16. Juli 2010

Marginalie: Doppelmoral und Prostitution in Schweden. Wie der der Minister Sven Otto Littorin sein Amt verlor

Es gab einmal eine Zeit, in der Schweden ein liberales Land war; auch was die sogenannte Sexualmoral angeht.

In Schweden hatte man, so sah es damals aus, ein natürlicheres Verhältnis zur Sexualität, weniger verkrampft und weniger bigott als vor allem in den katholisch geprägten Ländern Europas. Filme wie "Sie tanzte nur einen Sommer" (1951) und "Das Schweigen" (1963) unterstützten diesen Ruf. Schweden gehörte zu den ersten Ländern, die Anfang der siebziger Jahre das Verbot der Pornografie aufhoben.

Lang ist's her. Inzwischen ist Schweden eines der sexuell repressivsten Länder Europas geworden. Ein Signal dieser Kehrtwende war das "Gesetz zum Verbot des käuflichen Erwerbs sexueller Dienstleistungen" vom 1.1.1999. Darin heißt es:
Wer sich gegen Entgelt Gelegenheit zu sexuellen Handlungen verschafft, wird – sofern die Tat nicht nach dem Strafgesetzbuch mit Strafe bedroht ist – wegen käuflichen Erwerbs sexueller Dienstleistungen mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bestraft.
Prostituierte werden hingegen nicht bestraft.

Seither besteht in Schweden die absurde Situation, daß Frauen zwar frei der Prostitution nachgehen dürfen; daß aber jeder, der von ihrem Angebot Gebrauch macht, verfolgt und bestraft wird. Das ist ungefähr so, als hätte in den USA zur Zeit der Prohibition jedermann frei Alkohol verkaufen dürfen; nur wäre der Käufer bestraft worden.

Man hat die Sexualmoral im viktorianischen Zeitalter gern als eine Doppelmoral bezeichnet. Die Prostitution beispielsweise und vor allem die Prostitutierten wurden moralisch verurteilt; auf den Freier, der ihre Dienste in Anspruch nahm, fiel aber in der Regel kein Schatten. Sofern er unverheiratet war, "stieß er sich die Hörner ab". Dem Verheirateten wurde der Besuch bei einer Prostituierten meist nicht als "Seitensprung" angerechnet; es war ja schließlich keine Liebschaft.

Jetzt besteht in Schweden eine gesetzlich befohlene Doppelmoral mit umgekehrtem Vorzeichen: Nun ist es die Prostituierte, die keiner moralischen Verurteilung unterliegt und die ihrem Beruf frei nachgehen darf. Der Freier hingegen wird bestraft.



Er wird bestraft, so man ihn denn erwischt. Und das geschieht extrem selten.

In Deutschland wird der Anteil der Männer, die gelegentlich oder regelmäßig zu Prostituierten gehen, auf zwischen zwanzig Prozent und fünfundsiebzig Prozent geschätzt. Auf die Bevölkerung Schwedens übertragen wären das größenordnungsmäßig zwischen knapp einer Million und drei Millionen Männer.

Auch wenn man annimmt, daß die Zahl aufgrund des Verbots niedriger liegt, dürfte sie jedenfalls in die Hunderttausende gehen. Von diesen Männern wurden in den ersten drei Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes genau 62 Personen bestraft, also rund zwanzig pro Jahr; und zwar 29 mit einem Bußgeld ohne Gerichtsverfahren und 33 mit einer geringen Geldstrafe.

Im Jahr 2005 begannen aufwendige und systematische Fahndungsmethoden, was die Zahl der Verurteilungen auf 94 in diesem Jahr steigerte. Auch damit dürfte die Zahl der Verurteilten weit unter einem Promille der tatsächlichen Freier liegen.

Was also bewirkt dieses Gesetz? Natürlich dient es nicht der Bekämpfung der Prostitution; so wenig, wie die Prohibition in den USA den Alkoholkonsum beseitigte oder auch nur reduzierte. Sondern es drängt die Prostitution in den Untergrund; und vor allem: Es macht Männer erpreßbar. Es setzt sie, sofern sie eine Prostituierte aufgesucht haben, der Denunziation aus.

Beispielsweise, wenn sich ein Politiker im Wahlkampf befindet.

Demnächst wird in Schweden ein neuer Reichstag gewählt. Am 7. Juli trat der konservative Arbeitsmarktminister Sven Otto Littorin überraschend zurück; vorgeblich, um seine Kinder während eines laufenden Streits um das Sorgerecht vor Nachstellungen der Medien zu schützen.

In den vergangenen Tagen aber stellte sich heraus, daß offenbar noch etwas anderes hinter dem Rücktritt steckte: Beim schwedischen Aftonbladet hatte sich eine Prostitutierte namens Anna gemeldet, die angab, vor vier Jahren Littorin als Kunden gehabt zu haben.

Littorin bestreitet das. Aber der schwedische Ministerpräsident Reinfeldt hat bestätigt, daß der Bericht im Aftonbladet einer der Gründe für Littorins Rücktritt gewesen war.

Es ist wieder wie in der guten alten Zeit der viktorianischen Doppelmoral. Solange alles unter der Decke bleibt, gehen Männer selbstverständlich weiter zu Prostituierten, wie sie es immer getan haben und immer tun werden. Aber eine repressive Sexualmoral kann jedem die Karriere, wenn nicht die Existenz kosten, wenn es "herauskommt".

Den preußischen Diplomaten Eulenburg kostete einst der Vorwurf der Homosexualität Ansehen und Karriere. Mehr als ein Jahrhundert später hat jetzt Schweden wieder denselben Stand der Bigotterie und Heuchelei erreicht.



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