31. Januar 2011

Mal wieder ein kleines Quiz: Wer sagte das über Ägypten?

Ägypten zum Beispiel meldet ein starkes Wirtschaftswachstum, verfügt über einige der weltweit am schnellsten wachsenden Telekommunikations-Unternehmen und hat große Investitionen getätigt, die Tourismus und Handel voranbringen werden. Damit dieser wirtschaftliche Fortschritt zu dauerhaftem Wohlstand und zu einem Ägypten führt, das sein volles Potential entfaltet, muß jedoch die Wirtschaftsreform von politischen Reformen begleitet werden. Und ich glaube weiter daran, daß Ägypten der Region bei der politischen Reform vorangehen kann. (...)

Manche behaupten, daß jeder Staat, in dem eine Wahl stattfindet, eine Demokratie sei. Eine wahre Demokratie verlangt aber starke politische Parteien, denen es erlaubt ist, eine freie und lebendige Diskussion zu führen. Wahre Demokratie verlangt die Schaffung staatsbürgerlicher Institutionen, welche die Legitimität einer Wahl garantieren und welche die Politiker zur Verantwortung ziehen. Und wahre Demokratie verlangt Wahlen, in denen mehrere Parteien gegeneinander antreten und bei denen die Kandidaten der Opposition ohne Angst oder Einschüchterung ihren Wahlkampf führen können.



Quizfrage: Wer sagte das über Ägypten, und bei welcher Gelegenheit? Diesmal frage ich das nicht mit Antwort-Alternativen, sondern stelle es als offene Frage. Es könnte ein regierender Staatsmann sein, ein früherer Staatsmann; oder vielleicht ist es ein bekannter Historiker, ein Politologe, ein Nobelpreisträger gar?

Die Antwort finden Sie wie immer in Zettels kleinem Zimmer; zusammen mit weiterem Material und einem Kommentar.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Werner Senzig.

Aufruhr in Arabien (4): Plünderer, Bürgerwehren, die Armee, die Polizei. Und die Moslem-Bruderschaft. Die Machtsituation in Ägypten

In Ägypten herrscht zunehmend Gewalt; unter anderem ausgeübt von Gefangenen, denen der Ausbruch aus den Gefängnissen gelang. Über den Hintergrund grassiert eine abenteuerliche Verschwörungstheorie, die gestern auch von den "Tagesthemen" der ARD verbreitet wurde.

Der Moderator Tom Buhrow sprach von einem "schlimmen Verdacht": "Das Regime schüre selbst das Chaos, um später als Retter in der Not aufzutreten". Der Kairoer Korrespondent Jörg Armbruster wurde noch konkreter:
Das sieht ganz danach aus, daß es eine koordinierte Aktion war, denn irgend jemand muß ja diese vielen Gefängnistüren aufgeschlossen haben. Und wenn man sich fragt, wem nützt diese ganze Aktion, wem nützt die Angst der Menschen, die sich jetzt immer mehr hier in Kairo und im ganzen Land verbreitet, dann kommt man sehr schnell auf das Regime. Und wenn man sich fragt, wem schadet diese Aktion, dann kommt man auf die Demonstranten. Denn die Angst der Menschen wendet sich gegen die Demonstranten. Und ich vermute sehr stark, daß hinter der Freilassung der Gefangenen ein ganz perfider Plan steckt.
"Auch das sehr erschütternde Informationen. Danke, Jörg Armbruster in Kairo" kommentierte das Tom Buhrow.

Informationen? Daß Gefangene ausgebrochen sind, ist allgemein bekannt. Darüber hinaus hat der Korrespondent Armbruster keine Informationen geliefert, null. Er hat vielmehr eine Verschwörungstheorie weitergegeben, die in Ägypten, die im Internet kursiert.

Armbruster fragt, wem der Ausbruch der Gefangenen nutzt, wem sie schadet. Eine gute Frage. Dem Regime, meint er, nütze diese Aktion. Ist das eine gute Antwort?

Daß ein Regime, das durch eine Revolution bedroht ist, bewußt das Chaos schürt, wäre etwas in der Geschichte von Revolutionen zumindest Ungewöhnliches. Wenn ein etabliertes System bedroht ist, dann tut es in der Regel alles, um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht; das ist dann die Devise. Die Regierung Tunesiens hat gerade vorexerziert, wie man sie umsetzen kann (siehe Die (vorerst) gescheiterte (Fast-) Commune in der Kasbah von Tunis; ZR vom 30. 1. 2011).



Das Gerücht, das Jörg Armbruster weitergibt, hat also nicht eben eine hohe Plausibilität. Daß Mubarak sein Land bewußt ins Chaos führt, um am Ende doch weiterregieren zu können, ist ein phantasievoller Gedanke, aber kein unbedingt einleuchtender. Von hinten durch die Brust geschossen; das kommt selten vor.

Es gibt aber mindestens zwei andere Verschwörungstheorien. Auch von ihnen ist keine bewiesen; das haben Verschwörungstheorien so an sich. Aber jede ist plausibler als das, was die "Tagesthemen" gestern ihren Zuschauern zugemutet haben und was in der Tat "erschütternde Informationen" waren; aber in einem anderen als dem von Moderator Buhrow intendierten Sinn.

