1. Juli 2010

Wahl des Bundespräsidenten: Die Partei "Die Linke" ist gestern salonfähig geworden. "Karl Marx hätte seine helle Freude an unserer Partei!"

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als gehörten die deutschen Kommunisten zu den Verlierern jener neun Stunden, deren es gestern bedurfte, um Christian Wulff zum Bundespräsidenten zu wählen.

Die Partei "Die Linke" stand zwischen dem zweiten und dem dritten Wahlgang vor der Entscheidung, Gauck mitzuwählen, was - so sah es jedenfalls vor diesem Wahlgang aus - möglicherweise zu dessen Sieg oder vielleicht einem Patt hätte führen können; oder aber bei ihrer Linie zu bleiben und die Kandidatur von Lukrezia Jochimsen aufrechtzuerhalten.

Für diese letztere Entscheidung sprach, daß in der einstigen Staatspartei der DDR eine tiefe Abneigung gegen alles herrscht, wofür Gauck steht - Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft, Aufarbeitung der DDR-Verbrechen. Seit seiner Nominierung hatte darüber hinaus Joachim Gauck nichts getan, um auf die Kommunisten "zuzugehen"; er hatte sie im Gegenteil schonungslos charakterisiert (siehe Joachim Gauck über die Partei "Die Linke"; ZR vom 26. 6. 2010).

Aber es sprach auch viel dafür, daß man über seinen Schatten springen und diesen "konservativen Neoliberalen" dennoch zähneknirschend wählen sollte. Dafür sprach, daß man sich eine solche Entscheidung von den Rotgrünen würde abhandeln lassen können; als Schritt in Richtung auf gemeinsame Volksfront-Regierungen in westdeutschen Bundesländern und schließlich, nach den Wahlen 2013, im Bund.

Die kommunistischen Wahlleute schafften es nicht, sich zwischen diesen beiden Alternativen zu entscheiden. Sie zogen einerseits die Kandidatin Jochimsen zurück; verzichteten also darauf, weiter Flagge zu zeigen. Sie schwenkten andererseits nicht zu Gauck über, sondern ihre Wahlleute enthielten sich fast alle der Stimme. Ein Verhalten, dessen alleiniger Sinn es war, zu verbergen, daß man keine einheitliche Linie hatte finden können. Die Enthaltung war der kleinste gemeinsame Nenner gewesen.



Aber daß damit die Kommunisten zu den Verlierern des gestrigen Tages gehören, stimmt nur an der Oberfläche. Denn es hat sich etwas abgespielt, was in der deutschen Politik bisher ohne Beispiel ist: Zwei demokratische Parteien haben auf Bundesebene nicht nur mit den Kommunisten über ein Zusammengehen gesprochen, sondern sie haben darum regelrecht gebuhlt.

Nach dem zweiten Wahlgang nämlich traf man sich in illustrer Runde: Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier von der SPD; Renate Künast, Jürgen Trittin, Claudia Roth und Cem Özdemir als die doppelte Doppelspitze der Grünen; für die Kommunisten deren nominelle Vorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst sowie die wahren Chefs Gregor Gysi und Oskar Lafontaine.

"Die Gesprächsatmosphäre wird als konstruktiv beschrieben" heißt es dazu in dem heutigen Bericht der FAZ, in dem Mechthild Küpper, Stephan Löwenstein und Majid Sattar die gestrigen Ereignisse schildern. Das Verhalten der Vertreter von SPD und Grünen im Vorfeld des Treffens mit den Kommunisten wird dort so beschrieben:
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel verfolgte eine Doppelstrategie: keine Häme in Richtung bürgerliche Koalition und emphatische Appelle in Richtung Linkspartei. (...) Die Linkspartei habe nun die einmalige Chance, die DDR-Vergangenheit hinter sich zu lassen und in der Bundesrepublik anzukommen. (...)

