3. März 2009

Zettels Meckerecke: Der Mann mit dem Bleistift hinter dem Ohr und das Urteil des BVerfG zu Wahlautomaten. Ein unlogisches, ein dummes Urteil

In meiner Kindheit kannte ihn jeder: Den Mann im grauen, manchmal auch weißen Kittel, mit dem Bleistift hinter dem Ohr. Er trat zum Beispiel auf als der Kaufmann um die Ecke, zu dem meine Eltern mich zum Einkaufen schickten.

Warum hatte er immer den Bleistift hinter dem Ohr? Weil das Einkaufen so ging: Alles, was man haben wollte, baute der Kaufmann auf seinem Tresen auf. Dann ging er die Waren durch und notierte für jede den Preis auf einem Stück Papier; mit eben jenem Bleistift. Hatte er alles, dann zog er einen Strich unter die Zahlenreihe und rechnete aus, was man zu zahlen hatte. Mit dem Bleistift notierte er dabei die Zwischenergebnisse.

Im Lauf der Jahrzehnte verschwanden die Bleistifte. Die Kaufleute schafften sich Registrierkassen an, oft waren sie von "Anker". Mit großen, weit hervorstehenden Tasten, auf denen die Preise eingetippt wurden. Mit einer Kurbel, an der man drehte, und dann klingelte es. Die Maschine rechnete, und die Geld- Schublade fuhr heraus.

Noch später wurden die Registrierkassen erst elektrisch, dann auch elektronisch. Längst war auch der Kaufmann an der Ecke durch den Supermarkt, den Discounter ersetzt worden. Die Kassiererinnen mußten in die elektronischen Kassen anfangs noch den Preis eingeben, dann nur noch die Warennummer. Heute scannen sie die Waren ein.



Als der Kaufmann mit dem Bleistift arbeitete, benutzten auch Wähler den Bleistift, um anzukreuzen, wem sie ihre Stimme geben wollten. Die Stimmen wurden per Hand "ausgezählt", so wie der Kaufmann mit dem Bleistift ausrechnete, was der Kunde zu zahlen hatte.

Dann kam die mechanische Registrierkasse. Die Wähler benutzten immer noch den Bleistift. Dann kam die elektrische, die elektronische Kasse. Die Wähler benutzten immer noch den Bleistift. Dann kam die Scanner- Kasse. Zu Hause schrieben die Kunden ihre Briefe nicht mehr mit der mechanischen Schreibmaschine, sondern mit der elektrischen IBM, dann am PC. Die Wähler wählen immer noch mit dem Bleistift.

Das ist ein höchst unsicheres Verfahren. Immer wieder gibt es Berichte, daß Urnen verschwinden, daß ganze Bündel von Stimmen versehentlich unausgezählt bleiben. Wird einmal aus irgendeinem Grund eine Nachzählung erforderlich, dann liefert sie fast nie genau dasselbe Ergebnis wie die ursprüngliche Auszählung.

Der Wähler ist diesen Ungenauigkeiten weitgehend ausgeliefert. Er kann der Auszählung beiwohnen, denn sie ist öffentlich. Aber selten tut das einmal ein Wähler. Und auch wenn er es tut, weiß er nicht, ob die Urne wirklich leer gewesen war, als der erste Wähler seinen Stimmzettel hineinwarf. Er weiß nicht, was mit dem in seinem Wahllokal ausgezählten Ergebnis wird; ob es korrekt übermittelt, ob die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale fehlerfrei addiert werden.

Die meisten Wähler, auch ich, machen sich darüber aber keine Sorgen. Sie sind überzeugt, daß in einem demokratischen Rechtsstaat Wahlen nicht manipuliert werden.

Fehleranfällig ist diese altfränkische Art der Erfassung und Auszählung der Stimmen; so wie der Kaufmann an der Ecke sich ungleich häufiger verrechnet hat, als heute beim Einscannen noch Fehler vorkommen. Aber wir können damit leben, weil wir davon ausgehen können, daß diese Fehler, weil zufällig, nicht bestimmte Parteien begünstigen oder benachteiligen. À la longue hebt sich das gegenseitig auf. Nur wenn es einmal ganz knapp ist, wird man nachzählen. Denn dann kann es schon einmal auf wenige Stimmen ankommen.

