31. August 2007

Anmerkungen zur Sprache (5): Genera und Numeri

Welchen Geschlechtes jemand ist, das wissen wir meist oder haben jedenfalls ein intuitives Verständnis davon. Auch ob etwas ein Einziges ist oder Mehreres, ist uns in der Regel bewußt.

Mehrzahl und Einzahl (die Numeri) und männlich, weiblich, sächlich (die Genera) sind aber auch grammatische Kategorien. Und da ist es mit unserer Intuition oft nicht weit her, da sind wir mit unserem Latein nicht selten am Ende.



Warum haben Wörter überhaupt ein "Geschlecht"? Erstens trivialerweise, weil sie Objekte bezeichnen, die ihrerseits ein Geschlecht haben: Der Mann. Die Frau. Die Tochter. Der Sohn. Der Onkel. Die Tante. Der Bulle. Die Sau.

Freilich, schon bei diesen Objekten mit einem "natürlichen Geschlecht" gibt es Probleme mit dem "grammatischen Geschlecht".

"Das Fräulein" seligen Angedenkens ist im natürlichen Geschlecht weiblich, im grammatischen sächlich. Wir Schulkinder haben das selbstherrlich verbessert. "Frollein" war zu meiner Grundschulzeit sozusagen die Berufsbezeichnung für die Lehrerin (wie auch der Rufname für weibliche Bedienung in den Lokalen). Wir nannten unsere Lehrerin aber nicht "das Fräulein", sondern "die Frollein".

Und sprachen Sätze wie "Unsere Frollein ist aber arg streng".

Im Deutschen wimmelt es nur so von solchen Diskrepanzen zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht. "Das Mädchen" ist ein besonders drastisches Beispiel; natürlich dem Diminuitiv geschuldet (ohne den wäre es "die Maid").

Bei Tieren sehen wir durchweg großzügig über das natürliche Geschlecht hinweg. Auch der männliche Löwe ist "eine Raubkatze", auch der Mäuserich "eine Maus". "Das Pferd" kann eine Stute oder ein Hengst sein. Wir haben als Kinder gelernt, daß es "der Hahn" heißt, aber seltsamerweise nicht "die Huhn".

Wenn "ein Vogel geflogen kommt", dann kann es sich um einen Spatzen handeln oder eine Meise, eine Amsel oder einen Finken. Und jedes dieser mal grammatisch männlichen, mal grammatisch weiblichen Tiere kann im natürlichen Geschlecht männlich oder weiblich sein.

Aus dem grammatischen Geschlecht kann man also keineswegs auf das natürliche Geschlecht schließen. Die sogenannte "feministische Linguistik" (ja, es gibt sie!) hat das mit sozusagen festgezurrten Scheuklappen ignoriert und darauf bestanden, daß eine Frau nicht "der Minister" oder "ein Professor" sein kann. (Teilweise ging das so weit, daß weibliche Professoren ihren Titel so abkürzten: "Prof'in Dr. XYZ").

Von einem Mann zu sagen, er sei "die Kapazität" auf seinem Gebiet, oder "eine Autorität" auf demselben, das haben die feministischen Linguistinnen allerdings meines Wissens bisher nicht beanstandet.

Die Briefbögen von Behörden, von Universitäten usw. trugen traditionell Bezeichnungen wie "Der Minister", "Der Regierungspräsident", "Der Rektor". Vor der Zeit der feministischen Linguistik kam niemand auf den Gedanken, daß der Empfänger eines solchen Briefs Post vom Minister oder dem Rektor persönlich bekommt, also von einer Person mit einem natürlichen Geschlecht. Sondern es schrieb eben die Universität, das Ministerium..

Aber den feministischen Linguistinnen war das ein Dorn im Auge. Heutzutage müssen fast überall diese Briefköpfe jedesmal ausgetauscht werden, wenn die Leitung einer solchen Insitution von einem Mann auf eine Frau übergeht, oder umgekehrt.

In Frankreich hat sich die Gleichstellung auf der Kabinetts- Ebene erst kürzlich vollzogen. Lange schrieb man noch "Madame le ministre", ohne sich Böses dabei zu denken. Neuerdings heißt es "Madame la ministre". Aber nicht immer: Eine amtierende Ministerin Sarkozys, die Finanzministerin Christine Lagarde, hat bei ihrer Amtsübernahme ausdrücklich angeordnet, sie "Madame le ministre" zu nennen - aus Respekt vor der französischen Grammatik, wie sie zur Begründung äußerte.



Wenn wir die Welt der geschlechtlichen Wesen verlassen, die des Belebten überhaupt, und in die der unbelebten Objekte eintreten, dann verschwindet das natürliche Geschlecht, nicht aber das grammatische. Unsere Sprache zwingt uns - ein animistischer Atavismus? - dazu, jedem Gegenstand ein Geschlecht zu verleihen; sei es so etwas Erhabenes wie die Natur oder etwas so Verächtliches wie der Bandwurm.