Als fröhlich und gelöst wird die Stimmung bei den grünen Delegierten beschrieben (...) "Sehr pädagogisch" müsse man mit den Linken reden und sie fragen, ob sie wirklich Schwarz-Gelb stabilisieren wollten, sagt der eine Fraktionsvorsitzende, Trittin. Die andere Fraktionsvorsitzende, Künast, zitiert (ohne allerdings die Melodie anzustimmen) ein Lied aus der Zeit der Demonstrationen gegen neue Atomkraftwerke: "Auf welcher Seite stehst du hier" - so müsse man auch die Linkspartei jetzt fragen.
Die Wahl eines Bundespräsidenten ist bekanntlich manchmal die Weichenstellung für eine neue Koalition. So, als 1969 die SPD (damals noch in der Großen Koalition) und die FDP (in der Opposition) gemeinsam Gustav Heinemann wählten; so, als 2004 noch zur Zeit der rotgrünen Regierung die Union und die FDP ein Bündnis zur Wahl Horst Köhlers schlossen.

So hätte es nach dem Willen der SPD und der Grünen auch bei der jetzigen Wahl laufen sollen: Im Volksfront-Bündnis mit den Kommunisten wollten sie Joachim Gauck zum Bundespräsidenten machen. Sie waren nicht nur bereit, hinzunehmen, daß ihr Kandidat auch mit den Stimmen der Kommunisten gewählt werden würde; sondern sie verhandelten mit diesen regelrecht darüber.

Laut FAZ war ein Problem, daß man aber als Gegenleistung "nichts zu bieten" hatte, etwa Regierungsbeteiligungen in Erfurt und/oder in Düsseldorf. Eine bezeichnende Anekdote aus dem Bericht der FAZ:
Nun wird mit der Linksfraktion verhandelt. Kurze Fraktionssitzung, die Hannelore Kraft, die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende verpasst, weil sie Interviews gibt. Sie wird mit den Worten empfangen: "Die Linke stimmt für Gauck, Du musst denen aber in Düsseldorf zwei Ministerien geben!" Frau Kraft stockt der Atem. "Ein Witz, Hannelore, ein Witz!"
Kein Witz ist es, daß die deutschen Kommunisten gestern auch auf Bundesebene als potentieller Partner von Rotgrün salonfähig geworden sind. Mit der "Gemeinsamkeit der Demokraten", die seit Gründung der Bundesrepublik gegolten hatte - alle demokratischen Parteien sind untereinander koalitionsfähig; keine wird mit einer extremistischen Partei zusammenarbeiten - ist es seit gestern vorbei.



Ja, aber ist denn die Partei "Die Linke" wirklich eine extremistische Partei? Ist es nicht kruder, verstaubter Antikommunismus, wenn ich sie beharrlich als "die Kommunisten" bezeichne?

Schön wäre es, wenn die Partei "Die Linke" nicht mehr kommunistisch wäre. Sie ist es aber nach wie vor. Ihr langjähriger Vorsitzender Lothar Bisky ist jetzt Vorsitzender der europäischen Vereinigung kommunistischer Parteien "Europäische Linke"; siehe Lothar Bisky, Vorsitzender von zwei Parteien; ZR vom 1. 9. 2008. Und auch die heutige Vorsitzende Gesine Lötzsch verbirgt gar nicht, daß sie eine stramme Kommunistin ist.

Vielleicht ist es Ihnen, wenn sie gestern die TV-Berichterstattung zur Bundesversammlung verfolgt haben, aufgefallen: Lötzsch, SED-Mitglied seit 1984, benutzt weiter den Jargon der DDR-Nomenklatura. Sie hat beispielsweise von ihrer Fraktion in der Bundesversammlung als "Delegation" gesprochen; sie hat gesagt, man "schätzt ein, daß", eine typische SED-Formulierung.

Nun gut, das sind Äußerlichkeiten. Aber wenn man nachsieht, was Gesine Lötzsch in letzter Zeit zu den Zielen ihrer Partei gesagt hat, dann kommt Substantielleres zum Vorschein.