Die eine dieser Theorien konnte man am Samstag bei Stratfor (in einem nur Abonnenten zugänglichen Bericht) lesen. Danach findet im Augenblick hinter den Kulissen ein Machtkampf zwischen (Geheim-)Polizei und Militär statt.

Das Militär genießt bisher vergleichsweise hohes Ansehen im Volk; in Kairo auffahrende gepanzerte Fahrzeuge wurden sogar von Demonstranten beklatscht (siehe "Mubaraks Spiel ist aus". Aber ist es das?; ZR vom 28. 1. 2011). Die Verschwörungstheorie geht nun so:

Es gibt (das ist belegt) eine historische Feindschaft zwischen der Polizei und dem Offizierskorps des Militärs. Nach Quellen von Stratfor ist sie in den vergangenen Tagen eskaliert. Die Polizei möchte - so geht die Verschwörungstheorie - das Militär zwingen, sich an ihrer Seite gegen die Demonstranten zu stellen. Um das zu erreichen, würden - immer nach dieser Theorie - Geheimpolizisten Strafgefange freilassen und Plünderungen provozieren; das sollte dem Militär keine andere Wahl lassen, als gegen den Aufruhr loszuschlagen.

Die zweite Verschwörungstheorie richtet sich auf die Rolle der Moslem-Brunderschaft (MB) und der Hamas (die als ein Ableger der MB entstanden ist). Am Samstag Nachmittag brachte Stratfor dazu einen Bericht aus einer ungenannten Quelle in der Hamas, in dem es heißt:
The Egyptian police are no longer patrolling the Rafah border crossing into Gaza. Hamas armed men are entering into Egypt and are closely collaborating with the MB. The MB has fully engaged itself in the demonstrations, and they are unsatisfied with the dismissal of the Cabinet. They are insisting on a new Cabinet that does not include members of the ruling National Democratic Party.

Security forces in plainclothes are engaged in destroying public property in order to give the impression that many protesters represent a public menace. The MB is meanwhile forming people’s committees to protect public property and also to coordinate demonstrators’ activities, including supplying them with food, beverages and first aid.

Die Polizei patrouilliert nicht mehr an der Grenze zu Gaza bei Rafah. Bewaffnete der Hamas dringen nach Ägypten vor und arbeiten eng mit der MB zusammen. Die MB ist vollständig in die Demonstrationen einbezogen und mit der Entlassung des Kabinetts noch nicht zufrieden. Sie besteht darauf, daß einem neuen Kabinett keine Mitglieder der regierenden National Democratic Party angehören.

Sicherheitskräfte in Zivil zerstören öffentliches Eigentum, um den Eindruck zu erwecken, daß viele der Protestierer eine öffentliche Gefahr darstellen. Die MB bildet inzwischen Volkskomitees zum Schutz öffentlichen Eigentums sowie zur Koordination der Aktivitäten der Demonstranten. Dazu gehört die Versorgung mit Nahrung, Getränken und Erster Hilfe.
Stratfor weist darauf hin, daß es für diese Informationen bisher keine Bestätigung gibt. Aber wenn sie stimmen, dann sind die "Bürgerwehren" nicht so spontan entstanden, wie es der Bericht der "Tagesthemen" darstellte; dann ist die MB bereits dabei, eine Gegenmacht aufzubauen. Sie kann dazu die Erfahrungen der Hamas in den Palästinensergebieten nutzen; ebenso diejenige der Hisbollah im Libanon.

Auch auf die Flucht von Gefangenen wirft diese Meldung ein neues Licht. In der Nacht zum Montag strahlte Al Jazeera einen Bericht von der Grenze zum Gaza-Streifen aus, in dem entkommene Gefangene gezeigt wurden. Es waren Hamas-Kämpfer, die in ägyptische Gefangenschaft geraten waren und die sich jetzt hatten befreien können. Oder die von Wachpersonal freigelassen wurden; man darf nicht vergessen, daß die MB in allen Teilen der ägyptischen Bevölkerung viele Sympathisanten hat. Wenn bei solchen Aktionen auch gewöhnliche Kriminelle freikamen, muß dahinter nicht unbedingt die Geheimpolizei stecken.

Als ein weiteres Machtzentrum erweist sich, wie Stratfor am späten Samstag Abend berichtete, immer mehr das Militär. Sowohl der neue Vizepremier Omar Suleiman als auch der neue Premier Ahmed Shafiq sind Berufssoldaten. Im Hintergrund sind nach den Informationen von Stratfor der Verteidigungsminister, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, und der Stabschef der Streitkräfte, Generalleutnant Sami Annan, tätig; der letztere auch als Verbindungsmann zur US-Regierung.



Bemerkenswert ist, wie wenig bei allen diesen Analysen von demokratischen Parteien, von El Baradei und anderen politischen Kräften die Rede ist. Das Spiel um die Macht scheint vielmehr im Augenblick zwischen drei Kraftzentren stattzufinden:
  • Dem alten Regierungsapparat einschließlich der Regierungspartei, der Polizei und vor allem der Geheimpolizei.