Was da männlich ist, was weiblich, was ein Neutrum - das haben sprachgeschichtliche Zufälle bestimmt. Wir benutzen das grammatische Geschlecht, ohne uns etwas dabei zu denken. "Der" Schmetterling verbindet sich für uns nicht mit Männlichkeit; so wenig, wie "die" Dampframme mit Weiblichkeit.

Man hat darüber philosophiert, warum bestimmte Objekte in der einen Sprache männliche Namen haben und in der anderen weibliche. Zum Beispiel, so wird behauptet, heiße es "die" Sonne im Deutschen und analog in den germanischen Sprachen, weil im Norden die Sonne den Menschen wohl tue. "Le" soleil, "el" sol usw. heiße es hingegen in den romanischen Sprachen, weil im Süden die Sonne erbarmungslos vom Himmel brenne.

Nun ja. Dann heißt es vermutlich auch im Deutschen "der" Turm, weil der Turm für den Deutschen das Symbol männlicher Stärke ist. Und im Französischen heißt es "la" tour, weil die Franzosen in ihm das Schützende, Bergende sehen. Nicht wahr?

Nein, nicht wahr. Das ist Kaffeesatz- Leserei, Dahergerede.

Verlassen wir die trüben Niederungen solcher Gedanken- Gaukeleien und wenden wir uns etwas Spannenderem zu: Den Fehlern, die sich einstellen, wenn wir von einer Sprache in die andere wechseln.



"La tour" ist ein Beispiel. Das heißt, wie gesagt, "der Turm". Es gibt auch "le tour", und das heißt - unter anderem - "die Rundfahrt". Wir müßten also korrekterweise von "dem" Tour de France sprechen.

So, wie "Am Tag, als der Regen kam" eigentlich "eine" Chanson ist und nicht "ein"; denn "chanson" ist im Französischen weiblich. Ebenso wie das Wort für "Bahnhof", "la gare". Man kommt also, wenn man von Brüssel nach Paris fährt, an "der" Gare du Nord" an, nicht an "dem".

Beckmessereien? Ja, gewiß. Die Sprache kümmert sich selten um derartige Regularien, sondern sie richtet sich nach Analogien, nach Ähnlichkeiten. Sie assimiliert hier das grammatische Geschlecht des französischen Worts an das seines deutschen Pendants.

Sie tut das gern auch bei Fremdwörtern, die, indem sie in einer Sprache heimisch werden, dort auch schon einmal eine Geschlechts- Umwandlung erfahren.

"Die Tour" beispielsweise gelangte, so informiert uns das Grimm'sche Wörterbuch, "mit Geschlechtswechsel" Ende des 17. Jahrhunderts ins Deutsche. Warum dieser Wechsel stattfand, darüber darf man spekulieren - die sinnverwandten deutschen Wörter "Reise", "Wanderung", "Fahrt", "Rundfahrt" sind jedenfalls allesamt weiblich.

Da mag also eine Assimilation stattgefunden haben. Ähnlich wie bei "Chanson", wo das Lied, der Schlager, der Gesang die Weichen in Richtung Maskulinum gestellt haben könnten.



Ähnlichkeiten, Analogien, Assimilationen - die spielen wohl auch bei den den Numeri eine Rolle. Wie derjenige der Genera ist ihr Gebrauch manchmal mehr durch durch derartige Faktoren bestimmt als durch die Regeln der Grammatik. Wir verallgemeinern, übertragen, passen an, statt uns an formale Regeln zu halten. Genau wie Kleinkinder, wenn sie das Sprechen erlernen. Ganz ohne Grammatik zu pauken.

Manche Wörter "klingen" sozusagen nach Einzahl oder nach Mehrzahl. "Keks" zum Beispiel ist das eingedeutschte "Cakes", also Plural. Aber es klingt in deutschen Ohren nach Singular, vielleicht in Anlehnung an Wörter wie "Fuchs" und "Dachs". Also wurde es zum Singular, und wenn's mehrere sind, dann sagen wir "Kekse".

Von manchen Wörtern aus anderen Sprachen begegnet uns überhaupt fast nur der Plural. "Taliban" zum Beispiel. Das ist folglich im Begriff, zum Singular zu werden; "Jeder Mann ein Taliban" titelte unlängst sogar das Intelligenz- Magazin "Cicero".

Auch das lateinische und griechische Neutrum Plural gerät leicht in Gefahr, als Femininum Singular mißerstanden zu werden. "Allotria" zum Beispiel, "Qualia".

Ähnlich ist es übrigens auch im Englischen. In der wissenschaftlichen Literatur hat es sich fast schon durchgesetzt, "data" im Singular zu verwenden. Eben habe ich "data was recorded" in Google eingegeben: Rund 222 000 Fundstellen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.