Wir Wähler können mit der Fehleranfälligkeit des altertümlichen Verfahrens der Auszählung leben, weil wir auf den demokratischen Rechtsstaat vertrauen. Niemand wird sich in aller Regel selbst davon überzeugen, daß alles in Ordnung ist. Aber wir setzen es voraus, weil wir denjenigen vertrauen, die diese Wahlen organisieren, die sie leiten, die sie überwachen.



Heute hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die bisher in Deutschland benutzten Wahlcomputer der niederländischen Firma Nedap nicht mehr eingesetzt werden dürfen. Ihre Verwendung ist also - denn nur darüber hat das BVerfG zu befinden - verfassungswidrig. Warum ist sie das? Die "Welt":
Die Stimmabgabe an den Computern des niederländischen Herstellers Nedap widerspreche dem in der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, urteilten die Karlsruher Richter. Die elektronische Auszählung der Stimmen sei vom Wähler nicht kontrollierbar. Es sei jedoch grundsätzlich erforderlich, dass jeder Bürger die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen könne, erläuterte der Zweite Senat seine Entscheidung.
Genauer kann man das, was sich das Gericht da ausgedacht hat, in den Leitsätzen zu dem Urteil nachlesen. Dort heißt es:
Der Wähler selbst muss - auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse - nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung oder - wenn die Stimmen zunächst technisch unterstützt ausgezählt werden - jedenfalls als Grundlage einer späteren Nachzählung unverfälscht erfasst wird. Es reicht nicht aus, wenn er darauf verwiesen ist, ohne die Möglichkeit eigener Einsicht auf die Funktionsfähigkeit des Systems zu vertrauen. Es genügt daher nicht, wenn er ausschließlich durch eine elektronische Anzeige darüber unterrichtet wird, dass seine Stimmabgabe registriert worden ist. Dies ermöglicht keine hinreichende Kontrolle durch den Wähler. (...)

Einschränkungen der bürgerschaftlichen Kontrollierbarkeit des Wahlvorgangs können nicht dadurch ausgeglichen werden, dass Mustergeräte im Rahmen des Verfahrens der Bauartzulassung oder die bei der Wahl konkret eingesetzten Wahlgeräte vor ihrem Einsatz von einer amtlichen Institution auf ihre Übereinstimmung mit bestimmten Sicherheitsanforderungen und auf ihre technische Unversehrtheit hin überprüft werden. Die Kontrolle der wesentlichen Schritte der Wahl fördert begründetes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Wahl erst dadurch in der gebotenen Weise, dass die Bürger selbst den Wahlvorgang zuverlässig nachvollziehen können.
Welch eine Weltfremdheit!

Kein Bürger kann den Wahlvorgang "zuverlässig nachvollziehen", wenn mit Bleistift oder Kugelschreiber Formulare markiert werden. Er müßte dann kontrollieren können, daß die Urne bei Öffnung des Wahllokals leer war; er müßte nicht nur der Auszählung mit Argusaugen folgen können, sondern auch bei der telefonischen Übermittlung der Wahlergebnisse zugleich im Wahllokal und in der Zentrale sitzen, in der die Ergebnisse gesammelt werden.

Und auch dort - also auf den Rathäusern, in den Innenministerien, wo immer Ergebnisse gesammelt und verrechnet werden -, dürften nach der Logik des BVerfG keine Computer eingesetzt werden.

Denn wie sollten "die Bürger", von denen das Gericht spricht, sicher sein können, daß diese Computer nicht manipuliert sind, daß die Software keine Fehler enthält usw.? Wenn der Bürger - nach Ansicht des Gerichts - nicht der amtlichen Kontrolle von Wahlautomaten vertrauen kann, warum soll er dann der Richtigkeit der Übermittlung, der Sammlung, der Auswertung der aus den Wahllokalen gemeldeten Daten trauen können?