  • Dem Militär; wobei ungewiß ist, inwieweit die Generalität und die mittlere Offiziersebene gleiche Ziele verfolgen. Man darf nicht vergessen, daß das heutige politische System Ägyptens aus der Militärdiktatur des Obersten Nasser und seiner Offizierskameraden hervorgegangen ist; also von unzufriedenen jungen Offizieren.

  • Der MB mit Unterstützung der Hamas, die sich auf eine mögliche Machtübernahme vorbereiten, indem sie nach dem alten Rezept der Hamas und der Hisbollah eine Gegenmacht zur Staatsmacht aufbauen; jetzt zunächst in Gestalt von "Bürgerwehren" und der logistischen Unterstützung von Demonstrationen.
  • Kritisch wird sein, wer sich mit wem jedenfalls eine Strecke weit verbündet; wer wen für seine Ziele zu benutzen versucht.

    Der alte Machtapparat will das Militär ins Boot holen, von dem aber jedenfalls Teile mehr mit den Demonstranten sympathisieren dürften. Um deren Unterstützung bemüht sich die MB. Das Interesse, das sie in der augenblicklichen Situation mit dem Militär gemeinsam hat, könnte darin bestehen, den alten Apparat zu entmachten und die Lage zunächst einmal zu stabilisieren. Die MB könnten das zum ruhigen Aufbau ihrer Gegenmacht nutzen; die Militärs dürften vor allem am Erhalt ihrer Privilegien interessiert sein.



    Gestern am späten Abend brachte Stratfor eine weitere Analyse; die dieses Bild bestätigt und ergänzt. Sie deutet auf eine möglicherweise dramatische Entwicklung hin.

    Danach haben sich das Militär und die Polizeiführung am gestrigen Sonntag nun doch auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Das Ziel ist es, die Demonstrationen zu beenden. Die Polizei, die sich zurückgezogen hatte, wird aufgrund eines Befehls von Innenminister Habib al-Adly wieder überall eingesetzt werden. Man werde in den folgenden Stunden gemeinsam mit dem Militär gegen die Demonstranten losschlagen, besagen die Quellen von Stratfor.

    Es scheint also, daß eine Machtprobe bevorsteht. Die Berichte von CNN, BBC und Al Jazeera, die ich die Nacht über verfolgt habe, geben allerdings bis jetzt (gegen 3.30 Uhr MEZ, also 4.30 Uhr Kairoer Zeit) noch keine Hinweise auf ein bevorstehendes Zuschlagen von Polizei und Militär.

    Man sah im Gegenteil Panzer mit Transparenten, die eine Verbrüderung mit den Demonstranten ausdrückten. Die Polizei hält sich bisher noch zurück. Das ist dasselbe Bild wie in den letzten Tagen. Aber das kann die Ruhe vor dem Sturm sein. Wenn Sie dies lesen, könnte sich die Situation schon dramatisch zugespitzt haben.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.

    30. Januar 2011

    Aufruhr in Arabien (3): Die (vorerst) gescheiterte (Fast-) Commune in der Kasbah von Tunis

    Wer Revolutionen verstehen will, der sollte Rosa Luxemburgs Kritik am - wie sie es in der ihr eigenen Sprache nennt - "parlamentarischen Kretinismus" der deutschen Sozialdemokraten zur Kenntnis nehmen: "Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg" (siehe Rosa Luxemburg, die Dikatur des Proletariats und die Freiheit des Andersdenkenden; ZR vom 7. 1. 2011).

    Sehr demokratisch ist das nicht gedacht; aber den tatsächlichen Ablauf vieler Revolutionen beschreibt dieser Satz der kommunistischen Revolutionärin richtig.

    Am Anfang steht meist eine gewissermaßen negative Mehrheit: Eine breite Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. Aber klare Ziele haben viele der Unzufriedenen nicht; jedenfalls zunächst nicht. Den Weg weisen ihnen oft erst die Entschlossenen, die Disziplinierten; nicht selten diejenigen, die sich schon lange organisatorisch und ideologisch auf die Revolution vorbereitet hatten. Lenins Bolschewiken zum Beispiel in der russischen Revolution, die schiitischen Fanatiker des Ayatollah Chomeini in der iranischen Revolution von 1979 (siehe Einige Anmerkungen zur tunesischen Revolution; zu revolutionären Situationen überhaupt; ZR vom 19. 1. 2011).

    Bei der Beurteilung der Vorgänge in Tunesien und jetzt in Ägypten tut man gut daran, diesen simplen Sachverhalt im Auge zu behalten. Die Sieger könnten am Ende diejenigen sein, die gegenwärtig noch überhaupt nicht das Bild der Ereignisse prägen.

    In Tunesien zum Beispiel revolutionäre Kommunisten. Das ist im Augenblick nicht mehr wahrscheinlich, aber es ist immer noch möglich. In Ägypten könnte es zur Machtübernahme durch die Moslem-Bruderschaft und die Hamas kommen; ein jetzt sehr viel wahrscheinlicheres Szenario. Über dieses berichte ich in der nächsten Folge; jetzt zuerst etwas zu Tunesien.



