31. August 2010

Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero

Manchmal ist es gut, wenn man eine Sendung nicht live sieht, sondern sie aufzeichnet und sie dann beim Ansehen ein wenig mit Stoppuhr und Notizblock sezieren kann. Das habe ich heute Vormittag mit Beckmanns gestriger Sendung mit und über Thilo Sarrazin gemacht.

Hier die Einzelwertung:

Beckmann: War kein eigentlicher Moderator (moderare - ausgleichen, lenken), sondern hat von Anfang an klargemacht, dass er parteiisch ist und von Sarrazins Thesen nichts hält. Dementsprechend fiel er Herrn Sarrazin ständig ins Wort und übertönte ihn dabei deutlich. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, dass sein Hauptgast sehr langatmig formulierte, was einer Diskussion doch sehr abträglich ist. Man hätte mindestens einen weiteren Befürworter einladen müssen.

Zusammensetzung der Diskussionsrunde: "Acht gegen Thilo", wobei der "Moderator" leider mit eingerechnet werden muss. Bei einer ausgewogenen Runde hätte es zwei oder drei Parteien gegeben, deren Gespräch Beckmann hätte leiten müssen. Das war hier nicht der Fall.

Zeitkontingent der Gesprächsbeiträge: Sarrazin hatte 20 min Redezeit (handgestoppt) von den 90 min Sendezeit, wobei ihm allerdings ständig dazwischengeredet und er dadurch übertönt oder unterbrochen wurde.

Häufigkeit der Redebeiträge: Hier habe ich nur diejenigen gezählt, die klar erkennbar waren, also zugeteilte Redezeit sowie ungestörte Antworten, keine Zwischenrufe:
1. Sarrazin: 8
2. Yogeshwar: 6
3. Künast: 5
5. Özkan: 4
5. Scholz: 4
8. Graumann (MAZ): 1
8. Foroutan: (Zuschaltung): 1
8. Sonnenburg (Gast): 1
Das ergibt ein Netto-Verhältnis von 8:22 (1:2,75) gegen Sarrazin. Wenn man Beckmanns Redebeiträge noch dazu addieren wollte, käme man bei dessen rund 10 längeren Beiträgen auf ein Brutto-Verhältnis von ca 1:4. Das würde ich nicht als ausgewogen bezeichnen.

Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit: Hier bin ich natürlich meiner subjektiven Meinung unterworfen, habe mir aber ein paar Notizen gemacht, die diesen Eindruck konkretisieren:
Sarrazin: Temperamentsunterkühlt, sachlich, hält sich an den Zahlen aus seinem Buch fest. Manchmal zu faktenhuberisch.

Yogeshwar: Glänzt als Diskussionspartner, bringt seine Beiträge sympathisch rüber, ist aber sichtlich erfreut, seine Gegenthesen aus dem Schutz der Masse heraus vorbringen zu können. Seine Argumentation zieht er aus der Toolbox der veröffentlichten Meinung. Er bringt z.B. das Mantra vom verstärkten Fördern, welches alles gut werden ließe - obwohl Sarrazin plausibel dargelegt hatte, dass es nicht am Geld hapert, sondern bei den Eltern und ihrer Kultur.

Albern war das Experiment, von dem er berichtete: Er hatte gestandenen Akademikern irgendwelche Tests für die 9. Klasse vorgelegt, und diese schnitten dabei schlecht ab. Was sollte das beweisen? Dass Akademiker ohne Vorbereitung nicht unbedingt im Stoff der 9. Klasse stecken? Lächerlich.

Verwundert hat mich auch, dass er Sarrazin vorwarf, zunächst eine These aufzustellen und diese erst dann auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen. Wie würde er vorgehen, Ranga Yogeshwar? Erst einmal frei herumanalysieren, bis sich irgendwann eine These formt? Sarrazin ist exakt so vorgegangen, wie es Wissenschaftler in ihrer Ausbildung lernen: Man formuliert eine Hypothese und prüft sie im nächsten Schritt an den Fakten.

Graumann: Indiskutabler Verbandsfunktionär. Ein Berufsempörter mit lächerlicher Haartracht ... ich habe mir kein Wort von dem gemerkt, was er sagte.

Künast: Wie immer laut und quakig. Für ihre Verhältnisse aber oft zurückhaltend; mit dauerverkniffenem Gesichtsausdruck dasitzend. Ansonsten: Von der Grünen nichts Neues. Hauptaussage: Wie können sie nur!? Unangenehm, aber erwartbar: Alle Religionen haben ... und die Christen haben schließlich die Kreuzzüge...! Der Aufruf an Sarrazin, seine Bucherlöse doch zu spenden, war ja wohl völlig daneben. Talkshowgemüse.

Özkan: Gibt zu, das Buch nicht gelesen zu haben; kennt nur die Auszüge. Braucht keine Statistiken, denn sie kennt ja die Menschen. Bringt als Gegenbeispiel zu Sarrazins Zahlen sich selbst. "Meine Eltern sind vor 60 Jahren hier eingewandert, und ich hab Abitur!"

Lustig fand ich ihren Beitrag zum Thema Bewerbungen: Migranten werden bei Bewerbungen diskriminiert, weil die Arbeitgeber "zeugnishörig" sind und die interkulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit gering schätzen. Gerade vorher wurden die Ärmsten noch bedauert, weil sie weder deutsch noch türkisch können. Lacher.

Scholz: Zwiespältig. Man kenne die Zahlen; er braucht das Buch nicht. Vertrat wohl nicht seine Meinung, sondern die vorgefertigte Meinung des Medien- und Parteikartells. Bei der Frage nach dem Parteiausschluss war er ganz Parteisoldat. Seine halbherzigen Angriffe auf Sarrazin erschienen mir so, als folge er einer Doktrin.

Foroutan: Ganz schlimm. Bewegt sich beruflich in einem sozio-politischen Forschungskomplex, den es ohne die Moslem-Problematik gar nicht gäbe. Macht optisch was her und fühlt sich trotzdem als Halbperserin auf der Straße diskriminiert. Ich hätte ihr das spontan gar nicht angesehen.

Operiert mit merkwürdigen Zahlen. Laut Selbstauskunft sind 84% der hier lebenden Türken und Araber davon überzeugt, gute bis sehr gute Deutschkenntnisse zu besitzen. Ferner würden 18% der Türken in Deutschland die Schule mit Abitur abschließen, während in den 60er Jahren die Abiturquote der Migranten lediglich 3% betragen habe. Dies entspricht laut Frau Foroutan einer Steigerung um 900%!

Nebenbei sei erwähnt, dass ich in den letzten Tagen verschiedene Zahlen zur Abiturquote bei Türken in Deutschland gesehen habe. 18% kamen dort nicht vor; die Werte lagen stets bei 7-8%. In Sarrazins Buch habe ich auf Anhieb nichts zur Abiturquote gefunden, aber immerhin die Zahlen zu Hochschulabschlüssen von Türken in Deutschland. Bei Türken sind es gerade einmal 2% im Gegensatz zu 20% bei Deutschen.

Sonnenburg: Der Streetworker. Klang ganz vernünftig und arbeitet immerhin an der Basis. Ist aber ein Vertreter einer Zunft, die direkt davon abhängig ist, dass das Problem nicht verschwindet, sondern dass man ewig weiter an den Symptomen rumdoktern kann. Ansonsten eine ehrliche Haut; ein Mann, der sich engagiert. Es würde mich freuen, wenn er und Sarrazin wirklich einmal in seiner Einrichtung zusammentreffen würden, wie das in der Sendung angesprochen wurde.

Zwei Sachen fand ich ich bei seinem Auftritt ganz witzig:

Erstens die Antwort auf die Frage, was türkisch/arabische Jugendliche denn wohl empfinden würden, bei Sarrazins Buch. Antwort: Wut.
Kleine Anekdote dazu: Vor ein paar Tagen war ein brandenburger Radiosender in Neukölln oder Kreuzberg unterwegs, um die Stimmung unter den Jugendlichen einzufangen (Lächerlicherweise hat der Reporter sich vorher noch umgezogen, weil er zu seiner schwarzen Hose ein rotes Hemd und eine gelbe Umhängetasche getragen hatte. Er wollte ja nicht provozieren, ha ha). Die Antworten der Jugendlichen waren in dieser Art: "Wer?", "Thilo was?", "Nee, kenn isch nisch.", "Klingt italienisch irgendwie, aber weiß nisch" und so fort.

Da musste man dann schließlich auf irgendwelche Geschäftsleute zurückgreifen, die die gewünschte Empörung auch verbal artikulieren konnten.
Zweitens fiel mir bei Sonnenburg die Hervorhebung des interkulturellen Miteinanders unter deutschen und muslimischen Jugendlichen auf: "Klar, natürlich interessieren sich die Jungs für deutsche Mädchen!" Ähm, Kunststück, wenn hinter Fatima und Aishe eine Horde Brüda und Cousins mit schlagkräftigen Argumenten lauert. Da hat sich Sonnenburg als verblendeter Multi-Kulti-Naivling geoutet.
So, nun bin ich ja mal auf Plasberg am Mittwoch gespannt.



© Calimero. Für Kommentare bitte hier klicken.

30. August 2010

Marginalie: Falls Sie die heutige Sendung "Beckmann" mit Thilo Sarrazin nicht gesehen haben, können Sie das nachholen

Vor wenigen Minuten ist in der ARD die vom NDR produzierte Sendung Beckmann mit und über Thilo Sarrazin zu Ende gegangen.

Aus meiner Sicht war das eine der bemerkenswertesten Sendungen in der Geschichte der ARD. Ich möchte deswegen diejenigen, die sie nicht gesehen haben, darauf aufmerksam machen, daß sie unter der verlinkten Adresse als Video zur Verfügung steht und daß sie der NDR jetzt gleich (in der Nacht vom 30. 8. auf den 31. 8.) um 0.40 Uhr wiederholt.

Falls Sie die Sendung noch sehen (oder auch, wenn Sie sie schon gesehen haben), möchte ich Sie einladen, sich diese drei Fragen zu stellen:
  • Finden Sie, daß die Diskussionsrunde einschließlich der zugeschalteten Interviewpartner ausgewogen zusammengesetzt war?

  • Hat der Moderator sich gegenüber Sarrazin fair verhalten?

  • Wurden die Thesen Sarrazins sachlich und ernsthaft diskutiert?



  • Weitere Artikel zu Sarrazin:

  • Der "Fall" Thilo Sarrazin. Einige Fakten und Materialien; ZR vom 6. 10. 2009 (zur ersten Debatte über Sarrazin vor knapp einem Jahr)

  • Zitat des Tages: Thilo Sarrazin und ein Käfig voller Feiglinge. Peter Sloterdijk und der Zeitgeist; ZR vom 23. 10. 2009 (ebenfalls)

  • Zitat des Tages: Thilo Sarrazin über Einwanderungspolitik; ZR vom 22. 8. 2010

  • Zettels Meckerecke: Pawlow'sche Reflexe. Diffamierungen statt einer Auseinandersetzung mit den Thesen von Thilo Sarrazin; ZR vom 25. 8. 2010

  • Gedanken zu Frankreich (35): Sarkozy und Sarrazin. Umgang mit Einwanderung und nationaler Identität diesseits und jenseits des Rheins; ZR vom 26. 8. 2010

  • Zitat des Tages: "Dauernd unterhielten sich die Leute über das Sarrazin-Buch". Nebst einer Erinnerung an Wallraffs Bestseller vor 25 Jahren; ZR vom 28. 8. 2010

  • Marginalie: Sarrazin - jetzt wird's richtig häßlich. Nebst einem Nachtrag für alle, die Sarrazins Buch (erste Auflage vergriffen) noch nicht haben; ZR vom 30. 8. 2010

  • Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (1): Plädoyer für eine vernünftige Diskussion. Warum ich diese Serie schreibe; ZR vom 30. 8. 2010



  • © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (1): Warum ich diese Serie schreibe. Plädoyer für eine vernünftige Diskussion

    Heute wird Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" offiziell vorgestellt; um 11 Uhr im Haus der Bundespressekonferenz. Diese Veranstaltung wird vom Sender "Phoenix" übertragen.

