24. Juni 2007

Walter Kempowski

Walter Kempowski ist Jahrgang 1929. Als sein Erstling "Im Block. Ein Haftbericht" erschien, stand er kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag.

War er, wie Fontane, einer von denen, die erst spät ihre Begabung für die Belletristik entdecken? Nein. Er wurde um die beiden Jahrzehnte seines Lebens betrogen, in denen andere Schriftsteller sich von ihrem "Jugendwerk" zu ihrem "reifen Werk" voranschreiben.

Sein Leben ist hier nachzulesen. Mit 15 Jahren in einer Strafeinheit der HJ, mit 16 Wehrmachtshelfer. Sein Vater fällt in diesem Krieg. Der Halbwaise schlägt sich nach der Entlassung aus der Wehrmacht als Laufbursche, als Jobber bei den Amis durch.

Dann fährt er - für kurze Zeit, so war es beabsichtigt gewesen - nach Rostock, um seinen Bruder zu besuchen, der dort versucht, die väterliche Reederei zu retten.

Der Bruder notiert in Aufzeichnungen, was die Sowjets alles an demontiertem Gut aus dem Hafen Rostock abtransportieren, in Bruch der alliierten Vereinbarungen. Walter Kempowski soll diese Aufzeichnungen in den Westen bringen.

Er und sein Bruder werden verhaftet. Er ist damals 19 Jahre und wird zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt; seine Mutter zu 10 Jahren, weil sie ihre Söhne nicht angezeigt hatte.

Was er dann erlebt, ist in "Ein Kapitel für sich" nachzulesen.

Ich kenne kein Buch eines politischen Häftlings, der das, was er durchmachen mußte, so sachlich, mit so wenig Ressentiment gegenüber seinen Folterknechten, so völlig ohne einen Unterton des Anklagens beschrieben hat.

Eine fast übermenschliche Sachlichkeit, die das gesamte Werk von Kempowski kennzeichnet.



1956 wird er vorzeitig in den Westen entlassen. Als fast Dreißigjähriger macht er 1957 doch noch das Abitur, studiert Pädagogik und wird Lehrer.

Er macht Aufzeichnungen über das Schicksal seiner Familie, recherchiert. Das ist die Grundlage für seine Texte, von denen der erste, das eingangs erwähnte "Im Block. Ein Haftbericht", 1969 erscheint.

Es ist der Beginn erst einer Familienchronik in drei Bänden, dann von Chroniken in andere literarischen Formen.

Denn Kempowski hat im Grunde ein einziges Thema, das er mit unglaublicher Virtuosität, mit einem immensen Arbeitseinsatz bearbeitet: Das Erinnern, das Festhalten des Vergangenen.

Das genaue, sachliche, nüchterne Dokumentieren. Es ist ein Kampf gegen das Vergessen, das Verdrängen auch.

Kempowski ist ein realistischer Autor, wie ihn Deutschland im Zwanzigsten Jahrhundert sonst nicht gehabt hat.

Er läßt Dokumente "für sich sprechen", so wie er in der Trilogie - "Tadellöser & Wolff", "Uns geht's ja noch gold", "Ein Kapitel für sich" - Menschen im buchstäblichen Sinn "für sich" hat sprechen lassen. Nämlich indem er Redewendungen, Redensarten, damit Denkweisen festhielt. In "Ein Kapitel für sich" ist das besonders schön ausgeführt: Mal "spricht" der Autor in einer Art Innerem Monolog, mal wechselt die Perspektive zu beispielsweise diejenigen der Mutter; mit ihrer eigenen, unverwechselbaren Sprache.

Man kann diese Romane auch als ein Stück Kulturgeschichte, als Volkskunde fast lesen: So dachte man damals, so sprach man, so sah man die Welt. Es ist alles festgehalten.

Was sonst keiner mehr wüßte - Kempowski hat es bewahrt.



Ich habe damals, als es 1971 erschien, "Tadellöser & Wolff" mit, sagen wir, distanziertem Interesse gelesen. Ich fand es amüsant, wie Kempowski alle diese Einzelheiten festgehalten hatte; ein tiefes literarisches Erlebnis war die Lektüre damals nicht.