    Bei der Suche nach Augenzeugenberichten bin ich auf die täglichen Berichte von Alma Allende gestoßen, einer in Tunis lebenden Linksaktivistin tunesisch-spanischer Abstammung. Auch wenn diese Artikel eine sehr eindeutige politische Stellungnahme erkennen lassen, erscheinen sie doch gut recherchiert und enthalten viele Details; vor allem eigene Beobachtungen und zahlreiche Gespräche mit Beteiligten.

    Sie zeigen, wie nach der Flucht von Ben Ali Kommunisten und ihre Unterstützer eine zweite Revolution versuchten; eine Revolution in der Revolution, ganz nach dem Vorbild Lenins. Man kann den Ablauf aus der Sicht von Alma Allende recht gut an den Überschriften ihrer täglichen Artikel ablesen (die Links führen zu den spanischen Texten; einige findet man im Internet auch in andere Sprachen übersetzt):
  • 18. 1. ¿Reforma o ruptura? (Reform oder Umsturz?)
  • 19. 1. Pues eso: revolución (Nun dies: Die Revolution)
  • 20. 1. Haciendo planes (Pläne schmieden)
  • 21. 1. Siempre adelante (Allzeit voran)
  • 22. 1. Cae o no cae? (Fällt es oder fällt es nicht?)
  • 23. 1. Se estira se estira y no se rompe (Es zieht und zieht sich hin, und kein Bruch)
  • 24. 1. Las vastas afueras toman la ciudad (Das Umland erobert die Stadt)
  • 25. 1. No es por el paro, es por la dignidad (Es geht nicht um Streik, es geht um Würde)
  • 26. 1. La lucha de clases (Der Klassenkampf)
  • 27. 1. Tensión en la Qasba (Anspannung in der Kasbah)
  • 28. 1. Obstinación y contrarrevolución (Widerstand und Konterrevolution)
  • 29. 1. El asalto de la Qasba (Der Sturm auf die Kasbah)
  • 30. 1. Se acabó la libertad (Das Ende der Freiheit)
  • Geschildert wird in dieser Chronik einer vorerst gescheiterten Revolution, wie in diesen knapp zwei Wochen immer mehr revolutionär Gesonnene aus dem Umland und den Vorstädten ins Zentrum von Tunis strömten; wie es tagelange Besetzungen, Streiks, Demonstrationen trotz Ausgehsperre gab.

    Die Kasbah war das Zentrum einer versuchten Revolution geworden. Noch nicht der Pariser Commune vergleichbar, aber doch mit der Absicht, etwas Ähnliches zu schaffen.

    In ihren letzten Artikeln wurde die Autorin - gegeben ihre revolutionären Hoffnungen - immer pessimistischer. Dann konstatierte sie das vorläufige Ende. Gestern schrieb sie:
    Cinco días ha durado el lugar más hermoso de la tierra. Por fin esta tarde, a las 16 h., la policía ha asaltado la Qasba, matando a Omar Auini, asfixiado por los gases lacrimógenos, e hiriendo al menos a 15 personas, la mayor parte de ellas con fracturas en manos y piernas.

    Fünf Tage dauerte der schönste Ort der Welt. Heute am Spätnachmittag, um 16 Uhr, hat die Polizei die Kasbah gestürmt und Omar Auini, der an Tränengas erstickte, getötet; mindestens 15 Personen wurden verletzt, meist durch Frakturen der Hände oder Beine.
    Und heute schreibt sie:
    Lo que era el desarrollo de una revolución se ha convertido de pronto en la asustada defensa de algunas pequeñas reformas.

    Was die Entfaltung einer Revolution gewesen war, hat sich unversehens in die angsterfüllte Verteidigung einiger kleiner Reformen verwandelt.
    Wo seien sie hin, die Revolutionäre der Kasbah? Zurück in ihren Dörfern? Was dächten sie jetzt? Was würden sie nun tun? fragt Alma Allende.

    Ja, das ist zu fragen. Ein erster Versuch, aus der bürgerlichen eine proletarische Revolution hervorzubringen, ist gescheitert; wahrscheinlich hatte er nie eine Chance. Im Schatten der Ereignisse in Ägypten - so sieht es Alma Allende - konnte die Regierung ihn gewaltsam beenden.

    Ein kleiner Abschnitt freilich nur; eine Episode in einem Prozeß, dessen weitere Entwicklung und dessen Ausgang völlig offen sind.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.

    29. Januar 2011

    Marginalie: Der "Spiegel" und die Frauenquote. Ein Blick in die Redaktion des "Spiegel". Und ein Blick auf sein aktuelles Titelbild

    Im Impressum des "Spiegel" findet man im aktuellen Heft die folgenden Leiter der Textressorts und Mitglieder der Chefredaktion aufgeführt:
  • Chefredakteure: Georg Mascolo, Mathias Müller von Blumencron
  • Stellvertretender Chefredakteur: Dr. Martin Doerry
  • Textchef: Klaus Brinkbäumer
  • Hauptstadtbüro: Dirk Kurbjuweit
  • Deutschland: Konstantin von Hammerstein, Alfred Weinzierl
  • Berliner Büro: Holger Stark
  • Wirtschaft: Armin Mahler, Thomas Tuma
  • Ausland: Hans Hoyng
  • Wissenschaft und Technik: Johann Grolle, Olaf Stampf
  • Kultur: Lothar Gorris
  • Gesellschaft: Matthias Geyer, Cordt Schnibben
  • Sport: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger
  • Sonderthemen: Dietmar Pieper
  • Chef vom Dienst: Thomas Schäfer
  • Zwanzig Männer. Null Frauen.