Anläßlich des Geburtstags von Karl Marx hielt Gesine Lötzsch am 5. Mai dieses Jahres eine Rede, in der sie dies sagte:
Doch ich will meine Zeit nicht mit der CDU oder der FDP verschwenden, mir ist meine Partei, DIE LINKE, viel wichtiger! Dazu ein Brief von Karl Marx an Bracke 5.5.1875: "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme." (...) Ich habe keine Sorge. Unsere Partei ist die jüngste, die dynamischste und lernfähigste Partei in Deutschland. Karl Marx hätte seine helle Freude an unserer Partei!
Wohl wahr. Zumal diese Partei, zumal jedenfalls ihre gegenwärtige Vorsitzende gar keinen Hehl mehr daraus macht, daß sie "einen zweiten Sozialismusversuch wagen" will.

Am vergangenen Wochenende fand in Berlin eine "Konferenz Sozialistische Politik zur Überwindung des Finanzmarktkapitalismus - Schritte zu einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts" statt, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der parteinahen Stiftung der Partei "Die Linke".

Lesen Sie einmal das Programm; dann werden Sie verstehen, wie ernst es den deutschen Kommunisten mit "sozialistischen Transformationsperspektiven", mit "antikapitalistischer Umgestaltung", mit einem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist. Auch Gesine Lötzsch hat auf dieser Konferenz einen Vortrag gehalten; auszugsweise hat ihn die "Junge Welt" gestern dokumentiert. Darin sagte Lötzsch:
Über neue Ansätze sozialistischer Transformations-perspektiven zu sprechen heißt nicht unbedingt, in die Zukunft oder in ferne Länder zu schweifen. Wir können uns unser Leben hier und jetzt anschauen und verschüttete und neue sozialistische Ansätze finden. (...)

Ich erlebe, daß sich Menschen mit eingezogenem Kopf der Diskussion um die Geschichte der Linken stellen und bereit sind, sich für Dinge zu entschuldigen, für die man sich nicht entschuldigen muß. Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, daß unsere Väter und Mütter nach dem Zweiten Weltkrieg versucht haben, eine Gesellschaft auf deutschem Boden ohne Krieg und Ausbeutung aufzubauen. Dieser Versuch war absolut legitim. (...)

Es ist nicht immer angenehm, sich mit seinen eigenen Fehlern auseinanderzusetzen, doch es führt kein Weg daran vorbei, wenn man einen zweiten Sozialismusversuch wagen will. Wir können dieses Erbe nicht ausschlagen. Wir würden einen großen Fehler machen, wenn wir die Bewertung des ersten Sozialismusversuchs einfach unseren politischen Gegnern überließen.
So sieht sie das, die Vorsitzende Gesine Lötzsch; so sehen es vermutlich die meisten in ihrer Partei: Die DDR war ein legitimer "erster Sozialismusversuch", bei dem freilich Fehler gemacht wurden. Jetzt steht ein "zweiter Sozialismusversuch" auf der Tagesordnung, bei dem man diese Fehler vermeiden wird.



Wie ist es möglich, daß die beiden grundgesetztreuen Parteien SPD und "Die Grünen" bereit sind, mit einer solchen Partei zusammenzuarbeiten, jetzt auch auf Bundesebene? Ich weiß es nicht.

Vielleicht gibt es auch in diesen Parteien genug einflußeiche Befürworter eines "zweiten Sozialismusversuchs"; einer neuen DDR 2.0, in der die "Fehler" der DDR 1.0 vermieden werden sollen. Vielleicht herrscht in diesen beiden Parteien auch nur der blanke Opportunismus. Man will an die Macht, und dafür ist man bereit, auch die Kommunisten an die Macht zu lassen.

Karl Marx hätte in diesen Tagen seine helle Freude wohl nicht nur an den deutschen Kommunisten, sondern auch an ihren Unterstützern in der SPD und in der grünen Partei.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Karl Marx (1882). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.