20. April 2008

Eine Meldung im "Neuen Deutschland". Versuch, zwischen deren Zeilen zu lesen

Das "Neue Deutschland" zu lesen war, so sagen uns Kenner, schon immer eine Kunst, die langjährige Übung erfordert.

Denn dort stehen ja nicht einfach Nachrichten und Meinungen. Dort stehen Hinweise, Fingerzeige, Andeutungen. Das ND ist wie das Kreuzworträtsel in der "Zeit": Man sollte immer überlegen, was alles noch gemeint sein könnte, über den scheinbaren und offensichtlichen Sinn hinaus; hinter oder neben ihm. Als Subtext, wie man gern sagt.

Mag sein, daß heute, unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft mit ihrer Offenheit, diese Kunst des Ver- und Entschlüsselns in Kaderkreisen ein wenig degeneriert ist. Aber daß man nach wie vor die Texte von Kommunisten so sorgfältig auf Andeutungen und Hintergründe hin lesen sollte wie ein diplomatisches Aide Mémoire, hat erst vor ein paar Tagen wieder einmal Gregor Gysi in seinr Rede vor der Rosa- Luxemburg- Stiftung unter Beweis gestellt.



Gestern nun stand im "Neuen Deutschland" eine mit "Berlin (ND)" gezeichnete, also eigene Meldung, in der es heißt:
Die Linkspartei- Politikerin Sahra Wagenknecht wird von namhaften Parteimitgliedern als neue stellvertretende Parteivorsitzende vorgeschlagen. (...) Wagenknecht, die derzeit dem Parteivorstand angehört und Europa-Abgeordnete ist, besteche durch Präzision und Sachverstand, erreiche eine große Publikumsresonanz und argumentiere "immer solidarisch für die gesamte Partei und niemals allein für ihre eigenen Überzeugungen".
Geschrieben haben dies in einem Brief an die Vorsitzenden Bisky und Lafontaine die GenossInnen Christa Luft, Heinrich Fink, Klaus Höpcke und Friedrich Wolff.

Der Brief, das sollte man noch hinzufügen, wird als "offen" bezeichnet. Es ist also in Wahrheit gar kein Brief an die Vorsitzenden, sondern es ist eine Deklaration, die sich an die gesamte Partei richtet. Ginge es um eine Angelegenheit innerhalb der Parteiführung, dann hätte dieser Brief ja auch nicht den Weg ins ND gefunden.



Bemerkenswert an diesem Brief sind erstens die Unterzeichner: Allesamt DDR-Prominenz vom Feinsten:
  • Christa Luft war unter anderem in Moskau stellvertretende Direktorin des "Internationalen Instituts für ökonomische Probleme des sozialistischen Weltsystems" und in der DDR Rektorin der Hochschule für Ökonomie "Bruno Leuschner".

  • Heinrich Fink war Professor an der Ostberliner Humboldt- Universität und nach der Wende zeitweise deren Rektor, bevor er wegen nachgewiesener Spitzeltätigkeit für die Hauptabteilung XX/4 des MfS enlassen wurde.

  • Klaus Höpcke war in der DDR als Kulturredakteur des ND unter anderem verantwortlich für die Kampagnen gegen Wolf Biermann und andere Dissidenten; später brachte er es bis zum stellvertretenden Kulturminister der DDR, zuständig für die Genehmigung und das Verbot von Büchern.

  • Friedrich Wolff war einer der einflußreichsten Juristen der DDR und dort unter anderem langjähriger Vorsitzender des Rates der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR und Präsident der Vereinigung der Juristen (VdJ) der DDR. Über seine ungebrochene Identifikation mit dem System der DDR kann man sich in dieser Rede informieren, die er anläßlich des "Fünfundfünfzigsten Jahrestags der DDR" gehalten hat.
  • Wenn sich Leute dieses Kalibers in der Parteizeitung ND mit einem Vorschlag zu Wort melden, dann ist das nicht einfach so ein Einfall. Dann kann man sicher sein, daß es Teil eines taktischen Manövers ist.

    Worum es sich handeln dürfte, das geht aus der Begründung des Vorschlags hervor. Wagenknecht argumentiere "immer solidarisch für die gesamte Partei und niemals allein für ihre eigenen Überzeugungen".

    Das ist die einzige Passage, die das ND wörtlich aus dem Brief zitiert. Auf sie soll also das Augenmerk der Kader und Mitglieder gelenkt werden, die das ND zu lesen gelernt haben.

    Ich versuche mich jetzt einmal als Amateur in der Kunst des Zwischen- den- Zeilen- Lesens. Dann lese ich: Die "Kommunistische Plattform", für die Wagenknecht im Parteivorstand sitzt, soll nicht länger als eine Randgruppe behandelt werden. Es ist an der Zeit, in dieser Hinsicht die Maske fallenzulassen und diejenigen, die sich in der Partei offen zum Kommunismus bekennen, als "solidarisch für die gesamte Partei argumentierend" anzuerkennen.

    Das - so lese ich weiter zwischen den Zeilen - spiegelt die geänderten Kräfteverhältnisse wider. "Die Linke" ist jetzt, nach den höchst erfolgreichen Wahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg, die drittstärkste politische Kraft in der Bundesrepublik, deutlich vor den Grünen und der FDP. Da braucht man sich nicht länger wie bisher zu tarnen. Da kann man sich schon deutlicher zum Kommunismus bekennen; so wie die europäischen Bruderparteien in der von Lothar Bisky geleiteten "Europäischen Linken", die nie mit dem Erbe einer DDR fertigzuwerden hatten, es schon immer tun.



    Es liegt nun allerdings auf der Hand, daß diese taktische Linie nicht gut mit derjenigen harmoniert, die Gregor Gysi in der genannten Rede hat anklingen lassen.

    Gysi möchte offenbar so schnell wie möglich in die Regierung und ist bereit, dafür geheiligte kommunistische Positionen wie die Feindschaft zu Israel zur Disposition zu stellen. Christa Luft und ihre Mitstreiter dagegen wollen, wenn ich ihren Vorstoß richtig interpretiere, erst einmal Flagge zeigen, bevor man an die Macht strebt.

    Das sind taktische Varianten. Der eine will jetzt in die Regierung hinein und von dieser Machtposition aus kommunistische Politik machen. Die anderen wollen erst einmal die kommunistische Ausrichtung der Partei konsolidieren, bevor sie sie in die Regierung führen. Verständlich, wenn man bedenkt, was im Westen, nachdem man die WASG geschluckt hat, noch an Kaderarbeit zu leisten ist.

    Das ist Taktik A gegen Taktik B. Mit unterschiedlichen Zielen hat das nichts zu tun. Auch nicht mit unterschiedlichen Strategien; denn die gemeinsame Strategie ist es, auf dem Weg der schrittweisen Eroberung von Machtpositionen so stark zu werden, daß man wieder mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen kann, sobald der Kapitalismus in eine hinreichend umfassende Krise geraten ist.



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