    Das Ereignis wird wahrscheinlich ab Mittag in den Schlagzeilen sein, denn ein obskures, aber vermutlich im Wortsinn tatkräftiges "Bündnis 'Rechtspopulismus stoppen'" hat angekündigt, man werde "das nicht hinnehmen" und für 10 Uhr zum "Protest gegen diese Pressekonferenz vor dem Haus der Bundespressekonferenz (Schiffbauerdamm 40)" aufgerufen.

    Krawalle sind also nicht unwahrscheinlich. Krawalle, die der vorläufige beklemmende Höhepunkt einer jetzt eine Woche andauernden Reaktion auf das Buch von Sarrazin sein würden. Von Reaktionen, die ganz überwiegend jede Sachlichkeit vermissen ließen; siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010 und Sarrazin - jetzt wird's richtig häßlich; ZR vom 29. 8. 2010.

    Wie kommt das? Woher kommt diese Aufregung, diese maßlos überzogene Reaktion (bisheriger Höhepunkt: Guido Westerwelles Behauptung, Sarrazin würde "Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten")?

    Es ist eine seltsame, eine im höchsten Grad merkwürdige Reaktion, wenn man sich diese Fakten vergegenwärtigt:
  • Dr. rer.pol. Thilo Sarrazin war Spitzenbeamter in SPD-geführten und CDU-geführten Bundesregierungen. Er war während der sozialliberalen Koalition Büroleiter, also der engste Mitarbeiter, der SPD-Finanzminister Matthöfer und Lahnstein.

    Sarrazin war zur Zeit der Wiedervereinigung Leiter desjenigen Referats im Finanzministerium, das die deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vorbereitete. Er war Spitzenmanager bei der Deutschen Bahn. Er war Berliner Finanzsenator in Klaus Wowereits Koalition mit der PDS. Er ist jetzt im Vorstand der Bundesbank.

    Sarrazin ist ein Sozialdemokrat seit 1973, an dessen Überzeugungen sich, wie er sagt, seither nur das geändert hat, "was sich durch Alter und Zeitablauf ändert. Ich bin ein Anhänger sozialer Gerechtigkeit, ich möchte optimale Chancengleichheit für die Menschen in Deutschland".

  • Sarrazins Buch erscheint in der renommierten Deutschen Verlagsanstalt (dva). Vorgestellt wird es heute von der Sozialwissenschaftlerin Dr. Necla Kelek, Trägerin des Geschwister-Scholl-Preises und laut dem Chef des Berliner Büros des "Spiegel", Dirk Kurbjuweit, eine Autorin, die "all die Begriffe verteidigt, die das Fundament der Gesellschaft in Deutschland bilden: Freiheit, Demokratie, Aufklärung, säkulare Ordnung, Bürgergesellschaft".
  • Nicht wahr, das alles deutet nicht darauf hin, daß Sarrazin ein Mann ist, der dem Rassismus und dem Antisemitismus Vorschub leistet, der "diffamierend und verletzend" schreibt, der "Haßtiraden" verbreitet und "sprachlich gewalttätige Aussagen" in einer "wirre[n] Mischung" verbreitet. (Die Autoren dieser Stellungnahmen finden Sie in den beiden oben verlinkten Artikeln in ZR).

    Und auch Sarrazins Buch und seine Interviews geben keinen Anlaß zu solchen Kennzeichnungen. Lesen Sie das erste, einleitende Kapitel des Buchs, das Amazon zur Verfügung stellt. Beim Verlag dva können Sie sogar das gesamte Buch nach jedem beliebigen Stichwort durchsuchen.



    Woher also diese Aufgeregtheit, diese so irrationalen Reaktionen von Politikern und auch Journalisten? Man kann da nur spekulieren. Ich sehe im wesentlichen zwei miteinander zusammenhängende Gesichtspunkte.

    Mein Eindruck ist zum einen, daß Sarrazin eine Grundlage der mehrheitlichen Überzeugung seit Bestehen der Bundesrepublik in Frage stellt; einen Konsens, der wesentlich unsere heutige deutsche Identität bestimmt: Die Überzeugung, daß diese Bundesrepublik, indem sie sich konsequent gegen das Erbe des Nationalsozialismus gestellt hat, ein heiles, ein immerwährend prosperierendes Land geworden ist, ein Land ohne die inneren Konflikte, die andere Länder schütteln.

    Als friedfertig, sozial, gastfreundlich gegenüber Fremden sehen wir uns. Kurz, vorbildlich. Für die Last des Nationalsozialismus, die auf unserem Gewissen lastet, für diese nationale Schande entschädigen wir uns mit diesem Autostereotyp eines heutigen Musterlandes. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, wieder einmal.

    Hinzu kommt: Wir waren sechzig Jahre erfolgreich, warum also nicht auch in Zukunft? Wir sind ein weltweit beneideter Sozialstaat, warum sollen wir das nicht weiter sein können? Wir nehmen seit Jahrzehnten bereitwillig Einwanderer auf; und wo sind Konflikte wie diejenigen, die sich zum Beispiel in Frankreich von Zeit zu Zeit in Krawallen in der Banlieue entladen?

    Kurzum, wir machen doch alles richtig, wir Deutschen. Diese Überzeugung scheint mir der Hintergrund für die hochgradig affektiv geladene Ablehnung von Sarrazins Thesen zu sein. Denn just das alles stellt Sarrazin in Frage. Er zeichnet ein beklemmendes, ein düsteres Bild der deutschen Zukunft. Er benimmt sich wie ein Familienmitglied, das auf einmal loslegt und alle Lebenslügen der Familie beim Namen nennt. Da liegen schnell die Nerven blank.

    Das andere ist, daß die Thesen Sarrazins bei verschiedenen Themen Dasjenige kritisch in Frage stellen, was man eine Verkehrung des Nationalsozialismus ins Gegenteil nennen könnte. (Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und wird dort teilweise in einer engeren Bedeutung verwendet).

    "Nie wieder!" - das war zu Recht sozusagen der Rütli-Schwur, aus dem heraus die Bundesrepublik Deutschland entstand. Man wollte sich in allem, in jeder Hinsicht gegen die Barbarei der Nazis wenden; was in den ersten Jahrzehnten nach 1945 sicherlich auch eine dringende Notwendigkeit war. Aber oft genug ersetzte man den einen, barbarischen Extremismus durch einen anderen Extremismus; ungleich sympathischer gewiß, ungleich humaner und friedfertiger, aber auf seine Art eben doch auch ein Extremismus:
  • Die Nazis hatten der Vererbung eine ganz abwegig große Bedeutung beigemessen. Also wurde nun das Thema Vererbung tabuisiert; jedenfalls was die Vererbung von Persönlichkeitsmerkmalen wie der Intelligenz angeht. (Zitat aus dem eingangs verlinkten Aufruf: "Ganz im Sinne bereits früher gemachter unsäglicher Äußerungen über eine angebliche Vererbbarkeit von Intelligenz").

  • Die Nazis waren auf eine mörderische Art fremdenfeindlich. Also will man jetzt um jeden Preis fremdenfreundlich sein. Man hat schon im Kindergarten gelernt, daß man Fremde nicht diskriminieren darf, sondern nett zu ihnen sein muß und immer hilfsbereit. Jede kritische Äußerung über Fremde, über Einwanderer zumal, wird als unmoralisch, als Verletzung von Anstand und Ethik wahrgenommen.

  • Die Nazi-Ideologie räumte der Demographie einen breiten Raum ein. Die beabsichtigte Annexion und Entvölkerung von Teilen Osteuropas wurde beispielsweise damit begründet, daß eine wachsende deutsche Bevölkerung "Lebensraum" brauche. Die Reaktion auf diese inhumane und natürlich indiskutable Art von demographischem Denken bestand darin, die Demographie überhaupt zu tabuisieren; sie jedenfalls an den Rand zu drängen. Das dramatische Schrumpfen der deutschen Bevölkerung, das unsere Zukunft prägen wird wie kaum ein anderer Sachverhalt, wird mit einem Schulterzucken abgetan.

  • Und schließlich waren die Nazis nicht nur Nationalisten, sondern ihr Nationalismus war ein Imperialismus, gerichtet vor allem gegen die als "minderwertig" eingestuften Völker des Ostens. Die Reaktion darauf war und ist, schon das Wort "deutsche Nation" als anstößig zu empfinden und sich der Frage nach unserer nationalen Identität (eine Frage, die seit Monaten in Frankreich intensiv diskutiert wird; siehe Sarkozy und Sarrazin; ZR vom 26. 8. 2010) gar nicht erst zu stellen.
  • Es fanden Verkehrungen ins Gegenteil statt. Die eine extreme ideologische Position wurde durch die andere, diametral entgegengesetzte extreme ideologische Position ersetzt. Wie gesagt, ungleich sympathischer; aber eben doch extrem.

    Das Heilmittel gegen Extremismus ist aber nicht dessen Negativ, sondern eine vernünftige, skeptische Art des Herangehens.



    Zu einer solchen Betrachtung der Thesen Sarrazins möchte ich mit dieser Serie beitragen. Ich werde sie nacheinander unter die Lupe nehmen und zu zeigen versuchen, was nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung von ihnen zu halten ist.

    Ist Intelligenz wirklich "zu fünfzig bis achtzig Prozent vererbt"? Stimmt es, daß "alle Juden dasselbe Gen teilen"? Stimmt andererseits die in der Presse verbreitete Gegenthese zu Sarrazin, daß schon ab der zweiten Generation "Migranten nicht mehr Kinder bekommen als Deutsche"?

    Wie man sich denken kann, sind die wissenschaftlichen Antworten auf solche Fragen nicht immer eindeutig. Aber es sind doch jedenfalls wissenschaftliche Fragen, die man empirisch beantworten kann, statt in sein ideologisches Schatzkästlein zu greifen und die Antwort aus diesem hervorzuziehen.

    Und wenn man an solche Fragen wissenschaftlich herangeht, dann verfliegen auch meist die Affekte. Nichts hilft besser gegen die Irrationalität, zu der wir alle neigen - die einen mehr, die anderen weniger - , als sich in Zahlen, Fakten, Berechnungen zu vertiefen.



    Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet.

    29. August 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: Jetzt sprechen Kachelmanns Frauen. Was ist uns Kachelmann? Über Interesse und Erkenntnis

    Ist das ein Thema für ZR? Nein. Dieser Blog hat zwar ein ziemlich breites Themenspektrum. Aber auf das Niveau der Klatschpresse wollen wir uns doch nicht begeben, nicht wahr, lieber Leser?

    Was haben uns Kachelmanns Frauen zu interessieren; was sie mit ihm erlebt haben, wie sie über ihn denken? Ob sie ihn immer noch lieben oder mittlerweile hassen?

    Und doch, und doch.