    Zwei Frauen sind allerdings unter den neun stellvertretenden Ressortleitern, die ich nicht aufgeführt habe. Dort, wo bei der montäglichen Redaktionskonferenz die Granden sitzen, findet man keine einzige Frau.



    Das Titelbild des "Spiegel" der kommenden Woche (Heft 5/2011 vom 31. 1. 2011) können Sie hier sehen. Es zeigt die Zeichnung einer jungen Karrierefrau (Hosenanzug, Akten unter dem Arm, Imponierpose) und trägt die Zeile: "Warum Deutschland die Frauen-Quote braucht".

    Der "Spiegel" hat sie bisher offenbar nicht gebraucht. Mit einer verkauften Auflage von 974.638 Exemplaren (4. Quartal 2010) und einer Reichweite von 6.549.000 Lesern ist er seit Jahrzehnten das größte deutsche und nach eigenen Angaben auch das größte europäische Nachrichtenmagazin.

    Warum braucht Deutschland die Frauenquote, wenn der "Spiegel" sie augenscheinlich nicht braucht? Warum brauchen zum Beispiel deutsche Vorstände und Aufsichtsräte sie, wenn die Redaktion des "Spiegel" sie nicht braucht?

    Die zuständige Ministerin Kristina Schröder will sie jedenfalls. Nur sagt sie nicht, warum sie denn die Frauenquote will. In FAZ.Net schreibt Julia Löhr:
    Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) hat sich am Freitag dafür ausgesprochen, den Frauenanteil in Führungspositionen mit Hilfe einer "flexiblen Quote" zu erhöhen und angekündigt, ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten. Es soll eine Pflicht zur Selbstverpflichtung enthalten: Jedes größere Unternehmen solle sich eine Frauenquote für Vorstand und Aufsichtsrat setzen und diese binnen zweier Jahre erfüllen. (...) Kommen soll die flexible Quote aber nur dann, wenn sich der durchschnittliche Frauenanteil in den deutschen Führungsetagen nicht von selbst bis zum Jahr 2013 verdreifacht.
    "Von selbst" sagt sie, die Ministerin; jedenfalls wird sie so zitiert.

    "Von selbst" kommt aber in einem Unternehmen nur das, was nach dem Urteil der Verantwortlichen im Interesse ihres Unternehmens liegt. Es kommt dann in dem Sinn "von selbst", daß sie selbst es sind, die das aus ihrer Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens heraus entscheiden.

    Wie eine solche verantwortliche Entscheidung aussehen kann, das zeigt die Zusammensetzung der Redaktion des "Spiegel". Wie Politiker es haben wollen, die keine Verantwortung für ein Unternehmen tragen, das zeigt die Titelgeschichte des "Spiegel"; das zeigen die Äußerungen der Ministerin Kristina Schröder.



    Ach ja, Schröder. Mit welchen ganz neuen Gesichtern in den Aufsichtsräten man wird rechnen müssen, wenn ihnen gesetzlich eine Frauenquote auferlegt werden wird, das habe ich kürzlich anhand eines kleinen Beispiels kommentiert: Die Aufsichtsrätin Doris Schröder-Köpf; ZR vom 19. 1. 2011.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Jan Filter, dessen Artikel zu diesem Thema ich empfehle.

    28. Januar 2011

    Aufruhr in Arabien (2): "Mubaraks Spiel ist aus". Aber ist es das? Er ist kein Ben Ali

    "Mubarak's game is over"; Mubaraks Spiel sei aus, hat ein Journalist von Al Jazeera heute Abend gesagt.

    Die Berichterstattung sowohl von Al Jazeera als auch von CNN und der BBC, die ich seit dem späten Nachmittag verfolge, ließ das in der Tat als wahrscheinlich erscheinen. Es häuften sich die Indizien dafür, daß Mubarak die Macht verlieren würde:
  • Es herrscht offener Aufruhr. Auch noch am späten Abend brannten Gebäude (unter anderem Polizeistationen und die Zentrale der Staatspartei NDP); und es wurden Polizeiwagen angegriffen, angezündet, umgestürzt.

  • Das Militär ist offenbar jedenfalls in Teilen nicht mehr bereit, Mubarak zu unterstützen. Man sah Bilder von Militärfahrzeugen, aus denen die Soldaten den Demonstranten zuwinkten. Die Armee besteht zum größten Teil aus Wehrpflichtigen; mit ihnen wird sich das Regime nach Ansicht von Journalisten nicht stützen lassen.

