29. April 2008

Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man damals eigentlich? Eine Empfehlung, das auf spannende Weise zu erkunden. Nebst einer Erinnerung an Adorno

Zu dem Wenigen, was ich, Student bei Theodor W. Adorno Anfang der sechziger Jahre, in dessen Vorlesungen interessant fand, gehörten seine Abschweifungen. Dafür war er berüchtigt; und manchmal war auch ganz Lebenspraktisches dabei, das man "mit nach Hause nehmen" konnte.

Einer der Dauerbrenner war Adornos Hinweis darauf, wie er als Emigrant in den USA Englisch gelernt habe. Erstens sei er ständig ins Kino gegangen. Zweitens habe er Krimis gelesen.

Krimis vor allem empfahl er, weil diese in den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft spielen und damit auch ganz verschiedene sprachliche Welten vermitteln. Zugleich lerne man als Immigrant viel darüber, wie es in dem Land, in dem man jetzt lebt, im Alltag zugeht.



Daran habe ich mich erinnert, als ich mich entschloß, diesen Artikel in die Serie "Wir Achtundsechziger" zu setzen.

Der Anlaß allerdings war nicht diese Erinnerung, sondern etwas ganz Aktuelles. Es ist wieder einmal so weit: Seit vergangenem Sonntag sendet 3Sat wieder den "Kommissar".

Hier sind die nächsten Sendetermine, und hier, hier und hier findet man einen Überblick über alle 97 Episoden, die zwischen dem 3. Januar 1969 und dem 30.Juni 1976 erstmals gesendet wurden. 3Sat beabsichtigt offenbar, sie (wieder einmal) in chronologischer Folge komplett zu wiederholen.

Denjenigen, die damals zur großen Zuschauergemeinde des "Kommissar" gehörten, brauche ich die jetzige Wiederholung nicht zu empfehlen. Aber den Nachgeborenen vielleicht schon. Hier sind die Gründe für meine Empfehlung, die eine dringende ist:
  • Erstens sind das gute Krimis. Herbert Reinecker, der alle Drehbücher geschrieben hat, war ein ausgefuchster Krimi- Profi. Die Handlungen sind meist stimmig konstruiert, die Lösung ist oft überraschend und erscheint - das ist für mich das wichtigste Kriterium für einen guten Krimi - im Rückblick schlüssig. Das heißt, es geht alles "ohne Rest auf"; das zunächst Unerklärliche oder Seltsame findet eine überzeugende Erklärung.

  • Die Sendungen sind schauspielerisch und oft auch regiemäßig vom Feinsten. Man trifft darin fast die gesamte Schauspieler- Elite dieser Zeit. Die Regieleistungen sind zwar nicht durchweg brillant. Aber die von Wolfgang Staudte und die von Helmut Käunter realisierten Folgen sind meisterlich; die anderer regelmäßiger Regisseure (Wolfgang Becker zum Beispiel und Theodor Grädler) bieten solides Handwerk; die gelegentlicher Gäste (etwa Johannes Schaaf) liefern manchmal höchst Überraschendes.

  • Nun gut, das hat mit der Zeit der Achtundsechziger nur indirekt zu tun. Der dritte Grund, warum ich die Serie empfehle, trifft aber sozusagen mitten hinein:

    Sie, liebe Nachgeborene, lernen dort mehr über diese Jahre als in vielen Büchern, Diskussionen und Sendungen über "die Achtundsechziger".

    Sie werden, wenn Sie das alles gesehen haben, besser verstehen, vor welchem Hintergrund diese Kulturrevolution entstand und wie sie die Alltagskultur verändert hat.
  • Es wird Sie, denke ich, beispielsweise verwundern und vielleicht nachdenklich machen, wie arm man damals war. In der vorgestrigen ersten Folge "Toter Herr im Regen" (sie wurde tatsächlich als zweite gedreht; die zuerst gedrehte Folge "Das Messer im Geldschrank" ist kommenden Sonntag zu sehen) - also in dieser Folge wird, wie der Titel vermuten läßt, zu Beginn eine Leiche im Regen gefunden. Im danebenliegenden Mietshaus sammeln sich auf allen Stockwerken die Mieter. Jemand fragt: "Hat hier jemand Telefon?" Antwort: "Nein, aber da drüben ist eine Telefonzelle".

    Telefon hatte "man" damals nicht; nur die Besserverdienenden hatten es.

    Sie werden, wenn Sie die Serie verfolgen, sehen, in welchen Wohnküchen man damals lebte; wie unkomfortabel das Reisen mit der Eisenbahn war; wie bescheiden man aß. (In der ersten Folge bekommt der Kommissar sein Essen gebracht - Bockwurst mit einem Brötchen).

    Viele Folgen spielen im Milieu der Kleinen Leute, auch der Außenseiter der Gesellschaft. Und das, was damals Ausdruck von Reichtum war - eine geräumige, gut ausgestattete Wohnung, ein Auto mit vielleicht 60 oder 70 PS, eine Urlaubsreise in den Süden - ist heutzutage der Standard des Durchschnitts- Deutschen oder bereits darunter.

    Sie werden auch einen Eindruck davon bekommen, wie gesittet es zuging. Wie autoritär auch, wenn der Kommissar und seine Mitarbeiter Zeugen und Verdächtige befragen. Wie viele Menschen - das Dienstmädchen in der ersten Folge zum Beispiel; auch die von ihrer Mutter dominierte Tochter - Autoritäten augeliefert waren.

    Und Sie werden, sozusagen im Huckepack der Serie, allmählich in die Siebziger vorankommen; die sich damals vollziehende Kulturrevolution miterleben. Die Tapeten wurden ornamental und grell bunt, die Haartrachten und die Kleider verwegen, die Jugendlichen aufmüpfig. Das können Sie alles verfolgen; wenn auch bis zum Ende in strengem Schwarzweiß.

    Und auf keinen Fall versäumen: Die Folge 87 "Der Mord an Doktor Winter", in der Johannes Schaaf Regie führte. Mit Rudolf Platte und Marianne Hoppe.



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