    Als ich heute das aktuelle Angebot von sueddeutsche.de durchsah, fiel mein Blick auf den Namen Kachelmann in einem verlinkten Artikel, und das war dieser. Mit einer Überschrift, länger als die barocken Titel der Artikel in ZR; oder ist es schon der Vorspann? Egal, lesen Sie:
    Wer hat Angst vor Jörg Kachelmann? Er ist frei, sein Ruf für alle Zeiten ruiniert. Ob ihn Schuld trifft, wissen wir nicht. Wir können nur fragen, was für ein Mensch er eigentlich ist. Hier erzählen zum ersten Mal die Frauen seines Lebens, was sie wissen. Von Gabriela Herpell, Susanne Schneider und Jonas Leppin
    Und das in einem Layout, als befänden wir uns bei "Emma" seligen Angedenkens (oder gibt es sie noch?); alles in ein sattes Lila getaucht.

    Spätestens da hätte ich mich eigentlich mit Grausen abwenden müssen. Ich verabscheue Home Stories und Human Touch. Ich habe keine Ahnung, wie die Lage in den europäischen Königshäusern ist, außer daß ich Namen wie Harald und Mette-Marit nicht entgehen kann; aber fragen Sie mich nicht, wer in welches Land gehört und wer mit wem verheiratet ist. (Jedenfalls wird dort offenbar fleißig geheiratet, so viel bekomme ich mit. Hoffentlich erfüllen alle diese Ehen auch ihren Zweck, damit wenigstens die Royals etwas dagegen tun, daß Europas Bevölkerung schrumpft).

    Also wer mit wem und warum und wie - das interessiert mich ungefähr so sehr, wie was es heute bei der Familie Kurt Beck zu Mittag gibt. Aber Kachelmanns Frauen, das hat mich interessiert, seltsamerweise. Ein großer Artikel ja auch. Das dreiköpfige Autorenteam hat nicht weniger als 18 von ihnen aufgespürt, Freundinnen oder auch Kolleginen, und hat sie dazu gebracht, sich zu äußern über ihren verflossenen Kachelmann.

    Und was nun sagen diese Frauen? Was ist herausgekommen bei der Lektüre, zu der ich mich habe verleiten lassen? Im Grunde nichts.

    Kachelmann wird genau so geschildert, wie man das erwarten konnte: Ein Charmeur, liebevoll und einfühlsam. Ein intelligenter und arbeitsamer Mensch. Sentimental und zugleich verschlossen. Redegewandt und humorvoll. Ein Egomane, der keine Kritik an sich heranläßt. Einer, der andere Menschen bezaubert und sie manipuliert.

    Wir haben es geahnt.



    Aber warum wollen wir es wissen? Gut: Warum wollte ich es wissen?

    Es muß da wohl eine eigenartige Form der Wißbegier geben; ich habe keine Ahnung, ob Psychologen das schon erforscht haben: Sobald uns ein Mensch beschäftigt, wollen wir alles über ihn wissen. Interesse gebiert Erkenntnis; jedenfalls den Wunsch nach Erkenntnis, wie trivial auch immer.

    Als ich mich als junger Mensch für bemannte Raumfahrt interessierte - es war die Zeit der sieben ersten "Mercury"-Astronauten, ich kann jetzt noch ihre Namen aufzählen - , da wußte ich von ihnen alles und wollte alles wissen: Ihre Karriere beim Militär, ihr Familie, ihre Hobbies. War das für ihre Leistung als Astronauten relevant? In keiner Weise. Aber es interessiert mich.

    So geht es unfehlbar denen, die einen Schriftsteller besonders schätzen. Deshalb verkaufen sich auch noch die ödesten Tagebücher, von Thomas Mann beispielsweise oder von Martin Walser.

    Ich habe einmal mit größtem Interesse einen Auszug aus dem Tagebuch von Alice Schmidt gelesen, der Frau von Arno Schmidt. Es schildert nichts als das Alltägliche eines kargen Lebens von Flüchtlingen im Jahr 1955.

    Der Thomas-Mann-Fan andererseits freut sich daran, zu lesen, wie es denn mit der Verdauung seines Helden an jenem Tag in Pacific Palisades bestellt war, an dem er außerdem einen langen Spaziergang unternahm und sich erkundigte, ob die neuen Maßhemden schon eingetroffen seien. (Nur zur Sicherheit gesagt: Das habe ich mir jetzt ausgedacht; nicht daß das jemand als Neues zur Mann-Biographie zitiert).

    So muß es wohl auch bei Kachelmann sein. Wäre er nicht verhaftet worden, dann wäre ich niemals auf den Gedanken verfallen, auch nur eine Zeile über das Privatleben dieses Grinsemanns lesen zu wollen. Ich interessiere mich ja auch nicht für das Privatleben von Donald Bäcker oder Inge Niedeck.

    Aber nun hat er mich beschäftigt wegen des fragwürdigen Vorgehens der Justiz gegen ihn; und ich habe das ja auch wiederholt kommentiert (z.B. "Er machte einen sehr niedergeschlagenen Eindruck, ist aber nicht suizidgefährdet"; ZR vom 25. 3. 2010; "Gegen Jörg Kachelmann besteht kein dringender Tatverdacht mehr"; ZR vom 29. 7. 2010).

    Der "Fall Kachelmann" liegt jetzt erst einmal bei den Akten; bis zum Beginn des Prozesses. Aber das Interesse hat sich gewissermaßen verselbständigt. Es hat vom Fall Kachelmann auf die Person Kachelmann übergegriffen. Ist das nicht kurios?

    Wie kommt das, was soll das? Ich weiß es nicht. Evolutionspsychologisch könnte man spekulieren: Wenn für jemanden ein Mensch wichtig ist, dann ist es gut, möglichst viel über diesen zu wissen. Man hat dann einen Vorteil in der Interaktion mit ihm, sei es der liebevollen, sei es der feindlichen.

    Jedenfalls scheint es diese Regel zu geben: Als je wichtiger wir jemanden wahrnehmen, desto mehr interessieren uns Einzelheiten über ihn.

    In Thomas Manns - um noch einmal auf ihn zu kommen - "Zauberberg" läßt sich der junge Hans Castorp von dem vertrockneten "Alten Mädchen" Fräulein Engelhart jede noch so kleine Einzelheit über Madame Chauchat erzählen. Da wissen wir, noch bevor Hans Castorp selbst es ganz erfaßt hat: Er ist in Clawdia Chauchat verliebt.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Marginalie: Sarrazin - jetzt wird's richtig häßlich. Nebst einem Nachtrag für alle, die Sarrazins Buch (erste Auflage vergriffen) noch nicht haben

    Der Kampf gegen Thilo Sarrazin, der zunächst in Gestalt seiner Diffamierung als "Rassist", als "islamophob" und dergleichen geführt wurde (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010), nimmt allmählich richtig häßliche Formen an.

    In der deutschen Ausgabe des Internet-Magazins Life.Gen - nach eigenen Angaben "one of Europes most important lifescience Online-Magazines", eines der wichtigsten europäischen Online-Magazine zu den Biowissenschaften - ist jetzt dies zu lesen:
    Hartz IV – Empfänger und Migranten können ab sofort gegen das von Bertelsmann massiv gepushte Buch von Thilo Sarrazin protestieren und bestehende Medien-Abonnements des globalen Konzerns kündigen. Welche Produkte in Frage kommen, lässt sich am besten auf der Seite des Unternehmens erkennen: Von Gruner + Jahr und damit verbunden Stern, Capital, GEO oder Eltern bis zum Bertelsmann Club ist eine ganze Menge dabei, was man als Sarrazin-Opfer in Zukunft meiden kann. (...)

    Die Aktion kan [sic] man selbstverständlich beenden, und somit zum zuvor gekündigten Medium zurückkehren - nachdem DVA das Sarrazin-Werk aus dem Programm genommen hat.
    Und wenn man zu den Vorabmeldungen zum "Spiegel" der kommenden Woche geht, dann findet man an oberster Stelle eine Meldung "Sarrazins Privilegien".

    Es geht um eine Lächerlichkeit - wie zahlreichen anderen Prominenten auch hatte die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport Sarrazin eine VIP-Karte geschickt, die zur kostenlosen Nutzung eines Sonderparkplatzes am Flughafen berechtigte. Ob Sarrazin davon überhaupt jemals Gebrauch gemacht hat, hat der "Spiegel" offenbar bisher nicht herausgefunden.

    Dergleichen ist keine Auseinandersetzung, das ist auch nicht mehr Polemik: Es ist der Versuch, Sarrazin und seinen Verlag mit allen Mitteln zu bekämpfen. Es wird richtig häßlich.



    Nachtrag am 29. 8. : Die erste Auflage von Sarrazins Buch ist offensichtlich schon vor dem offiziellen Verkaufsbeginn am morgigen Montag vergriffen; siehe diesen Beitrag von Calimero in Zettels kleinem Zimmer und meine beiden Antworten darauf. Das Buch steht auf Platz 1 der Bestsellerliste von Amazon.

    Sie können sich aber einen guten Eindruck von dem Buch verschaffen, wenn Sie das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort lesen, die Amazon als PDF-Datei zur Verfügung stellt.

    Sie werden zum einen sehen, daß das Buch keineswegs das zentrale Thema "Einwanderung" hat, sondern daß nur eines von sieben Kapiteln sich damit befaßt. Es geht um die Zukunft Deutschlands unter den verschiedensten Aspekten - Armut und Ungleichheit beispielsweise, Arbeit und Politik, Bildung und Gerechtigkeit; um einige Kapitelüberschriften zu zitieren.

    Sie können am Vorwort zum anderen ablesen, daß Sarrazins Buch das Gegenteil einer "wirre[n] Mischung" ist, wie der SPD-Politiker Ralf Stegner behauptet. Es ist eine bemerkenswert klare und rationale Analyse; übrigens abgefaßt in einem Deutsch, um das mancher Berufsjournalist Sarrazin beneiden dürfte. Textprobe:
    Der Keim für diese Fehlentwicklungen, die unsere Zukunft verdüstern, ist bereits in den triumphalen späten fünfziger Jahren gelegt worden. Damals begann eine Kette institutioneller Reformen, von denen jede einzelne wohlgemeint war und sicher individuell auch viel Gutes gebracht hat. Die kombinierte Wirkung dieser Reformen leitete aber einen gesellschaftlichen Substanzverzehr ein, der unsere Zukunft bedroht. Im Kern geht es um vier Themenkomplexe, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen:
    – um die seit 40 Jahren eingetretenen demografischen Verschiebungen und generativen Verhaltensänderungen sowie deren Weiterwirken in die Zukunft

    – um die in unserem Sozialsystem liegenden Anreize, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – oder dies eben nicht zu tun

    – um Sozialisation, Bildung und lebensweltliche Motivation der Menschen

    – um die Qualität, die Struktur und den kulturellen Hintergrund der Migranten in Deutschland.
    Treffender und klarer kann man es aus meiner Sicht kaum sagen.



    Neben dieser Textprobe stehen weiter die beiden anderen Informationsquellen zur Verfügung, auf die ich schon in früheren Artikeln aufmerksam gemacht habe: Sarrazins "Spiegel"-Artikel (ein Auszug aus dem Buch), der seit Freitag in "Spiegel-Online" zu lesen ist, und das Streitgespräch, das Bernd Ulrich und Özlem Topcu für die "Zeit" mit Sarrazin führten.

    Nachtrag zum Nachtrag: Inzwischen ist dieses Interview mit Stefan Dietrich in FAZ.Net hinzugekommen, in dem Sarrazin seine Position zu einzelnen Punkten erläutert, unter anderem sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Lesenswert.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an monty und notquite. Erste Fassung publiziert am 28. 8. 2010, 16.09 Uhr.