Hochzuschätzen habe ich Kempowski erst begonnen, als ich 1979 seinen Nachruf auf Arno Schmidt gelesen habe. Ich glaube, es war in der "Zeit"; bin mir aber nicht sicher.

Wie Kempowski in seinem Tagebuch notierte, war er kurzfristig um den Nachruf gebeten worden, und schrieb ihn in einer Nacht.

Ich habe damals viele Nachrufe auf Arno Schmidt gelesen. Keiner war so kenntnisreich, so sensibel, kam so sehr meinen eigenen Verständnis von Schmidt nah wie der von Kempowski.



Danach habe ich Walter Kempowski sozusagen mit anderen Augen gesehen. Ich habe gemerkt, daß er nicht nur ein origineller, sondern auch ein großer Schriftsteller ist. Also einer, der neue Wege geht.

Sein neuer Weg ist nicht der Arno Schmidts; in gewisser Weise ist er dessen Antipode.

Beide sind Realisten. Beide detailversessen. Beide Arbeitstiere, Genauigkeits- Fanatiker. Beide haben auf dem Höhepunkt ihrer Produktivität Monumental- Werke vorgelegt; Schmidt "Zettel's Traum", Kempowski das vierbändige "Echolot" nebst anschließenden Bänden.

Aber Schmidts Realismus ist äußerst subjektiv und perspektivisch: Er bedient sich der Sprache als eines Materials, mit dem er verfährt wie der Bildhauer mit seinem Block Marmor. Er will uns die Wirklichkeit zeigen, indem er sie in seine Subjektivität zwingt. Die Welt, "scharf" abgebildet (ein Lieblingswort von Schmidt), aber aus der Perspektive eines eigenwilligen, eigensinnigen Subjekts.

Kempowski dagegen möchte sozusagen seine Subjektivität ganz vergessen lassen. Er tritt zurück. Hinter die Ereignisse, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben. Hinter die Sprache der Menschen, die er schildert. Er ist Chronist. In manchem ähnlich dem anderen großen mecklenburgischen Schriftsteller, Uwe Johnson, mit dem er freundschaftlich verbunden war.



Ja, aber ist das denn noch Kunst? Wenn einer die Fakten, die Dokumente sprechen läßt, statt sich als Romancier gefälligst eine Wirklichkeit auszudenken?

Daran schieden sich die Geister, als das "Echolot" erschien.

Ich fand es grandios und habe mich sofort festgelesen. Wirklichkeit hautnah, sozusagen. Eine kurze Zeitspanne des Jahres 1943 in Deutschland, wieder zum Leben erweckt in diesen Dokumenten. Manche - wie die Tagebücher Himmlers - allgemein zugänglich. Viele andere aber nur dadurch "gerettet", daß Kempowski sich um sie gekümmert hatte.

Er hatte diese prviaten Dokumente in jahrelanger Arbeit - per Aufruf, in Anzeigen in der "Zeit" - gesammelt. Sie geordnet, ausgewählt, schließlich montiert.

Eine literarische Collage also hat er geschaffen. Selbstverständlich ein Kunstwerk, sollte man meinen. Es ist ein im Wortsinn klassisches Verfahren der Kunst, die Wirklichkeit sichtbar zu machen, indem man Teile anordnet, sie in neue Zusammenhänge stellt.

Aber das wurde von einigen nicht gesehen. Allen voran Marcel Reich- Ranicki, der am 24. Februar 1994 im "Literarischen Quartett" sein Urteil so zusammenfaßte: "Mich ärgert das, vier Bände, so ein Zeug, was soll das? ... Ich bin für Literatur und nicht für diesen Haufen an Text".

Ich denke, das ist das krasseste Fehlurteil, das sich Reich- Ranicki je geleistet hat.



Es gibt zwei Anlässe dafür, daß ich diesen Beitrag geschrieben habe.

Der eine ist ein schöner, bewegender Artikel von Falko Hennig in der "Welt", in dem ein Besuch bei Walter Kempowski geschildert wird.

Der andere ist eine Ausstellung zum Werk Kempowskis in der Akademie der Künste in Berlin. Hinfahren!

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