25. Mai 2009

Leben wir in einem Multiversum? Über die ständige Erweiterung unseres Weltbilds; im Wortsinn (Teil 1)

Jemand wächst in einem abgelegenen Dorf in den Alpen auf. Als Kind darf er mit zum Besuch bei Verwandten und erfährt dadurch, daß es noch andere Dörfer gibt. Später kommt er einmal in die Stadt. Er lernt die Region kennen, dann sein Land; als Erwachsener vielleicht andere Weltgegenden.

Ständig erweitert sich sein Weltbild. Nicht nur in dem übertragenen Sinn, daß er Neues über die Welt erfährt. Sondern es erweitert sich auch in einem ganz wörtlichen Sinn: Er weiß jetzt, daß sein Heimatdorf nur eines von vielen Dörfern ist, seine Region nur eine von etlichen Regionen, sein Land nur eines von vielen Ländern auf diesem weiten Erdenrund.



So ist es auch mit dem wissenschaftlichen Weltbild, wenn wir es über die Jahrhunderte, die Jahrtausende verfolgen.

Die naive Anschauung zeigt uns die Welt, in der wir leben, als die Welt schlechthin. Darüber der Himmel, darunter - nun, das sieht man nicht. Also stellt man es sich vor; als eine Unterwelt, den Orkus, den Hades, die Hölle. Für dieses Weltbild ist die Erde zugleich die Welt. Die beiden Begriffe wurden austauschbar verwendet; und sie werden es ja auch heute noch, wenn wir von "Weltpolitik" sprechen oder dem "Weltklima".

Die Erweiterung dieses Weltbilds - und damit auch der Prozeß, der es immer weiter von der naiven Anschauung entfernte - begann mit der Entdeckung der Kugelgestalt der Erde in der Antike.

Schon Pythagoras hat sie vermutet; freilich, weil für ihn die Kugel die vollkommenste Gestalt war. Für Aristoteles war sie bereits selbstverständlich, und jetzt aus wissenschaftlichen Gründen. Als Belege führte er in seinem Werk "Vom Himmel" unter anderem an, daß dann, wenn man gen Süden reist, neue Sternbilder am Horizont auftauchen und immer höher wandern, je weiter man nach Süden gelangt; und daß bei einer Mondfinsternis der Schatten einer runden Erde auf den Mond fällt.

Aristoteles lebte im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Bereits ein Jahrhundert später gelang Eratosthenes - Mathematiker, Naturwissenschaftler und Direktor der Bibliothek von Alexandria - die Messung des Erdumfangs. Er ersann dazu eine geniale Methode, die man zum Beispiel hier beschrieben findet. Sein Ergebnis war, daß der Umfang der Erde ungefähr 252.000 Stadien beträgt. Nimmt man an, daß er mit ägyptischen Stadien rechnete, dann sind das 39.690 km - eine Abweichung von weniger als einem Prozent vom wahren Wert!

Die Erde also eine Kugel, im Mittelpunkt des Universums, darum herum die Sphären, an welche Sonne, Mond und die Planeten und schließlich, als äußerste Schale, auch die Fixsterne angeheftet sind - das war seit der Antike das Weltbild der Gebildeten. (Für die weniger Gebildeten blieb die Erde bis ins Mittelalter flach, wie man zum Beispiel sehr schön an der Ebstorfer Weltkarte sehen kann).

So blieb es bis zur Renaissance. Dann aber ging es Schlag auf Schlag:

Zunächst setzte sich das heliozentrische Weltbild durch. Die Erde war nur noch ein Planet unter anderen; aber immerhin stand unser Zentralgestirn, die Sonne, noch im Mittelpunkt der Welt.

Dann erwies sich auch das als irrig. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war klar, daß die Sonne nur ein Stern unter vielen ist, die zusammen unsere Milchstraße bilden. So schildert es Alexander von Humboldt in seinem ab 1845 erschienen grandiosen Werk "Kosmos". Sein Universum war die Milchstraße; die damals bekannten Spiralnebel sah er als besondere Gebilde innerhalb der Milchstraße an.

Es dauerte noch einmal fast ein Jahrhundert, bis auch dieses Weltbild zerbarst. Der Gedanke, daß die Spiralnebel nichts anderes sein könnten als eigene Milchstraßen, war zwar schon früher geäußert worden (sogar schon von Kant im Jahr 1755); aber es fehlten die Belege. Erst in den Zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts hatten die Teleskope eine solche Auflösung erreicht, daß man in Spiralnebeln einzelne Sterne erkennen konnte.

Diese und andere Beobachtungen belegten, daß unsere Milchstraße nur eine unter vielen ist. Und zwar unter sehr vielen - die gegenwärtigen Schätzungen bewegen sich in der Gegend von 80 Milliarden bis 125 Milliarden Galaxien.



Von diesen rund 100.000.000.000 Galaxien ist unsere Milchstraße eine. Mit rund - das ist die aktuelle Schätzung - 200.000.000.000 bis 400.000.000.000 Sternen in dieser Milchstraße.

Mit anderen Worten: Unsere Sonne ist, grob geschätzt, einer von 20.000.000.000.000.000.000.000 Sternen im uns bekannten, im "beobachtbaren" Universum. In einem Universum, das - so sagt es das Standard- Modell - vor ungefähr 13,7 Milliarden Jahren in dem "Urknall" entstand, dem "Big Bang", von dem inzwischen jeder schon einmal etwas vernommen hat.

Das ist, nicht wahr, schon ganz schön viel. Nicht unbedingt ein Grund, uns Erdbewohner besonders wichtig zu nehmen. Uns Erdbewohner, die wir immerhin, um zum Eingangsbeispiel zurückzukehren, aus unserem Dorf gestiegen sind, die wir die Region und unser Heimatland kennengelernt haben.

Unser Heimatland, das ist dieses "beobachtbare Universum" mit seinen vielleicht hundert Milliarden Milchstraßen, jede mit vermutlich mehreren hundert Milliarden Sonnen. Um eine davon kreist unsere Erde.

Ja, aber gibt es denn nicht Länder außerhalb unseres Heimatlands? Dürfen wir denn das "beobachtbare Universum" mit der Welt gleichsetzen? Oder ist unser Universum vielleicht nur eines unter vielen - so wie unsere Erde nur einer unter vielen Planeten ist, unsere Sonne nur eine unter sehr vielen Sonnen der Milchstraße, unsere Milchstraße nur eine unter sehr vielen Galaxien?

(Fortsetzung folgt)



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Spiralgalaxie NGC 3627 (M66), aufgenommen vom Weltraumteleleskop Spitzer. Von der NASA in die Public Domain gestellt.