    28. August 2010

    Zitat des Tages: "Dauernd unterhielten sich die Leute über das Sarrazin-Buch". Nebst einer Erinnerung an Wallraffs Bestseller vor 25 Jahren

    Ich war diese Woche an der Nordsee, ich hatte "Verbrechen und Strafe" immer in meiner Jackentasche, aber ich kam kaum dazu, darin zu lesen, dauernd unterhielten sich die Leute über das Sarrazin-Buch: am Strand, im Café, im Restaurant, im Supermarkt. Es waren viele ältere Mitbürger mit Dialekten aus, ich würde jetzt mal tippen, ehr süddeutschen Gegenden, die sich wohlwollend über das Buch unterhielten. Einige meinten, es sei mutig, mal die diese Dinge auszusprechen. Einige meinten, endlich sage mal einer was. Einige meinten, man dürfe ja in Deutschland nicht mehr die Wahrheit sagen.

    Erlebnisse des Kolumnisten des "Tagesspiegel" Matthias Kalle, von ihm selbst gestern mitgeteilt.


    Kommentar: Wenn Sie jetzt Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" bei Amazon bestellen, dann müssen Sie mit einer Lieferfrist von 8 bis 9 Tagen rechnen. Das, obwohl das Buch am kommenden Montag erscheinen wird; und das, obwohl Amazon in der Regel sehr schnell liefert.

    Das läßt vermuten, daß die erste Auflage bereits vor Erscheinen vergriffen ist und derjenige, der jetzt bestellt, auf die zweite Auflage warten muß. Das Buch wird wohl ein Bestseller werden.

    Gut möglich, daß sich das wiederholen wird, was es bei einem politischen Buch zuletzt 1985 gegeben hat, als Günter Walraffs "Ganz unten" erschien. Damals wurden die Buchhandlungen regelrecht gestürmt. Allerdings rechnete man auch damit, daß das Buch wegen einer Unterlassungsklage der Firma Thyssen schon bald nicht mehr zu haben sein würde.

    Aber diese Klage hat die Auflage nur in die Höhe getrieben (und veränderte Auflagen nach sich gezogen, in denen ganze Textpassagen ausgetauscht wurden). Jetzt scheint es, daß die diffamierenden Reaktionen auf den Buchauszug im aktuellen "Spiegel" (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010) eine ähnliche Wirkung haben könnten. Sie sind die beste Reklame für das Buch.



    Auch bei Wallraffs Buch ging es um Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Sie hießen damals allerdings noch nicht "Migranten" oder "Zuwanderer", sondern "Gastarbeiter". Viele lebten noch ohne Familie hier. Bis zu Wallraffs Buch wurde wenig über sie diskutiert. Man freute sich, daß sie hier waren und Arbeiten verrichteten, oft auch schwere und unangenehme.

    Darauf hat Wallraff aufmerksam gemacht; mit seiner ja auch heute noch praktizierten Methode, sich wie ein Hochstapler zu verkleiden und die Menschen, mit denen er es zu tun hat, nach Strich und Faden anzulügen; siehe Wie man aus Schaumschlägerei Schaum schlägt; ZR vom 14. 7. 2007 und Wallraff der Lügner, zum zweiten; ZR vom 19. 10. 2009.

    Aber immerhin, er hat darauf aufmerksam gemacht; und damals, vor einem Vierteljahrhundert, lag ja wirklich manches im Argen, was die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter anging.

    Eine Generation später redet niemand mehr von Gastarbeitern. Daß Türken schlecht behandelt wurden und die niedrigsten Arbeiten verrichten mußten, ist Vergangenheit.

    Die Probleme sind heute durchaus ganz andere als damals. Aber wenn man sich die heftigen, hochaffektiven Reaktionen auf Sarrazin ansieht, dann hat man den Eindruck, daß viele, die es gut meinen, in den Einwanderern und türkischstämmigen Deutschen noch immer eine schwache, benachteiligte Gruppe sehen, über die sie ihre schützende Hand halten müssen.

    Schutz hätten inzwischen aber oft schon die Deutschen verdient, die noch in türkisch-arabischen Wohngebieten leben. Lesen Sie dazu einmal diesen Artikel im durchaus nicht konservativen, sondern eher linken Berliner Stadtmagazin "Zitty".



    Und noch eine gute Nachricht: Seit gestern ist Sarrazins "Spiegel"-Essay in "Spiegel-Online" zu lesen. Kurioserweise mit Datum vom 23. 8., 00.00 Uhr, also dem Erscheinungsdatum des gedruckten "Spiegel".



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Calimero und Nepumuk.

    27. August 2010

    Zettels Meckerecke: Gegenleistung wofür? Die Kanzlerin "bettet ein". Oettinger sagt es direkter. Die AKWs und die Arroganz der Macht

    Ja, sind wir denn im Orient oder in Moskau, wo der Bürger dem Staat, wo er dessen einzelnen Dienern ein Bakschisch dafür zahlen muß, damit er das bekommt, worauf er ein Anrecht hat, der Bürger?

    Offenbar bewegt sich Deutschland rasant in Richtung Balkan, und die Kanzlerin vorneweg.

    Wenn jemand eine Pommesbude aufmacht, und er hält sich an die einschlägigen Bestimmungen, dann kann er sein Unternehmen so lange betreiben, wie er will. Es sei denn, daß sich die Rahmenbedingungen ändern; daß vielleicht dort, wo sein Büdchen steht, eine Straße gebaut werden soll. Dann kann es sein, daß Gemeinwohl vor Eigennutz geht und er die Bude dicht machen muß.

    Der Staat handelt dann im Interesse der Allgemeinheit. Das allein rechtfertigt es, daß er in die Gewerbefreiheit, daß er in das Eigentumsrecht des Einzelnen eingereift.

    Eine Selbstverständlichkeit in einer freien Gesellschaft, nicht wahr? Und nun lesen Sie einmal diese Schlagzeilen von gestern:
  • "Energiepolitik - Merkel fordert Extrabeitrag von Stromkonzernen" (Spiegel-Online)

  • "Preis für längere AKW-Laufzeiten - Merkel schockt die Atom-Bosse" (Berliner Kurier)

  • "Gegenleistung für längere Laufzeiten - Merkel fordert Ökobeitrag von AKW-Betreibern" (Financial Times Deutschland")

  • "Gegenleistung für längere Laufzeiten - Merkels Weg zur Atomkraft" (taz)
  • Die Bundesregierung ist augenscheinlich bereit, längere Laufzeiten für AKWs - richtiger KKWs - zu genehmigen, als das im sogenannten "Atomkompromiß" von 2000 unter der rotgrünen Regierung festgelegt worden war, der zunächst als eine Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen formuliert und dann 2002 in die Gesetzesform einer Novellierung des Atomgesetzes gegossen wurde.

    Wie wurden die damals festgelegten begrenzten Laufzeiten für KKWs begründet, obwohl diese über eine unbefristete Betriebsgenehmigung verfügten? Man kann es in der Wikipedia nachlesen: Zu große Gefahr nuklearer Unfälle; das Problem der Endlagerung; angebliche Srahlengefährdung von Menschen in der Umgebung von KKWs.

    So sah es die rotgrüne Regierung Schröder vor zehn Jahren. Wenn es die schwarzgelbe Bundesregierung heute immer noch so sieht, dann gibt es keinen Spielraum, am damaligen Atomkonsens etwas zu ändern. Wenn sie aber diese Argumente nicht für triftig hält, dann muß sie die damals vereinbarten Beschränkungen aufheben.

    Aber wie kommt sie dazu, sich das von der Atomindustrie bezahlen zu lassen? Wenn ein Auto betriebssicher ist, dann bekommt es die TÜV-Plakette, ohne Bakschisch. Wenn nicht, dann sollte auch kein Bakschisch helfen.

    Es ist nachgerade obszön, es ist wirklich auf dem Niveau korrupter Länder, daß die Bundesregierung offenbar einerseits keinen sachlichen Grund mehr dafür sieht, bei den Vereinbarungen von 2000 zu bleiben (sonst könnte sie nicht zu einer Verlängerung von Laufzeiten bereit sein); daß sie aber dennoch die damals festgelegten Beschränkungen nicht einfach aufhebt, sondern sich das bezahlen lassen will.

    Sie benimmt sich so, als sei sie Herr über die Laufzeiten von KKWs. Obwohl diese privat betrieben werden; obwohl sie bis 2000 allesamt mit einer unbefristeten Betriebsgenehmigung versehen gewesen waren. Es ist die Arroganz der Macht.

    Es ist die reine staatliche Willkür. Es ist Steuereintreiberei nach Art des Spätfeudalismus. Mag freilich sein, daß es damals, wie auch zur Zeit der römischen Steuerpächter, weniger willkürlich zuging.



    Man kann diese staatliche Unverfrorenheit allerdings nicht allein der Kanzlerin anlasten. Sie geht, wie man gestern in der FAZ lesen konnte, zurück auf den schwarzgelben Koalitionsvertrag, in dem es auf Seite 13 heißt:
    Der wesentliche Teil der zusätzlich generierten Gewinne aus der Laufzeitverlängerung der Kernenergie soll von der öffentlichen Hand vereinnahmt werden.
    Brutaler kann man es kaum formulieren, daß sich der Staat, metaphorisch gesprochen, als ein Räuber versteht. Oder sagen wir: Als - metaphorisch - ein Erpresser, der den Betreibern der KKWs das, worauf sie ohnehin ein Recht haben - nämlich ihre Anlagen so lange zu betreiben, wie diese sich rechnen und sie sicher sind -, nur gegen die Zahlung hoher Lösegelder gestattet.

    Und dann gibt es natürlich noch den üblichen Verdächtigen: die Europäische Union. Den Begriff der "Gegenleistungen", der gestern durch die Nachrichten geisterte, hat nämlich die Kanzlerin selbst nicht verwendet; sie drückte es dezenter aus:
    "Ich glaube, dass wir darüber hinaus - aber hier verwende ich ausdrücklich nicht das Wort Abgabe - natürlich darüber sprechen müssen, in welcher Weise auch die Energiewirtschaft einen Beitrag für die erneuerbaren Energien leisten kann." Auch dieser zusätzliche Beitrag bette sich ein "in eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke, die ich persönlich für notwendig und auch absehbar halte", sagte Merkel weiter.
    Einbettung; auch hübsch für das Abpressen von Geld. Der brutale und ehrlichere Begriff "Gegenleistungen" stammt von dem EU-Kommissar Oettinger - Sie erinnern sich, der mit dem aparten Englisch - , der laut sueddeutsche.de in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" vom vergangenen Wochenende sagte,
    die Atomkonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall müssten als Gegenleistung für eine Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten einen Großteil der dadurch entstehenden Gewinne an den Staat abführen.
    Er sagte es, und kein Aufschrei in der Öffentlichkeit. Die Kanzlerin wird so zitiert, daß sie Gegenleistungen fordere, und niemand regt sich deswegen auf.

    Daß der Staat freien Unternehmen nach Belieben Geld abnehmen darf, damit er ihnen das erlaubt, was ihnen ohnehin zusteht - wen kümmert's?