  • Gegen 22.00 Uhr MEZ fuhren in der Nähe der NDP-Zentrale (wo Al Jazeera eine Kamera postiert hat) Schützenpanzer in einem langen Konvoi auf. Sie wurden von den Demonstranten beklatscht. Löschfahrzeuge waren im Einsatz; vermutlich, um ein Übergreifen der Brände auf das nahegelegene Nationalmuseum zu verhindern.

  • Ab ungefähr 15.00 Uhr Washingtoner Zeit (also 21.00 Uhr MEZ) übertrug CNN eine Pressekonferenz des (noch amtierenden, jetzt ausscheidenden) Sprechers des Weißen Hauses Robert Gibbs, der keine Unterstützung für Mubarak mehr erkennen ließ. Nein, Präsident Obama hätte seit Beginn der Straßenproteste nicht mit Mubarak telefoniert. Warum nicht? "We're monitoring a very fluid situation" - wir beobachten eine sehr instabile Situation.
  • In einem Interview von heute Abend sagte der Leiter von Stratfor, George Friedman:
    Well, certainly, Mubarak is coming to the end of his days. And it’s not yet clear what, if anything, it is going to do to the Middle East. (...)

    ... of course the Western media is immediately assuming that these are democratic reformers out there because they talk to the ones who speak English and they tend to be democratic reformers. We don’t know what the Muslim Brotherhood is doing, or capable of doing. So we don’t know if we’re going to get a military coup to replace Mubarak, we don’t know if we’re going to get a Islamic government, or if we’re simply going to have a succession, fairly orderly, when he passes on or even before then.

    Nun, mit Sicherheit geht Mubarak dem Ende seiner Tage entgegen. Und es ist noch nicht klar, ob das etwas mit dem Nahen Osten machen wird, oder was es machen wird. (...)

    ... natürlich nehmen die westlichen Medien sofort an, daß dies da draußen demokratische Reformer sind, weil sie mit denjenigen reden, die Englisch sprechen, und diese sind eher demokratische Reformer. Wir wissen nicht, was die Moslem-Bruderschaft macht oder wozu sie fähig ist. So wissen wir nicht, ob wir einen Militärputsch bekommen, durch den Mubarak abgelöst wird, wir wissen nicht, ob wir eine islamistische Regierung bekommen oder ob wir einfach eine vergleichsweise geordnete Ablösung haben, wenn er aus dem Leben scheidet oder vielleicht schon früher.




    Mit fast denselben Worten, wie jetzt Friedman die Lage in Ägypten beurteilt, habe ich am Montag die unsichere Situation in Tunesien beschrieben. Der Artikel (ZR vom 24. 1. 2011) hieß: Die tunesische Revolution (1): Ankündigung einer Serie. Darin stand auch:
    Was auch immer sich am Ende als der stabile Zustand erweisen wird, der aus der jetzigen Instabilität hervorgeht: Dieses Ergebnis der tunesischen Revolution wird weitreichende Auswirkungen auf die arabische Welt haben; also auf den gesamten Nahen Osten und damit auf die Weltpolitik.
    Daß sich das so schnell bestätigen würde, hatte ich allerdings nicht erwartet.

    Eine Serie nur über die tunesische Revolution macht jetzt keinen Sinn mehr. Ich habe den Titel deshalb geändert. Die Serie heißt jetzt "Aufruhr in Arabien"; und bei der ersten Folge vom Montag kommt die tunesische Revolution im umformulierten Titel nun erst nach dem Doppelpunkt.



    Überraschend ist Präsident Mubarak kurz nach 23.00 Uhr MEZ (also nach Mitternacht Kairoer Zeit!) im Fernsehen aufgetreten. Die Rede war für den Nachmittag angekündigt gewesen. Als sie ausblieb, rechneten Kommentatoren schon damit, daß Mubarak aufgegeben hatte; er schien verschollen zu sein.

    Nun hat er sich müde, aber kämpferisch seinem Volk gezeigt. Er hat mehr Demokratie versprochen, soziale Reformen, wirtschaftlichen Fortschritt. Am Ende der Rede kündigte er an, daß er die Regierung entlassen und eine neue Regierung berufen werde.

    Ein letzter, verzweifelter Versuch vor dem Ende, oder eine Wendung der Dinge in letzter Minute? Ein wenig hat mich das an de Gaulle im Mai 1968 erinnert, der ebenfalls verschwunden war (er hatte sich unter den Schutz französischer Truppen in Baden-Baden begeben), dann mit einer entschlossenen Rede auftrat und am Ende siegte, weil es ihm gelang, die schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Auch was die Ägypter in ihrer Mehrheit denken, wissen wir ja nicht. Es kann, aber es muß nicht mit dem übereinstimmen, was die heutigen Bilder aus Kairo, Alexandrien und anderen Städten signalisiert haben.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.

    Marginalie: "Gorch Fock", ein Brief, eine Resolution: Ist jetzt endlich Schluß mit den Vorverurteilungen?

    In "Spiegel-Online" steht seit eineinhalb Stunden ein Artikel von Matthias Gebauer": "'Gorch Fock'-Mannschaft beschwert sich bei Guttenberg".

