15. Oktober 2008

Gedanken zu Frankreich (26): Pfiffe beim Spielen der Marseillaise. Chefsache für den Staatspräsidenten. Ein schwarzer Franzose äußert sich

Stellen Sie sich einmal vor, eine deutsche Nationalmannschaft spielt im Berliner Olympia- Stadion, und beim Spielen des Deutschlandlieds gibt es Pfiffe aus dem Publikum.

Nicht wahr, das würde vielleicht berichtet werden, vielleicht auch nicht. Kommentiert würde es kaum werden.

Und nun sehen Sie sich bitte einmal diese Meldung an, die im Augenblick auf der Startseite des französischen Wochenmagazins Nouvel Observateur auf dem ersten Platz steht:
La classe politique et gouvernementale s'est emparée mercredi 15 octobre de la polémique autour de la Marseillaise sifflée lors du match France-Tunisie.

Nicolas Sarkozy a arbitré : désormais, tout match où l'hymne français sera sifflé sera immédiatement arrêté et les matches amicaux avec le pays concerné suspendus.

De même, en cas de sifflets pendant l'hymne national, "les membres du gouvernement quitteront immédiatement l'enceinte sportive", a annoncé la ministre des Sports Roselyne Bachelot à l'issue d'une réunion organisée à l'Elysée au lendemain des incidents survenus lors de la rencontre amicale France-Tunisie au Stade de France.

Die Politiker und die Regierung beschäftigte am Mittwoch, 15. Oktober, der Streit rund um Pfiffe bei der Marseillaise anläßlich des Spiels Frankreich- Tunesien.

Nicolas Sarkozy bestimmte, daß ab sofort jedes Spiel, bei dem während der französischen Hymne gepfiffen wird, sofort abzubrechen ist. Freundschaftsspiele mit den betreffenden Ländern werden ausgesetzt.

Ebenso werden im Fall von Pfiffen während der Nationalhymne "die Regierungsmitglieder unverzüglich die Sportstätte verlassen". Dies gab Sportministerin Roselyne Bachelot im Anschluß an eine Besprechung bekannt, die im Elysée [dem Amtssitz des Staatspräsidenten] am Tag nach den Vorfällen einberufen wurde, zu denen es bei dem Freundschaftsspiel Frankreich- Tunesien im Stade de France [dem größten Pariser Stadion] gekommen war.
Da haben wir, in einem Brennglas, einen der großen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Für die Franzosen - für ihre große Mehrheit - ist die nationale Würde von zentraler Bedeutung, und zwar quer durch die Parteien und die politischen Strömungen.

Diese Würde der Nation drückt sich auch in deren Symbolen aus. So, wie jeder französische Bürgermeister, auch wenn er Kommunist ist, stolz die blau- weiß- rote Amtsschärpe trägt, so lassen die Franzosen nichts auf ihre Marseillaise kommen und singen sie inbrünstig, ob Kommunist, Sozialist, Konservativer oder Nationalist.

Während in Deutschland, ohne daß sich jemand empört, der Vorsitzende einer Gewerkschaft - nicht irgendeiner, sondern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - öffentlich sagen konnte, das Deutschlandlied "transportiere die Stimmung des Nationalsozialismus", und ihm ein Hochschullehrer - nicht irgendeiner, sondern der Praeceptor Germaniae Walter Jens - sekundieren konnte: "Wenn ich an unserem Land etwas auszusetzen habe, dann ist es diese unsägliche Nationalhymne".



Ich weiß, ich komme immer wieder auf dieses Thema zurück; erst kürzlich wieder anläßlich unseres Nationalfeiertags.

Nicht wahr, schon diese Formulierung klingt ungewohnt? "Unseres", das sagt man hierzulande nicht, wenn man Deutschland meint. Und selbst "Nationalfeiertag" ist als Bezeichnung für den 3. Oktober eher unüblich. Manche Deutsche setzen ja offenbar geradezu ihren Nationalstolz darein, keinen Nationalstolz zu haben.

Da haben wir diese ganze Verdruckstheit: "Wir Deutsche sind stolz darauf, nicht stolz darauf zu sein, daß wir Deutsche sind". So ungefähr.

Was ja nicht weiter schlimm wäre, wenn unser Land nicht vor der Aufgabe stünde, etliche Millionen Einwanderer zu assimilieren. Wie man das ohne ein normales Nationalbewußtsein hinbekommen kann, hat mir noch niemand erklären können.



Heute nahm ein Franzose afrikanischer Herkunft - nicht irgendeiner, sondern der Präsident der Vereinigung dieser Franzosen, des Conseil représentatif des associations noires de France, Patrick Lozès - zu dem gestrigen Vorfall folgendermaßen Stellung:
Comme beaucoup de nos concitoyens qui ont regardé hier le match amical de football France- Tunisie hier soir, j’ai été choqué par les sifflets qui ont couvert la Marseillaise. La République est un bien précieux, ses symboles doivent scrupuleusement être respectés. C’est un préalable absolu car cela indique sans ambigüité dans quel cadre nous évoluons. (...)

Lorsque la Marseillaise est sifflée, c’est notre idéal commun qui est rejeté. Lorsque notre hymne national est sifflé, c’est notre promesse du vivre- ensemble qui est souillée.

Wie viele unserer Mitbürger, die gestern Abend das Freundschaftsspiel Frankreich- Tunesien gesehen haben, war ich von den Pfiffen schockiert, die die Marseillaise übertönten. Die Republik ist ein kostbares Gut. Ihre Symbole müssen sorgsam respektiert werden. Das ist eine absolute Voraussetzung, denn es zeigt ohne Wenn und Aber, in welchem Rahmen wir uns voranbewegen. (...)

Wenn bei der Marseillaise gepfiffen wird, dann wird unser gemeinsames Ideal abgelehnt. Wenn bei unserer Nationalhymne gepfiffen wird, dann wird unser Versprechen des Zusammenlebens beschmutzt.
Man stelle sich vor, der Vorsitzende der Vereinigungen türkischer Einwanderer würde so etwas in Bezug auf unsere deutsche Nationalhymne schreiben.



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