    Aufregung kommt nur von der anderen Seite, derjenigen der KKW-Gegner. Wie so oft ist wieder einmal Heribert Prantl einsame Spitze:
    Der große Staatsrechtler und frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde verlangt von einer Demokratie, "dass das Handeln ihrer Leitungsorgane so beschaffen ist, dass die Einzelnen und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können". Selten war eine Bundesregierung von diesem Satz so weit weg wie in ihrer nachgiebigen Reaktion auf das auftrumpfende Drängen der Energiewirtschaft.
    Wenn eine Laufzeitverlängerung gefahrlos möglich ist, dann bräuchte in einem Rechtsstaat die KKW-Industrie überhaupt nicht "auftrumpfend zu drängen". Dann steht es ihr schlicht zu, ihre Anlagen weiter zu betreiben; so, wie der Chinese am Ku'damm in Berlin sein China-Restaurant betreiben darf.

    Freilich unbehelligt unter Umständen nur dann, wenn er den richtigen Leuten Schutzgelder bezahlt. Die Adresse für die, sozusagen, Schutzgelder, die von der Atomindustrie erwartet werden, ist das Bundesministerium der Finanzen, Wilhelmstraße 97, 10117 Berlin.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    26. August 2010

    Gedanken zu Frankreich (35): Sarkozy und Sarrazin. Umgang mit Einwanderung und nationaler Identität diesseits und jenseits des Rheins

    Gut, zugegeben. Sarrazin und Sarkozy - das bietet sich zunächst einmal wegen der Alliteration an.

    Gemeinsam haben die beiden neben dem Anfang ihres Namens, daß sie Nachfahren von Einwanderern sind. Die Sarrazins - der Name bedeutet "Sarazenen", also Moslems - sind als Hugenotten im 17. Jahrhundert nach Deutschland eingewandert; auch weist Thilo Sarrazin eine englische und eine italienische Großmutter auf. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy heißt eigentlich Nicolas Paul Stéphane Sárközy de Nagybócsa und ist Sohn eines Ungarn und einer jüdischen Französin griechischer Herkunft.

    Die beiden sind also nicht gerade ein Urdeutscher und ein français de souche. Beide sind aber in den letzten Wochen durch das hervorgetreten, was man ihnen als Ausländerfeindlichkeit oder gar Rassismus vorzuwerfen versucht.

    Hier allerdings endet die Gemeinsamkeit. Nicht nur, weil Sarkozy der Präsident Frankreichs und Sarrazin nur ein deutscher Banker ist, der ein Buch geschrieben hat. Sondern vor allem, weil die Diskussion, für die ihr Name steht, in Frankreich und in Deutschland ganz verschieden verläuft; jedenfalls bisher.



    Sarkozy und Einwanderer - was fällt Ihnen dazu ein? Richtig, Sarkozy hat die Ausweisung von Gitanes angeordnet; in Frankreich nennt man sie noch so, während das deutsche Äquivalent "Zigeuner" aus unklaren Gründen tabuisiert ist. Sagen wir also Gitanes.

    Die Ausweisungen sind rechtmäßig. Als Bürger der EU können sich rumänische Gitanes drei Monate in Frankreich aufhalten. Haben sie danach aber weder ein eigenes Einkommen noch einen festen Wohnsitz, dann dürfen sie ausgewiesen werden.

    Sie müssen aber nicht. Also hat sich in Frankreich eine Debatte darüber entzündet, ob diese Ausweisungen nicht nur rechtens, sondern auch unter humanitären und politischen Gesichtspunkten angemessen waren und sind.

    Die Franzosen sind gespalten. Laut einer heute veröffentlichten Umfrage des Instituts CSA für Le Parisien befürwortet eine relative Mehrheit von 48 Prozent die von Sarkozy angeordneten Maßnahmen. 42 Prozent sind dagegen; 10 Prozent sind unentschieden oder äußern sich nicht.

    Dieses Meinungsbild dürfte repräsentativ sein für die Diskussion über Einwanderung, die in Frankreich seit Jahren läuft; die dort mit Intensität und großer Ernsthaftigkeit geführt wird.

    Sie wurde zunächst geführt, als 2007 unter dem frisch gewählten Präsidenten Sarkozy ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde; siehe Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie; ZR vom 24. 10. 2007.

    Sie hält seither an, diese innerfranzösische Diskussion, und sie wurde heftiger, als vor knapp einem Jahr der Minister für nationale Identität Eric Besson die Initiative ergriff und im ganzen Land Debatten über nationale Identität organisieren ließ; siehe Gedanken zu Frankreich (32): Ein Minister für nationale Identität startet eine Debatte über nationale Identität; ZR vom 26. 10. 2009; sowie Gedanken zu Frankreich (33): Die Debatte über nationale Identität wird heftiger. Eine kleine Hommage an Jean Daniel; ZR vom 11. 12. 2009.

    Ja, "nationale Identität" steht in der Amtsbezeichnung des Ministers Besson, eines langjährigen Sozialisten, der 2007 zu Nicolas Sarkozy gestoßen ist; wie auch Einwanderung, Integration und solidarische Entwicklung zu seinem Ressort gehören.

    Denn aus französischer Sicht gehört das zusammen - Einwanderung und nationale Identität. Die Debatte darüber findet mit großem Engagement statt. Kürzlich hat zum Beispiel der linke Jurist Serge Portelli Nicolas Sarkozy vorgeworfen, sich auf den Spuren der Rechtsextremen zu bewegen. Zu den Rechtsextremen von Le Pen würden sich, so Portelli, die "extremen Rechten" von Sarkozy gesellen.

    Aber die Debatte wird doch auf der Grundlage einer Überzeugung geführt, die - mit Ausnahme der Extremisten auf beiden Seiten - alle Franzosen eint: Daß man die Einwanderung als solche nicht ablehnt (wie das die Rechtsextremen tun); daß aber durch die Einwanderung die nationale Identität nicht in Frage gestellt werden darf (wie das die extreme Linke gern hätte).



    Am besten hat es vielleicht der Nestor der französischen Publizistik, der langjährige Herausgeber des linken Nouvel Observateur Jean Daniel (er wurde am 21. Juli 90 Jahre) formuliert; er kleidet es in die Form einer Rede, von der er sich gewünscht hätte, daß Nicolas Sarkozy sie hält:
    Je veux aujourd'hui m'adresser à toutes les femmes et à tous les hommes qui ont décidé de vivre ensemble sur le territoire français pour former la Nation. Nous avons bien des choses à nous dire parce que nous sommes tous, quelle que soit la date de notre arrivée en France, des enfants de la République et que nous en sommes fiers. (...)

    Longtemps nous avons eu le génie de transformer les frères humains qui cherchaient refuge chez nous en enfants de la République. L'Ecole, d'abord, dont Victor Hugo pensait que chaque fois que l'on en ouvrait une c'était une prison que l'on fermait, notre chère Ecole laïque et républicaine a été une merveilleuse machine à fabriquer des Français. J'en dirai autant de l'armée, des syndicats et aussi - les Italiens et les Polonais s'en souviennent - de l'Eglise.

    Heute will ich mich an alle Frauen und Männer wenden, die sich dafür entschieden haben, gemeinsam auf dem Gebiet Frankreichs zu leben, um die Nation zu bilden. Wir haben uns viel zu sagen, weil wir alle, zu welchem Zeitpunkt wir auch nach Frankreich gekommen sind, Kinder der Republik sind, und weil wir darauf stolz sind. (...)

    Lange Zeit haben wir die Gabe gehabt, die Menschen, unsere Brüder, die bei uns Zuflucht suchten, in Kinder der Republik zu verwandeln. An erster Stelle die Schule, von der Victor Hugo meinte, daß man mit jeder Schule, die man neu eröffnet, ein Gefängnis schließt; unsere geliebte laizistische und republikanische Schule, die eine wunderbare Maschine zur Produktion von Franzosen war. Dasselbe würde ich von der Armee, den Gewerkschaften und auch - die Italiener und die Polen erinnnern sich - von der Kirche sagen.
    Die meisten Einwanderer, schreibt Daniel weiter, dächten immer noch so. Doch gäbe es eine Minderheit, bei der diese Mechanismen der Integration nicht mehr funktionierten; die sich absonderte.

    Der Präsident - in seine Rolle hat sich Jean Daniel ja begeben - müsse alles tun, "[pour] combattre l'insécurité, la violence des groupes, les émeutes des marginaux, et parfois la division des Français" - [um] die mangelnde Sicherheit zu bekämpfen, die Gewalt von Gruppen, das Randalieren von Außenseitern, und manchmal die Spaltung der Franzosen. Und dies im Namen der Einwanderer, die sich integrieren und Franzosen werden wollen, so Jean Daniel weiter.



    Ein Plädoyer also für Assimilation, wie das Thilo Sarrazins; siehe Thilo Sarrazin über Einwanderungspolitik; ZR vom 22. 8. 2010.

    Gewiß, Jean Daniel ist pathetischer als Sarrazin. Das ist er nun einmal als Franzose; schon gar in der Rolle des Präsidenten, in die er sich zum Schreiben begeben hat. Er formuliert auch positiver. Er lockt und gibt Hoffnung, statt zu warnen. Aber das ist eine Frage des Stils. In der Substanz sagen beide dasselbe: Wer nach Frankreich kommt, der soll sich anpassen und Franzose werden. Wer nach Deutschland kommt, der soll sich anpassen und Deutscher werden.

    Wie anders aber die Reaktion in Deutschland als in Frankreich! Sarrazin wird nicht als ein Mahner betrachtet (Michael Stürmer gestern in "Welt-Online" ist eine rühmliche Ausnahme), sondern als ein - so "Spiegel-Online" - "Querulant".

    Die Diffamierung Sarrazins, die seit Montag im Gange ist (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010), geht unvermindert weiter. Die Kanzlerin ließ ihren Regierungssprecher gegen Sarrazin vom Leder ziehen; Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD, diagnostiziert bei ihrem Parteigenossen eine "ausgeprägte Profilneurose".

    In der Presse herrscht eine Einigkeit, als sei man am Morgen zur Ausgabe der Sprachregelungen beim Minister angetreten gewesen: "Bullshit" riecht Alan Posener in seinem Videoblog für "Welt-Online". Einen "offen [ans] Rassistische grenzenden Populismus" nimmt der sonst vernünftige Yassin Musharbash in "Spiegel-Online" bei Sarrazin wahr. "Schwarze Pädagogik" attestiert ihm Mechthild Küpper in FAZ.Net.

    Kurzum, die Debatte wird verweigert. Die Debatte über Einwanderung und nationale Identität, über die Frage, wie ein Land sich entwickeln soll, das einen wachsenden Anteil moslemischer Einwanderer aus überwiegend der Unterschicht hat - sie findet in Frankreich intensiv statt; sie wird in Deutschland durch die Beschimpfung dessen ersetzt, der dazu eine prononcierte Meinung äußert.

    Der eine Meinung äußert, die nach französischen Maßstäben in der Mitte des Meinungsspektrums wäre; über die sich jedenfalls niemand erregen, sondern die man vernünftig diskutieren würde.

    Deutschland kann oder will das nicht. Frankreich wird das Problem der moslemischen Einwanderung wahrscheinlich bewältigen, weil man sich ihm stellt. In Deutschland regieren die meisten Politiker mit Verdrängung.

    Verdrängung mag kurzfristig vor Unangenehmem schützen. Aber anders, als es Kinder glauben, verschwindet etwas ja nicht, wenn man davor die Augen verschließt.

    Die Diskussion, die jetzt verweigert und durch Diffamierung ersetzt wird, kann selbstredend nicht unbegrenzt umgangen werden. Aber je länger wir sie hinausschieben, umso schwieriger wird sie werden. Umso größer werden die Probleme werden; bis wir sie vielleicht zwar noch diskutieren, aber nicht mehr beheben können.



