21. Juni 2008

Ist das Elfmeterschießen ein Lotteriespiel? Im Gegenteil. Warum nehmen wir es dann aber als eines wahr?

Als gestern das Spiel Türkei gegen Kroation keineswegs ein "dramatisches Spiel" war, sondern bis kurz vor dem Ende der Verlängerung grottenschlecht und stinklangweilig, da versuchte der Sprecher der ARD, uns mit der Aussicht auf ein spannendes Elfmeterschießen bei Laune zu halten. Einen Hinweis darauf flocht er immer wieder einmal in seinen Kommentar ein.

Warum ist ein Elfmeterschießen so spannend? Zum einen natürlich, weil das, was sonst im Fußball ein gelegentlicher Höhepunkt ist - der Schuß aufs Tor - hier Schlag auf Schlag geboten wird; eine Art Dauer- Orgasmus.

Zum anderen, weil das Elfmeterschießen, wie man so sagt, Glückssache ist. "Das Elfmeterschießen ist dann immer eine Lotterie" sagte gestern nach dem Spiel der unglückliche Trainer der Kroaten, Slaven Bilić.

Aber stimmt das eigentlich? Ist das Elfmeterschießen stärker vom Zufall abhängig als andere Situationen während eines Fußballspiels? Als andere Szenen, in denen aufs Tor geschossen wird?

Keineswegs. Das Gegenteil ist der Fall.

Bei Torschüssen während des Spiels ist das Zufallselement weit stärker. Der Flug des Balls wird von vielen Faktoren bestimmt - davon, wo welche Spieler gerade stehen, was jeder von ihnen sieht und wie er sich entscheidet; ob derjenige, der schließlich aufs Tor schießt, richtig zum Ball steht; und so fort.

Wenn irgend etwas davon ungünstig ist, dann geht es dem Spieler so wie dem unglücklichen, dem glücklosen Mario Gómez im Spiel gegen Österreich, der, frei vor dem Tor stehend, den ihm zugeflogenen Ball nicht versenken konnte, so als spiele er noch in der C-Jugend. Der Fußball ist nun einmal eine Fehlersportart.

Beim Elfmeterschießen dagegen ist das Zufallselement weitaus geringer. Die Lage des Balls ist vorgegeben, und es handelt sich um eine Ruhelage. Die Position des einzigen Spielers, der schießen darf, ist vorgegeben. Sowohl dieser als auch der Torwart kann seine volle Aufmerksamkeit auf den Torschuß richten.

Im Vergleich zu dem chaotischen System, das die Situation bei einem Torschuß in der Regel darstellt, ist der Elfmeter einer gut kontrollierten Versuchsanordnung im Labor vergleichbar.



Woher rührt dann unser gegenteiliger Eindruck? Warum nehmen wir dort Zufall wahr, wo in Wahrheit ein vergleichsweise hohes Maß an Kontrolle herrscht? Und warum unterschätzen wir offenbar den Zufall gerade dort, wo wir es in Wahrheit mit einem hochgradig zufallsabhängigen Geschehen zu tun haben?

Ich vermute, es liegt daran, wie sichtbar der Zufall ist.

Just weil beim Elfmeter die Situation so kontrolliert ist, so gut zu überblicken, richtet sich unsere Aufmerksamkeit darauf, daß immer noch Zufall im Spiel ist. Viel Anderes gibt es ja nicht, das Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte.

Im laufenden Spiel aber findet so viel an Geschehen statt, welches wir beachten müssen, daß der Zufall uns sozusagen aus dem Blick gerät. Er wird durch dieses vielfältige Geschehen überlagert, in den Hintergrund gedrängt.

"Unaufmerksamkeits-Blindheit" ("inattentional blindness") nennen die Psychologen dieses Phänomen: Vieles von dem, was sich vor unseren Augen abspielt, entgeht uns, weil unsere Aufmerksamkeit von anderen Aspekten des Geschehens angezogen und mit Beschlag belegt wird.

Also - daß sie im Elfmeterschießen gescheitert sind und nicht schon zuvor, das ist, fürchte ich, kein Trost für Slaven Bilić und seine Mannen. Sie haben sich das so viel und so wenig zuzuschreiben, wie daß ihnen zuvor ein Tor gelungen war und daß sie dann noch, als das Spiel schon gelaufen schien, eines kassieren mußten.



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