1. September 2009

Der "deutsche Überfall auf Polen" vor siebzig Jahren war ein deutsch-sowjetischer Angriffskrieg

Heute jährt sich zum 70. Mal das Ereignis, das meist als der "deutsche Überfall auf Polen" bezeichnet wird. Diese Bezeichnung ist historisch nicht korrekt, zumindest unvollständig.

Sie ist so wenig korrekt wie die Schlagzeile "Ein Einbrecher drang in ein Wohnhaus ein", wenn es in Wahrheit zwei Einbrecher gewesen sind. Der eine stieg freilich als erster ein, und der andere folgte etwas später. Geplant hatten sie den Einbruch gemeinsam, und gemeinsam führten sie ihn aus.

Hitler verkündete den Krieg gegen Polen mit dem berühmten (und falschen) Satz: "Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen". Weniger allgemein bekannt als dieser Satz ist der Kontext, in den Hitler ihn in seiner Reichtstagsrede vom 1. September 1939 stellte: Unmittelbar vor der Passage über den Einmarsch deutscher Truppen nach Polen teilte Hitler mit, daß Deutschland mit der Sowjetunion einen Pakt geschlossen hätte, der "vor allem sicherstellt, daß sich die Kräfte dieser beiden großen Staaten nicht gegeneinander verbrauchen". Dieser Pakt, so Hitler, hätte am Tag zuvor "die höchste Ratifikation in Moskau und auch in Berlin erfahren".

Insofern spielte Hitler also mit offenen Karten. Vermutlich wollte er seinen deutschen Zuhörern die Sorge nehmen, der Überfall auf Polen könne der Beginn eines großen Kriegs gegen Rußland sein. Jedenfalls erwähnte er ausdrücklich, daß der Pakt "für alle Zukunft jede Gewaltanwendung ausschließt". Dies sei "eine ungeheure Wende für die Zukunft". Einen weiteren Krieg zwischen Deutschland und Rußland werde es nicht geben.



Was Hitler selbstverständlich nicht erwähnte, das war das Geheime Zusatzprotokoll zu dem Pakt, den Ribbentrop und Molotow unterzeichnet hatten. Es sah die Zerlegung Osteuropas in eine deutsche und eine sowjetische Einflußzone und die Aufteilung Polens unter den beiden Ländern vor.

Die Grenzen, auf die man sich geeinigt hatte, sehen Sie auf der linken Karte. Die rechte zeigt, wie die Aufteilung dann tatsächlich erfolgte (für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild klicken):



Warum griff die UdSSR Polen nicht zugleich mit Deutschland an, sondern erst gut zwei Wochen später? Vermutlich gab es mehrere Gründe für die Verzögerung des sowjetischen Anteils an der gemeinsamen Invasion:

Die Sowjets waren in einen Grenzkonflikt mit Japan verwickelt. Sie brauchten außerdem Zeit für die Mobilisierung der Roten Armee. Drittens sahen sie - so hat es Molotow dem deutschen Botschafter von der Schulenburg erläutert - auch propagandistische Vorteile in der Verzögerung: Die Sowjets konnten ihr Eingreifen so damit begründen, daß der polnische Staat infolge der deutschen Invasion zerfalle und sie ihre dort lebenden Bürger schützen müßten. Ein weiterer Grund könnte gewesen sein, daß Stalin erst einmal abwarten wollte, wie die Westmächte auf den Kriegsbeginn reagieren würden.

Am 17. September marschierten die Sowjets mit einem massiven Truppenkontingent in Polen ein, das auf 450.000 bis eine Million Mann geschätzt wird. Die schwachen an der Ostgrenze stehenden polnische Truppen leisteten zunächst heftige Gegenwehr, hatten aber gegen die Invasoren keine Chance. Der polnische Oberbefehlshaber Edward Rydz- Śmigły, der zunächst den Widerstand befohlen hatte, ordnete daraufhin den Rückzug an. Dennoch gerieten zahlreiche polnische Soldaten in sowjetische Gefangenschaft (die Zahl wird mit zwischen 230.000 und 452.500 angegeben), von denen ein Teil allerdings bald wieder freigelassen wurde.

Die Sowjetunion annektierte das eroberte polnische Gebiet. Dessen 13,5 Millionen Einwohner wurden Sowjetbürger. Fortbestehender Widerstand wurde durch Exekutionen und Deportationen gebrochen. In vier Wellen der Deportation wurden zwischen 1939 und 1941 nach einer neueren Schätzung 320.000 Menschen nach Sibirien und in andere entfernte Teile der UdSSR verschleppt.

Die Gesamtzahl der Opfer der sowjetischen Annexion Ostpolens ließ sich bisher nicht eindeutig ermitteln. Eine aktuelle Schätzung nennt 150.000 Opfer; andere Schätzungen liegen weit höher.

Am Bekanntesten wurde das Massaker von Katyn, bei dem die Sowjets rund 22.000 Angehörige der polnischen Intelligenz ermordeten, die sie zuvor in Lager verbracht hatten. Die Exekutionen zogen sich vom April 1940 an über Wochen hin. Sie erfolgten in der Regel durch Genickschuß.

Das Massaker von Katyn war nur ein Teil einer umfassenden Ausrottungspolitik, der unter anderem rund die Hälfte aller polnischen Offiziere und ein großer Teil der Intellektuellen zum Opfer fielen. Die Absicht war es vermutlich, damit jeden künftigen Widerstand der Polen gegen die sowjetische Herrschaft von vornherein unmöglich zu machen.



In Deutschland war es in den vergangenen Jahrzehnten üblich, stets nur vom "deutschen Überfall auf Polen" zu sprechen. Die Polen haben das von vornherein anders gesehen; nur durften sie es bis zur Befreiung vom Kommunismus natürlich nicht offen äußern. Wenn heute der polnische Staatspräsident Kaczynski und Ministerpräsident Tusk vom deutsch- sowjetischen und nicht nur vom deutschen Überfall sprechen, dann geben sie damit nur die historische Wahrheit wieder.

Wäre es nicht an der Zeit, daß wir auch in Deutschland unsere Terminologie endlich dieser historischen Wahrheit anpassen?



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