    Und noch etwas Positives: In "Zeit-Online" ist seit heute Morgen ein ausführliches Gespräch, ein Streitgespräch zwischen Thilo Sarrazin und Bernd Ulrich, zu lesen. Dort können Sie erfahren, was Thilo Sarrazin wirklich denkt. Sie werden sehen: Nicht, das, was ihm zugeschrieben wird.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt.

    NEMP - ein Horror-Szenario. Wie man mit einer einzigen Explosion einen Staat lähmen kann

    Gelegentlich liest man davon, aber eine breite öffentliche Diskussion gibt es darüber nicht: Mit einer einzigen nuklearen Explosion in der richtigen Höhe (von einigen hundert Kilometern) und von der richtigen Stärke kann ein Angreifer die Zentren der USA lahmlegen.

    Eine solche Detonation erzeugt einen sogenannten NEMP (nuclear electromagnetic pulse), auch einfach EMP genannt. Er entsteht dadurch, daß die Gamma-Strahlung aus einer nuklearen Explosion in der oberen Atmosphäre Elektronen aus Molekülen herausschlägt, die sich als vertikaler elektrischer Strom mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Erdoberfläche bewegen und dabei mit dem Magnetfeld der Erde in Wechselwirkung treten.

    Man kann sich das wie ein Gewitter vorstellen, nur mit ungleich größerer Energie. Mit so gewaltiger Energie, daß die Folgen für ein hochtechnisiertes Land katastrophal sind: Ein Zusammenbrechen der Stromversorgung, der Kommunikation, des Verkehrs, der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern; dazu ein weitgehendes Ausfallen der staatlichen Verwaltung und der Dienste, die erforderlich wären, um den Schaden zu beheben oder wenigstens zu begrenzen.

    Ein Science-Fiction-Scenario? Nein, leider nicht. Aufmerksam geworden bin ich auf das Thema durch einen Artikel, den gestern die auf Sicherheitsfragen spezialisierte Journalistin Elise Cooper im American Thinker publiziert hat ("The new generation of security threats"; die neue Generation der Bedrohungen für die Sicherheit).

    Elise Cooper hat für diesen Artikel etliche Sicherheitsexperten interviewt. Was sie schreibt, liest sich gar nicht erfreulich. Zu den neuen Bedrohungen rechnet sie biologische Kriegsführung, den Cyberkrieg - also Attacken auf Rechner - und eben den NEMP:
    The Chinese, along with Russia, Iran, and possibly North Korea, threaten America's national security by developing electromagnetic pulse (EMP) weapons. Frances Townsend, former Bush Homeland Security Advisor, felt that electromagnetic pulse weapons are "a big deal and we are solely unprepared for it ...". (...)

    Die Chinesen bedrohen ebenso wie Rußland, der Iran und möglicherweise Nordkorea die nationale Sicherheit der USA, indem sie elektromagnetische Impulswaffen (EMP) entwickeln. Frances Townsend, ein früherer Berater von Präsident Bush für Innere Sicherheit, meinte, daß elektromagnetische Impulswaffen "eine große Sache" seien, "und wir sind darauf nur schlecht vorbereitet ..." (...)
    Worin besteht diese "große Sache", auf welche die US-Regierung nicht ausreichend vorbereitet ist? Cooper:
    Clare Lopez, a former CIA official who is currently a senior fellow at the Center for Security Policy, told of a scary scenario where people would "no longer be able to buy groceries or gasoline. You would no longer have electricity to power anything in your home. You are unable to count on hospitals, banks, and the financial systems because their systems are wiped out as well. You can't communicate by phone or computer.

    Disease becomes rampant. Over a period of years, eighty to ninety percent of the population would be wiped out or affected. Everyday life for ordinary people would go back to Little House on the Prairie Days".

    Claudia Lopez, eine ehemalige Mitarbeiterin der CIA, die jetzt Gastwissenschaftlerin am Center for Security Policy [einem Washingtoner Institut für Sicherheitspolitik; Zettel] ist, schildert ein Szenario des Schreckens, in dem die Menschen "keine Lebensmittel und kein Benzin mehr kaufen können. Es gibt keine Stromversorgung für die Haushalte mehr. Man kann nicht mehr auf Krankenhäuser, Banken und das Finanzsystem zählen, denn diese Systeme sind ebenfalls ausgelöscht. Man kann nicht mehr über Telefon oder Computer kommunizieren.

    Überall brechen Krankheiten aus. Über einen Zeitraum von Jahren wären achtzig bis neunzig Prozent der Bevölkerung ausgelöscht oder [von Krankheiten] befallen. Das tägliche Leben der einfachen Menschen würde wieder die Stufe der Blockhütte in den Tagen der Prärie erreichen"
    Das mag etwas blumig und vielleicht auch phantasievoll formuliert sein. Gar nicht phantasievoll aber ist der Report of the Commission to Assess the Threat to the United States from Electromagnetic Pulse (EMP) Attack, der Bericht einer Expertenkommission, der im Auftrag des amerikanischen Kongresses erstellt und im April 2008 vorgelegt wurde.

    Lesen Sie diesen Bericht, dann können Sie sich das Geld für einen Horror-Film sparen. Besonders erschreckend ist, daß niemand die Folgen eines solchen Angriffs im einzelnen abschätzen kann, denn zu vernetzt sind die verschiedenen Systeme (Stromversorgung, Kommunikation, Verkehr, Verwaltung und Polizei, Versorgung mit Gütern und Lebensmitteln usw.), als daß man das Verhalten eines solchen komplexen Gesamtsystems würde prognostizieren können.

    Der Iran hat offenbar bereits Tests für einen NEMP-Angriff durchgeführt. Die Kommission meint, daß gegen einen solchen Angriff durch einen Staat wie den Iran Abschreckung nicht funktioniert. Die einzige Möglichkeit sei, sich auf diesen Ernstfall vorzubereiten, so gut es geht:
    Therefore, making preparations to manage the effects of an EMP attack, including understanding what has happened, maintaining situational awareness, having plans in place to recover, challenging and exercising those plans, and reducing vulnerabilities, is critical to reducing the consequences, and thus probability, of attack. The appropriate national-level approach should balance prevention, protection, and recovery.

    Kritisch dafür, daß die Folgen eines solchen Angriffs und damit seine Wahrscheinlichkeit verringert werden, sind Vorbereitungen darauf, die Auswirkungen einer EMP-Angriffs zu managen. Dazu gehört ein Bild dessen, was geschehen ist, die Aufrechterhaltung eines Überblicks über die Situation, Pläne für den Wiederaufbau, das offensive Vertreten und das Einüben solcher Pläne und die Verringerung der Verwundbarkeit.
    Das Pfeifen im Walde.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Vom Autor BigonL unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigegeben.

    25. August 2010

    Zettels Meckerecke: Pawlow'sche Reflexe. Diffamierungen statt einer Auseinandersetzung mit den Thesen von Thilo Sarrazin

    Thilo Sarrazins Essay "Was tun?", aus dem ich am Sonntag zwei Absätze als Zitat des Tages verwendet habe, steht noch immer nicht in "Spiegel-Online".

    Das ist bedauerlich, denn es vermindert die Wahrscheinlichkeit, daß diejenigen, die über den Text reden, ihn gelesen haben. Viele haben das offenbar nicht. Wenn man sich die Reaktionen von Politikern ansieht, wie sie gestern "Welt-Online" zusammengestellt hat, dann entsteht der Eindruck, daß es sich nicht um Diskussionsbeiträge handelt, sondern um Pawlow'sche Reflexe, ausgelöst durch bestimmte Reizwörter.

    "Diffamierend und verletzend" nannte die für Integration zuständige Staatsministerin Maria Böhmer Äußerungen von Sarrazin. Welche? Sie zitiert keine einzige. Aber sie sagt das, was auch die Kernaussage Sarrazins ist: "Wer dauerhaft in Deutschland leben wolle, müsse seinen Willen zur Integration deutlich machen".

    Die Staatsministerin Böhmer stimmt Sarrazin zu, versieht diese Zustimmung aber mit einem Tritt ans Schienbein.

    "Welt-Online":
    Die Grünen sprachen von Hasstiraden Sarrazins. Sie gefährdeten nicht die von Sarrazin "scheinbar so geliebte deutsche Volksgemeinschaft", sondern Anstand, Vernunft und Menschlichkeit, so der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Volker Beck.
    Hat Beck den Aufsatz von Sarrazin gelesen? Dann lügt er. Nirgends spricht Sarrazin von einer deutschen Volksgemeinschaft; Beck will, sollte er den Text kennen, diffamieren, indem er Sarrazin in die Nähe der Nazis rückt. Oder hat Beck den Text nicht gelesen? Dann äußert er sich leichtfertig.

    Ein Interkultureller Rat in Deutschland - man hört und liest sonst selten von ihm - "forderte die SPD auf, sich mit ihrem Mitglied Sarrazin inhaltlich auseinanderzusetzen". Ja, das wäre schön.

    Tut das die SPD?

    Sie tut es nicht. Bisher ist mir keine Äußerung aus der SPD bekannt, die auch nur in Ansätzen eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Thesen Sarrazins enthalten würde.

    Wohl aber hat sich gestern der Chef dieser Partei zu Wort gemeldet; auf einer Bootsfahrt auf dem schönen Rhein. Vielleicht kann man Sigmar Gabriel zugutehalten, daß er auf seiner "Sommerreise" schon den einen oder anderen Schoppen kredenzt bekommen hatte, als er das sagte, worüber "Welt-Online" heute so berichtet:
    Bei einer Bootsfahrt nahe Worms sagte Gabriel auf seiner Sommerreise, er wolle genau prüfen, ob Sarrazins Zuordnung von Charakterisierungen zu bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Afrikaner oder Asiaten nicht rassistisch sei. Sollten diese Charakterisierungen so erfolgt sein, dann wäre das für ihn "eindeutig" rassistisch. Gabriel fügte bei der Veranstaltung hinzu: "Wenn Sie mich fragen, warum der noch bei uns Mitglied sein will – das weiß ich auch nicht." Sarrazin agiere in der Debatte mit "sprachlich gewalttätigen Aussagen", sagte Gabriel weiter.
    Offenbar hat auch Gabriel den ausgesprochen kühl und rational argumentierenden Text von Sarrazin nicht gelesen. Offenbar flossen auch ihm nur auf Reizwörter hin die Gedanken zu wie Pawlows Hunden der Speichel aus dem Mund.

    Denn was hat Sarrazin an "Charakterisierungen zu bestimmten Bevölkerungsgruppen" vorgetragen? Dies, in seinem Essay im "Spiegel" dieser Woche (Heft 34/2010) auf Seite 138 zu lesen:
    Diskriminierung scheidet als Grund für die mangelhaften Erfolge der muslimischen Migranten im Bildungs- und Beschäftigungssystem aus, denn andere Migrantengruppen, die - aus Fernost oder Indien kommend - eher noch fremdartiger aussehen als Türken und Araber, schneiden teilweise sogar besser ab als die Deutschen. Der relative Misserfolg kann wohl auch kaum auf angeborene Fähigkeiten und Begabungen zurückgeführt werden, denn er betrifft muslimische Migranten unterschiedlicher Herkunft gleichermaßen.
    Sie haben richtig gelesen: "... kann wohl auch kaum auf angeborene Fähigkeiten und Begabungen zurückgeführt werden". Charakterisierungen von Asiaten und Afrikanern kommen in dem Essay Sarrazins überhaupt nicht vor.

    Für Sigmar Gabriel gilt dasselbe wie für Volker Beck: Hat er den Text gelesen, dann diffamiert er bewußt. Hat er ihn nicht gelesen, dann äußert er sich leichtfertig.



