren, daß wir Menschen aus eigenem Erkenntnisvermögen wenig wissen können.

Die Dummheit der wissenschaftsgläubigen Atheisten, die sich einbilden, ihrer Erkenntnis seien keine Grenzen gesetzt, erscheint mir wie die Dummheit von Kindern, die in Allmachtsphantasien schwelgen.

Die Dummheit von Gläubigen, die sich einbilden, ihnen würde durch Offenbarung das zuteil, was sie aus eigener Kraft nicht wissen können, kommt mir allerdings genauso infantil vor.



Nein, noch infantiler. Das sacrificium intellectus der Gläubigen ist ja nichts anderes als der Verzicht darauf, erwachsen zu werden. Sie wollen sich an der Hand nehmen lassen, statt aus eigener Kraft aufrecht zu gehen.