    Darin ist von einem "SPIEGEL ONLINE vorliegende[n] Brief" an den Minister zu Guttenberg die Rede, der sich gegenwärtig in Davos aufhält. Absender: Die Stammbesatzung der "Gorch Fock".

    Auch Ihnen, lieber Leser, kann dieser Brief "vorliegen"; sie brauchen nur zum Blog "Spiegelfechter" zu gehen, wo er seit dem frühen Nachmittag zu lesen ist.

    Ich empfehle Ihnen die Lektüre. Die Darstellung in dem Brief erscheint schlüssig und sachlich; auch wenn deutlich wird, wie sehr die Besatzung durch die öffentliche Verurteilung verletzt ist, die über sie hereingebrochen ist, seit einige Offiziersanwärter, die dort Dienst getan hatten, mit Vorwürfen an die Öffentlichkeit gingen (siehe Unfälle bei der Bundeswehr und zwei ungeklärte Vorwürfe; ZR vom 22. 1. 2011).

    Im Anschluß an diesen Artikel von vor knapp einer Woche hat in Zettels kleinem Zimmer eine Diskussion begonnen, zu deren Themen Fragen der Unfallsicherheit und Unfallverhütung gehören. Ich möchte Ihnen auch diese dortige Diskussion empfehlen, da eine Reihe von Diskutanten beteiligt sind, die detaillierte Kenntnisse auf diesem Gebiet haben und aus deren Auseinandersetzung man Interessantes lernen kann.

    Und da ich beim Empfehlen bin: Vielleicht interessiert Sie diese Meldung von heute Nachmittag, wonach der Kieler Landtag
    ... sich klar zu seinem Patenschiff "Gorch Fock" bekannt [hat], das schweren Vorwürfen ausgesetzt ist. Mit Ausnahme der Linken beschlossen alle Fraktionen - CDU, SPD, FDP, Grüne und SSW - am Freitag einen Antrag zugunsten des Segelschulschiffes. Die Vorwürfe müssten aber rückhaltlos aufgeklärt werden, verlangte der Landtag in seiner Resolution. Vorverurteilungen und voreilige Schlussfolgerungen dürfe es nicht geben.
    Nach einer Woche "Affäre" regt sich offenbar hier und da die Vernunft.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an energist.

    Zitat des Tages: "WikiLeaks hat manipuliert". Erinnern Sie sich noch an die Schüsse aus dem Helikopter in Baghdad?

    The video, with its soundtrack of callous banter, was horrifying to watch and was an embarrassment to the U.S. military. But in its zeal to make the video a work of antiwar propaganda, WikiLeaks also released a version that didn’t call attention to an Iraqi who was toting a rocket-propelled grenade and packaged the manipulated version under the tendentious rubric “Collateral Murder.”

    (Mit dem abstoßenden Gerede auf der Tonspur war dieses Video grausig anzusehen, und beschämend für das US-Militär. Aber in seinem Eifer, das Video zu einem Werk der Antikriegs-Propaganda zu machen, hat WikiLeaks auch eine Version veröffentlicht, bei der die Aufmerksamkeit nicht auf einen Iraker fiel, der eine Panzerfaust trug; und man hat die manipulierte Version unter der tendenziösen Rubrizierung "Kollateraler Mord" herausgebracht.)

    Der Chefredakteur der New York Times, Bill Keller, in einem längeren Artikel für das Magazin der kommenden Wochenendausgabe der NYT, der schon vorab im Internet publiziert wurde und der sich mit der Geschichte der Zusammenarbeit zwischen der NYT und WikiLeaks, vor allem Julian Assange, befaßt. Diese ist inzwischen beendet, nachdem die NYT einen entlarvenden Artikel über Assange gebracht hatte (siehe Hinter den Kulissen von WikiLeaks. Assanges Deppen; ZR vom 26. 10. 2010).


    Kommentar: Sie werden sich noch an dieses Video erinnern, das ja seinerzeit wieder und wieder in den TV-Nachrichten gebracht wurde. Es zeigt, wie aus einem US-Kampfhubschrauber scheinbar mutwillig auf Zivilisten geschossen wird. Aufgenommen wurde es im Juli 2007; veröffentlicht hat es WikiLeaks im April 2010 als ersten einer Serie von Coups, an deren Ende die Veröffentlichung diplomatischer Korrespondenz der USA stand.

    WikiLeaks hat also manipuliert; jedenfalls sagt das der Chefredakteur der New York Times. Hier können Sie sich das Original und die von WikiLeaks bearbeitete Fassung ansehen. Urteilen Sie selbst.



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    26. Januar 2011

    Notizen zu Sarrazin (12): Fragen Sie!

    In der Stadt, in deren Nähe wir wohnen, gibt es einen, sagen wir: Lesekreis. Menschen, die sich regelmäßig treffen und die über gemeinsam interessierende Themen reden; meist anhand eines Buchs oder von Büchern. Sozusagen ein Internet-Forum wie Zettels kleines Zimmer, nur face-to-face.

    Dort befaßt man sich jetzt mit Sarrazins Buch. Gründlich. Es wird Kapitel für Kapitel gelesen; man studiert die Tabellen. So sollte es sein. Das hat dieses Buch verdient, und dafür wurde es geschrieben.