    Ich habe schon am Ende des Artikels vom Sonntag angeregt, daß Sie sich das "Spiegel"-Heft kaufen, um sich selbst ein Bild von dem zu machen, was Sarrazin vertritt. Nach den diffamierenden Reaktionen der vergangenen beiden Tage möchte ich diese Anregung wiederholen.

    Glauben Sie bitte nicht dem, was über diesen Text behauptet wird. Lesen Sie ihn selbst. Übrigens kann man ihn auch über "Spiegel-Online" kaufen. Gehen Sie dazu auf diese Seite und klicken Sie auf E-Paper.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Marginalie: Wofür interessieren sich die Leser der New York Times im Augenblick am meisten? Für das menschliche Gehirn

    In der New York Times handelt der im Augenblick am meisten gelesene und am häufigsten verschickte Artikel nicht von den gestrigen Vorwahlen in einer Reihe von US-Bundesstaaten, nicht vom Öl im Golf von Mexico oder von der schwächelnden amerikanischen Wirtschaft. Er handelt vom menschlichen Gehirn.

    "Digital devices deprive brain of needed downtime" ist der Artikel von Matt Richtel betitelt, digitale Geräte rauben dem Gehirn die Auszeit, die es benötigt.

    Der Kern der Sache ist denkbar einfach: Wir tendieren zunehmend dazu, unserem Gehirn keine Auszeit mehr zu gönnen. Was früher einmal eine solche Auszeit war, das wird immer mehr damit gefüllt, daß wir unser Gehirn mit anspruchsvollen Aufgaben beschäftigen.

    Beschäftigt ist unser Gehirn natürlich immer. Es steuert die körperlichen Funktionen. Solange wir bei Bewußtsein sind, gibt es auch kontinuierlich das, was man im Englischen mentation nennt, also Erleben irgendeiner Art. Wir dösen, wir lassen unseren Gedanken ihren Lauf, wir tagträumen. Tucholskys Metapher "die Seele baumeln lassen" hat sich dafür bei uns Deutschen eingebürgert.

    Aber dann arbeitet das Gehirn nicht auf Hochtouren. Es ist gewissermaßen in dem Zustand, in dem sich das Notebook befindet, auf dem ich diesen Text schreibe, wenn ich es zuklappe. Es ist im Standby-Modus; es arbeitet - mit einer anderen Metapher gesagt - auf Sparflamme.

    So etwas kennt der moderne Mensch, jedenfalls derjenige in den hochtechnisierten Ländern, kaum noch. Der Aufhänger für Richtels Artikel sind Fitness-Studios, in denen sich an fast jedem Trainingsgerät ein Bildschirm befindet, oft auch noch eine Dockingstation für den iPod. Während man strampelt, guckt man fern oder sieht seine Email durch, oder man hört mindestens Musik. Das oft in schnellem Wechsel oder auch parallel.

    Oder man spielt ein Computerspiel. Die Industrie, die solche Spiele anbietet, arbeitet mit dem Begriff der "Mikro-Momente". Spiele auf dem Handy oder iPod werden im Schnitt 6,3 Minuten lang gespielt; manche - wie diejenigen vom Typ Tetris - kaum mehr als zwei Minuten.

    Man tut etwas, wo man früher eine Auszeit für das Gehirn nahm. Während man Schlange steht, telefoniert man. Während man auf jemanden oder auf etwas wartet, kann man spielen, mailen, im Internet unterwegs sein oder schlicht und altmodisch mit seiner Stimme telefonieren.



    Ja und? Ist das nicht prima? Eine Bereicherung des Lebens? Eine ständige Herausforderung für das Gehirn, dem es doch nur gut tun kann, wenn es gefordert wird?

    Im Prinzip ja. Im Prinzip ist es gut für das Gehirn, kognitiv gefordert zu werden. Denn dadurch entstehen immer neue Aktivitätsmuster, die bei Wiederholung zu neuen Verknüpfungen zwischen Neuronen führen. Das Gehirn wird in einem ganz konkreten Sinn bereichert (bei Ratten wird es sogar schwerer, man kann das wiegen). Es verfügt über immer mehr assoziative Verknüpfungen, damit über mehr computational power, mehr Rechenleistung.

    Wer sein Hirn fordert, der rüstet es sozusagen ständig auf. Er baut gewissermaßen neue Speicherchips ein, taktet die CPU schneller. Nur nicht in einem Schritt, sondern allmählich.

    Aber: wann bildet das Gehirn diese neuen Assoziationen? Es ist eine alte Vermutung der Hirnforschung, daß sie sich nicht während der Aktivität selbst verfestigen und damit längerfristig verfügbar werden, sondern in Ruhezeiten danach. Wird diese "Konsolidierung" verhindert, zum Beispiel durch eine Gehirnerschütterung, dann "fehlen uns" die betreffenden Erlebnisse in der Erinnerung. Auch die Funktion des Träumens wird oft in diesem Zusammenhang gesehen.

    Neuere Untersuchungen, von denen Richtel zwei zitiert, untermauern diese Vermutung, so daß sie inzwischen schon als gesichert gelten kann. Wenn man Ratten nach einer neuen Erfahrung keine Auszeit erlaubt, sondern sie ständig weiter beschäftigt, dann vergessen sie diese Erfahrung eher. Menschen, die sich einen Spaziergang durch ruhige Gefilde gönnen, behalten Gelerntes besser als diejenigen, die durch eine Großstadt hetzen.

    Als alltagspsychologische Erfahrung ist das seit langem bekannt. Eine tradierter Rat an Schüler lautet zum Beispiel, zum besseren Vokabellernen "das Vokabelheft unter das Kopfkissen zu legen", also abends zu lernen und dann darüber zu schlafen. Ich habe mir seit dem Abitur angewöhnt, nach einer intensiven Phase des Lernens am Tag vor einer Prüfung oder einer vergleichbaren Herausforderung die Bücher und Notizen wegzulegen und Schwimmen oder Spazieren zu gehen.



    Wenn ich aus einem Artikel zitiere, dann empfehle ich oft, ihn im Original zu lesen. Hier nicht. Was Richtel Interessantes zu berichten weiß, habe ich Ihnen jetzt gesagt; noch ein wenig angereichert durch Aspekte, die nicht in seinem Artikel stehen. Statt auf den Link zur NYT zu klicken - nehmen Sie jetzt lieber ein paar Minuten Auszeit.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    24. August 2010

    Zitat des Tages: Warum die israelisch-palästinensischen Verhandlungen zu nichts führen werden

    The problem is that neither the Israelis nor the Palestinians are sufficiently unsettled to make peace. Both Egypt and Israel were shocked and afraid after the 1973 war. Mutual fear is the foundation of peace among enemies. The uncertainty of the future sobers both sides.

    But the fact right now is that all of the players prefer the status quo to the risks of the future. Hamas doesn't want to risk its support by negotiating and implicitly recognizing Israel. The PNA doesn’t want to risk a Hamas uprising in the West Bank by making significant concessions. The Israelis don't want to gamble with unreliable negotiating partners on a settlement that wouldn't enjoy broad public support in a domestic political environment where even simple programs can get snarled in a morass of ideology.


    (Das Problem ist, daß weder die Israelis noch die Palästinenser erschüttert genug sind, um Frieden zu schließen. Nach dem Krieg von 1973 waren sowohl Ägypten als auch Israel geschockt und ängstlich. Die Furcht voreinander ist die Grundlage für Frieden zwischen Feinden. Die Unsicherheit der Zukunft ernüchtert beide Seiten.

    Aber jetzt ist der Sachverhalt nun einmal so, daß alle Beteiligten den Status Quo den Risiken der Zukunft vorziehen. Die Hamas will nicht ihre Unterstützung dadurch aufs Spiel setzen, daß sie verhandelt und Israel implizit anerkennt. Die PNA [Palästinensische Autonomiebehörde; Zettel] will nicht dadurch, daß sie größere Zugeständnisse macht, einen Aufstand der Hamas auf der West Bank riskieren. Die Israelis wollen sich nicht auf ein Glücksspiel mit unzuverlässigen Verhandlungspartnern über eine Friedensregelung einlassen; in einem innenpolitischen Klima, in dem schon einfache Programme in einem Morast von Ideologie durcheinandergeraten können.)

    George Friedman gestern in Stratfor darüber, warum die am 2. September beginnenden Verhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu nichts führen werden.


    Kommentar: Friedman wiederholt in diesem Aufsatz im wesentlichen das, was er schon im Mai 2009 über den sogenannten Friedensprozeß im Nahen Osten geschrieben hat: Die Chancen eines Erfolgs sind null, weil alle Seiten mit der jetzigen Lage besser leben können als mit einem Friedensschluß (siehe "Der Friedensprozeß ist eine Chimäre"; ZR vom 19. 5. 2009).

    Wozu also das Verhandlungstheater? Ausschließlich den USA zuliebe; oder sagen wir: Als Ergebnis eines hinreichend starken amerikanischen Drucks. Beide Seiten haben diesem Druck jetzt (wieder einmal) nachgegeben, weil sie auf die Amerikaner angewiesen sind.

    Und warum wollte Präsident Obama unbedingt dieses Laienschauspiel, in dem beide Seiten so tun müssen, als wollten sie das, was keine Seite will, nämlich eine Friedensvereinbarung? Weil das erstens gut für die öffentliche Meinung ist, mein Friedman, und zweitens die USA nichts kostet.

    Die Beteiligten aber kosten solche Verhandlungen etwas; wie Friedman in dem Zitat darlegt. Friedensverhandlungen, schreibt er an anderer Stelle, hätten die häßliche Eigenschaft, innenpolitische Krisen auszulösen. Beide Seiten fürchten also nichts mehr, als daß Obama sie allzu hart bedrängt, tatsächlich Frieden zu schließen. Sie werden das nicht tun, aber schon der Anschein könnte sowohl die Fatah als auch die Regierung Israels in Schwierigkeiten bringen.

    Aber so, wie man Präsident Obama kennt, wird er die beiden Seiten nicht allzu hart bedrängen, mit dem Frieden ernst zu machen; sondern er wird es bei der Show belassen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Marginalie: Der Geist der DDR wider den Geist der Achtundsechziger. Schulkampf in Berlin

    In "Welt-Online" hat Alan Posener gestern über ein bemerkenswertes Phänomen berichtet: das Wiedererstarken der DDR-Pädagogik im vereinigten Berlin.

    Verschwunden war sie nie, diese autoritäre, am Kollektiv statt am Individuum ausgerichtete Pädagogik, der es primär um das Einpauken von Wissen ging und sehr wenig um die Entwicklung selbständigen Denkens. Jetzt scheint sie wieder Auftrieb zu bekommen. Posener:
    In Berlin findet zurzeit in Lehrer- und Klassenzimmern ein Kulturkampf zwischen Ost und West statt. Die Konfrontation erlaubt einen Blick auf einen Kontinent, der sonst unter Wasser liegt: die Kontinuität der schwarzen DDR-Pädagogik in den neuen Ländern.
    In den neuen Ländern und in gewissem Umfang auch im Westen Berlins; denn aufgrund des Lehrerüberhangs in Ostberlin sind viele Pädagogen in den Westen versetzt worden.

    Lehrer waren neben der Partei und dem MfS das Rückgrat des DDR-Kommunismus. Auf sie mußte man sich verlassen können, wenn man die Kinder zu den gehorsamen Untertanen erziehen wollte, die der Staat brauchte.