Es liegt in der Logik dieser seltsamen Entscheidung, daß die Ergebnisse der Wahllokale nicht mehr telefonisch oder gar über einen Computerverbund weitergegeben werden dürfen. Sondern die Urnen müßten per Kurier an die jeweiligen zentralen Sammelstellen geliefert werden.

Dort dürften dann nicht etwa Computer, ja noch nicht einmal Taschenrechner (wer durchschaut schon deren Funktionsweise?) für das Zusammenfassen der Daten eingesetzt werden, sondern - nach der Logik dieser Entscheidujng des famosen Zweiten Senats des BVerfG - natürlich nur Papier und Bleistift; eben wie im Wahllokal. Vielleicht helfen ja begabte Schnellrechner bei der Ermittlung des Ergebnisses.

Das dann, sagen wir, vier oder fünf Wochen nach der Wahl vorliegt.



Kann man die Logik dieses Urteils irgendwie retten?

Es liegt nahe, zu argumentieren, daß physische Stimmzettel sozusagen sichere Rohdaten verfügbar machen. Später nutzt man Rechner, um diese Daten zu verarbeiten. Aber im Zweifelsfall hat man doch immer noch die Stimmzettel. Solide Ausgangsdaten.

Aber genau die hat man auch bei den Wahlcomputern der Firma "Nepad". Aus den Leitsätzen zu dem Urteil:
Die an dem Wahlgerät abgegebenen Stimmen - einschließlich der Koppelungen (Erststimme und zugehörige Zweitstimme) - werden auf einer herausnehmbaren kassettenförmigen Speichereinheit - dem sogenannten Stimmspeichermodul, auch als "elektronische Urne" bezeichnet (vgl. Schönau, Elektronische Demokratie, 2007, S. 53) - abgelegt. Auf dem Stimmspeichermodul sind darüber hinaus die Daten der Stimmzettel, die Zuordnung der einzelnen Tasten zu den Wahlvorschlägen sowie Wahldatum und Wahllokal gespeichert.
Daß es leichter wäre, diese elektronische Urne zu manipiulieren als eine reale Urne, die man verschwinden lassen, die man durch eine andere ersetzen, die man heimlich mit gefälschten Stimmzetteln füllen kann - das nachzuweisen oder auch nur plausibel zu machen hat das BVerfG leider unterlassen.



Es gibt freilich, abseits der verfassungsrechtlichen Klimmzüge dieses Zweiten Senats, gute Gründe dafür, die Ergebnisse, die Wahlcomputer liefern, nachzuzählen. Nicht, weil "der Bürger" mit seinen beschränkten Möglichkeiten, den Vorgang im Einzelnen nachzuprüfen, nicht über Papier und Bleistift hinauskommen würde. Sondern aus einem ganz anderen Grund.

Ich habe diesen Grund hier vor gut einem Jahr erläutert: Weil die Fehler von Menschen und die von Computern von unterschiedlicher Art sind. Wenn Menschen z.B. die Höhe eines Gebäudes schätzen sollen, dann werden sie diese selten genau treffen, aber auch nicht radikal vom wahren Wert abweichen. Wenn man aber einen Rechner verwendet, um diese Höhe trigonometrisch auszurechnen, dann kann bei einem Software- Fehler das Ergebnis um Größenordnungen falsch sein.

Wenn man also Sicherungen einbauen möchte, dann ist es am besten, die beiden Arten von Fehlern sich gegenseitig kompensieren zu lassen, indem Wahlcomputer eingesetzt werden, aber per Hand nachgezählt wird. Und zwar eine Stichprobe, deren jeweils erforderlichen Umfang Philip B. Stark ausgerechnet hat.

Nur ist das freilich keine Frage der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, sondern eine Frage der praktischen Zweckmäßigkeit.

Daß das Problem, wie man am besten Fehler bei der Ermittlung von Wahlergebnissen vermeidet, Verfassungsrang hat - das gibt es vermutlich nur in Deutschland.

Deutsch sein heißt eben, eine Sache um ihrer selbst willen tun. Es ist schon deprimierend.



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