    Es mag sein, daß viele dieser Lehrer heute zu Demokraten geworden sind; das dürfte sich schwer ermitteln lassen. In ihrer Didaktik scheinen sie, folgt man Poseners Artikel, jedenfalls dem treu geblieben zu sein, was sie "zu DDR-Zeiten" gelernt haben:
    Einst war die Lehrerschaft die Stütze des DDR-Regimes. "Vom Beginn der Achtzigerjahre an wurden Lehrer in der DDR gezielt aus zuverlässigen Familien ausgewählt", sagt die ehemalige Bürgerrechtlerin Freya Klier. Heute ist diese Lehrerschaft die Speerspitze eines Rollbacks der westlichen "Kuschelpädagogik". Westkollegen reden von "Ossifizierung" der Schule.


    Wie ist dieses Comeback der DDR-Pädagogik möglich? Es gibt sicherlich - wie immer - mancherlei Faktoren; nicht zuletzt das allgemeine Wiedererstarken der Kommunisten in Deutschland und natürlich die besondere Situation in Berlin, daß sie dort in der Regierung sitzen. Sich zur DDR zu bekennen, dazu gehört in einem solchen Klima kein Mut. Auch funktionierende Seilschaften dürften eine wesentliche Rolle spielen.

    Es gibt aber darüber hinaus einen objektiven Aspekt: Mit der Kuschelpädagogik der Achtundsechziger konnte es ja wirklich nicht so weitergehen. Der Pisa-Schock hat das erschreckend vor Augen geführt. In Berlin gab es die große Debatte um die Rütli-Schule, deren Rektorin in ihrem "Hilferuf" vom März 2006 schrieb, daß "die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber".

    Der Pisa-Schock hat deutlich gemacht, daß in vielen deutschen Schulen - mit Ausnahme der unionsregierten Länder Süddeutschlands - zu wenig an Wissen und an Fertigkeiten erworben wird. Die Diskussion um die Rütli-Schule hat vor Augen geführt, daß an vielen deutschen Schulen ein Maß an Disziplinlosigkeit herrscht, das ein erfolgreiches Lernen nachgerade unmöglich macht.

    Mehr Lernen handfester Inhalte, mehr Autorität der Lehrer - das ist also seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts, für jeden sichtbar, das Gebot der Stunde. Dafür gibt es seither sozusagen einen Markt.

    Und auf diesem Markt gibt es so etwas wie einen Monopolisten: die DDR-Pädagogik. Sie liefert genau das, was jetzt nachgefragt wird.

    Warum gibt es so gut wie keine Wettbewerber? Weil über Jahrzehnte der pädagogische Ansatz aus der Zeit der Achtundsechziger die Pädagogik der Bundesrepublik dominiert hat:

    Kritisches Denken ist wichtiger als die Aneignung von Sachwissen. Dem Lehrer steht keine Autorität über seine "Sachautorität" hinaus zu. Die Naturwissenschaften können vernachlässigt werden, denn sie tragen wenig zur Persönlichkeitsbildung und zum kritischen gesellschaftlichen Bewußtsein bei. Es ist nicht Aufgabe der Schule, den Nachwuchs für die Industrie auszubilden, sondern sie hat einen Bildungsauftrag.

    Jedenfalls in dieser Einseitigkeit ist dieses Konzept gescheitert. Aber es gab in der Bundesrepublik - von entsprechend berühmt gewordenen Außenseitern wie Bernhard Bueb abgesehen - kaum pädagogische Konzepte, die an seine Stelle hätten treten können.

    Also konnte und kann die verstaubte DDR-Pädagogik die Lücke füllen. In der Not frißt der Teufel Fliegen, pflegte meine Großmutter zu sagen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    23. August 2010

    Zitat des Tages: "Botschafter der Ehre und menschlichen Großherzigkeit". Ahmadinedschad enthüllt eine neue Waffe

    This jet is a messenger of honour and human generosity and a saviour of mankind, before being a messenger of death for enemies of mankind. (...) The key message is friendship.

    (Dieses Düsenflugzeug ist ein Botschafter der Ehre und menschlichen Großherzigkeit und ein Erretter der Menschheit, bevor es ein Bote des Todes für die Feinde der Menschheit ist. (..) Die Hauptbotschaft ist Freundschaft).

    Der iranische Präsident Ahmadinedschad bei der Enthüllung des ersten im Iran gebauten unbemannten Bombers laut einer gestrigen Meldung von BBC.


    Kommentar: Das die BBC-Meldung begleitende Foto ist sehenswert. Es zeigt, wie sich totalitäre Regimes in ihrer Ästhetik ähneln. Solche gestellten Szenen haben die Kommunisten ebenso wie die Nazis geschätzt; heute kommen solche Bilder oft aus Cuba oder Nordkorea. Auch Ahmadinedschads blumiger Kommentar ist augenscheinlich an die Friedensrhetorik der Kommunisten angelehnt.

    Der unbemannte Bomber ("Drohne"), den Ahmadinedschad vorstellte, trägt den Namen "Karrar". Er kann zwei 250-Pfund-Bomben oder eine 500-Pfund-Bombe tragen und hat eine Reichweite von 1000 km, kann also Israel erreichen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an The Slatest.

    Marginalie: Blick hinter die Kulissen der Machtpolitik. Vincent Jauvert recherchiert über François Mitterand

    Vincent Jauvert ist außenpolitischer Redakteur des französischen Nachrichtenmagazins Le Nouvel Observateur mit einer besonderen Neigung für's Geheime; ich habe immer einmal wieder über seine Recherchen und Analysen berichtet (siehe z.B. So hat er's gemacht; ZR vom 7. 5. 2008).

    Jetzt hat Jauvert wieder einen Coup gelandet: Er ist nach Washington geflogen und hat in den dortigen Archiven nach bisher Geheimem aus der Geschichte der französisch-amerikanischen Beziehungen geforscht. Dazu schrieb er für den Nouvel Observateur zwei Artikel, die er gestern in seinem Blog ins Netz gestellt hat.

    Darin finden sich zahlreiche Belege für den immer schon vermuteten, aber noch nie so direkt nachgewiesenen Machiavellismus von François Mitterand; des "Florentiners", wie man ihn deshalb genannt hat. Er war ein Zyniker der Macht, und er beherrschte das skrupellose Machtspiel in der besten - oder, wenn man will, schlimmsten - Tradition von Richelieu und Talleyrand.

    Ein Beispiel:

    Am 24. Juni 1981, einen Monat nachdem Mitterand Staatspräsident geworden war, schickte Präsident Reagan seinen Vize George Bush nach Paris, um herauszufinden, welchen Kurs die neue Regierung steuern werde.

    Der Besuch ließ sich schlecht an, denn am Morgen desselben Tages war bekanntgegeben worden, daß der neuen Regierung vier Kommunisten angehören würden.

    Wie sollte Bush - er war einmal Chef der CIA gewesen - reagieren? Seine Berater rieten zur größten Vorsicht; man wollte jeden Anschein einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs vermeiden. Bush würde das Thema erst einmal meiden.

    Mitterand kam aber von sich aus darauf zu sprechen und enthüllte Bush seine Pläne mit den Kommunisten. Der Staatspräsident laut dem von Jauvert aufgefundenen Protokoll zu Bush:
    Avoir des ministres communistes au gouvernement leur fait perdre leur originalité. Ils devraient donc être de moins en moins capables de rallier des voix au-delà [de leur électorat de base]. (...) Ils vont rester longtemps au gouvernement, se cramponnant à leur postes, et leur érosion sera grande.

    Minister der Kommunisten im Kabinett zu haben, nimmt diesen ihre Originalität. Sie werden also immer weniger in der Lage sein, Stimmen [über ihre Stammwählerschaft] hinaus zu gewinnen. (...) Sie werden lange in der Regierung bleiben, sich in ihren Ämtern festkrallen, und sie werden eine große Erosion erfahren.
    Und wie stand es mit militärischen Geheimnissen angesichts von vier Kommunisten im Kabinett?

    Mitterand hatte zwar dem Kommunisten Charles Fiterman das Verkehrsministerium gegeben; damit waren die notorisch streikbereiten kommunistischen Eisenbahner ruhiggestellt. Aber zuvor hatte Mitterand diesem Ministerium alle militärisch relevanten Kompetenzen entzogen. Anders als seine Vorgänger war Fitermann nicht für die Ferngasleitungen der Nato zuständig; auch verweigerte man ihm den Einblick in die Mobilisierungspläne für die Eisenbahnen im Kriegsfall.

    Bush war beruhigt und - so meldete es später der französische Botschafter in Washington nach Paris - "baff" (épaté) über so viel Machiavellismus.



    Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Außenpolitik:

    In den letzten Jahren der Regierung von Mitterands Vorgänger Giscard d'Estaing hatte es eine - so Jauvert - "ultrageheime" nukleare Zusammenarbeit zwischen Paris und Washington gegeben; die Amerikaner hatten Frankreich wesentlich beim Aufbau seiner force de frappe, seiner Atomstreitmacht, geholfen ("Operation Apollo"). Giscard informierte Mitterand erst am Tag der Amtsübergabe darüber.

    Wie sollte Washington nun gegenüber einer Regierung verfahren, in der Kommunisten saßen? Die USA erklärten sich unter zwei Bedingungen zur Fortsetzung der Operation Apollo bereit: Erstens müßte Frankreich garantieren, daß auch weiter strikte Geheimhaltung gelte. Zweitens verlangten die Amerikaner, daß die Außenpolitik Frankreichs in den großen Linien auch weiterhin mit derjenigen der USA übereinstimmen werde.

    Nachdem das Anfang Januar 1982 so vereinbart worden war, erfuhr die CIA, daß wenige Tage zuvor Frankreich ein Waffenlieferungs-Abkommen mit den sandinistischen Rebellen in Nicaragua geschlossen hatten.

    In der US-Regierung schäumte man vor Wut: Ausgerechnet im Hinterhof der USA bewaffnete die französische Regierung deren Erzfeinde. Die nukleare Zusammenarbeit im Rahmen der Operation Apollo wurde sofort außer Kraft gesetzt. Im übrigen würde man abwarten, bis Mitterand nach Washington kommen und eine Erklärung für das Verhalten seiner Regierung liefern werde.

    Mitterand ließ sich Zeit; erst am 12. März erschien er mit einer kleinen Delegation in Washington. Beim Arbeitsessen ging Präsident Reagan ohne lange Vorrede auf das Thema los: Die USA würden keine Kommunisten "südlich des Rio Grande" dulden. Entweder Frankreich mache den Waffenhandel rückgängig, oder die USA würden die Operation Apollo beenden.

    Und wie reagierte Mitterand? Mit einem wirklich bemerkenswerten Zynismus. Er sagte Reagan, Verträge seien Verträge, und Frankreich müsse also die Waffen liefern. Weitere Lieferungen werde es nicht geben. Und was die jetzt vereinbarten anginge: Frankreich würde der CIA rechtzeitig Zeit und Ort der Waffenübergabe mitteilen. Die Amerikaner könnten dann alles zur Sabotage tun, was sie für richtig hielten.



    Was die Kommunisten anging, funktionierte Mitterands Zynismus übrigens bestens. Bei den Wahlen im Juni 1981, also unmittelbar nach dem Amtsantritt Mitterands, hatten die Kommunisten noch 16,13 Prozent der Stimmen erreicht. Mitterand amtierte bis 1995. Bei den ersten auf das Ende seiner Amtszeit folgenden Wahlen, im Mai 1997, erhielten die Kommunisten noch 3,83 Prozent.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.