    Man hat sich aus diesem Kreis nun an mich gewandt, weil etwas unklar geblieben war. Sarrazin ist Wissenschaftler; die meisten seiner Leser sind es nicht oder sind es in einem ganz anderen Bereich. Sarrazin schreibt spröde. Also bleiben Fragen offen. Jemand aus dieser Gruppe wußte, daß ich das Buch kenne und daß ich Wissenschaftler bin, und er hat mich nach der Bedeutung bestimmter Zahlen in einer Tabelle gefragt.

    Ich habe das beantwortet, und dabei ist mir der Gedanke gekommen, auch Ihnen - den einigen tausend Lesern von ZR - anzubieten, daß ich Ihre Fragen zu Sarrazins Buch beantworte. Ich kenne das Buch ziemlich gut und bin berufsbedingt ein wenig geübt darin, Sachverhalte zu erklären.

    Schicken Sie mir, wenn Sie mögen, eine Mail. Die Adresse finden Sie rechts oben, wenn Sie auf meinen Namen klicken.

    Wenn Sie im kleinen Zimmer angemeldet sind, dann können Sie gern auch dort fragen. Oder sich jetzt anmelden.

    Fragen, von denen ich denke, daß sie von allgemeinem Interesse sind, werde ich im kleinen Zimmer beantworten, auch wenn sie mich per Mail erreichen. Ihr Name und ihre Mailadresse werden nicht öffentlich gemacht; es sei denn, Sie schreiben mir, daß ich Sie mit Namen zitieren darf.

    "Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten" wird gesagt. Nein, es gibt dumme Fragen. Aber wer in einem Bereich nicht ausgebildet ist, der hat jedes Recht der Welt, zu diesem Gebiet dumme Fragen zu stellen.

    Fragen Sie also, was ein Fachbegriff bedeutet, wie eine Tabelle zu lesen, wie bei Sarrazin ein Argument zu verstehen ist. Ich werde mich bemühen, das präzise zu beantworten, und relativ zügig.



    Der Streit um Sarrazin ist ja nicht ein Streit zwischen konservativ und links. Er ist eine Auseinandersetzung zwischen denen, die sich ehrlich bemühen, Sachverhalte zu verstehen, und denen, die an die Stelle des Bemühens um ein Verstehen das Gerede, das Schimpfen, das Herabwürdigen des Andersdenkenden setzen. Es ist ein Streit zwischen Vernunft und Arroganz.

    Es geht um Sorgfalt gegen Schluderei, um Propaganda gegen Sachlichkeit. Verstehen ist immer konkret. Man muß, um einen Sachverhalt zu verstehen, in ihn "eindringen", wie das treffende deutsche Wort sagt. Man muß Sätze verstehen, Tabellen richtig lesen. Wenn ich Ihnen dabei zu Sarrazins Buch von Nutzen sein kann, dann würde mich das freuen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.

    Zitat des Tages: Die unerfüllten Hoffnungen von Päderasten. Perversion, veredelt

    Welt Online: Welche Idee stand hinter der Politisierung der Sexualität?

    Kraushaar: Der Triebsteuerung möglichst freien Lauf zu lassen – das sei der Garant einer freieren Gesellschaft. Deswegen ja auch das Interesse an Kindern, die die zukünftige Gesellschaft einmal formen sollten. Da spiegelten sich die unerfüllten Hoffnungen der damals jungen Generation.


    Aus einem Interview von Thomas Lindemann mit dem Sozialwissenschaftler Wolfgang Kraushaar über Päderasten in der 68er Bewegung; zu lesen in "Welt-Online".


    Kommentar: "Unerfüllte Hoffnungen"? Ja, natürlich ist jeder sexuelle Wunsch, wie pervers auch immer, eine unerfüllte Hoffnung. So lange eben, bis er erfüllt ist.

    Nur war dies nun allerdings nicht eine Generation von Päderasten.

    Die Wortführer und die Nachbeter der 68er Bewegung hatten dieselben sexuellen Wünsche wie ihre Väter und Mütter. Die einen normale, die anderen perverse. Die menschliche Sexualität umfaßt nun einmal viele Spielarten. Viele sind sozial akzeptabel; einige nicht.

    Das Neue war, daß diejenigen, die damals als Päderasten perverse Wünsche hatten, diese mit einem ideologischen Brimborium als Rechtfertigung umgaben, statt ein schlechtes Gewissen zu haben, wie die Päderasten in den vorausgehenden Generationen (und hoffentlich wieder in den nachfolgenden).

    Die Sexualität war in der damaligen "jungen Generation" so wie immer. Es gab Masochisten, Sadisten, Fetischisten, Voyeure, Exhibitionisten, so wie es sie immer gibt. Und eben auch Päderasten. Diese wollten sich an Kinder ranmachen, wie jeder Päderast. Jeder Perverse will Befriedigung, so wie jeder Normale.

    Aber sie wollten auch noch anderen erklären, wie progressiv das war, daß sie sich an Kinder ranmachen wollten, diese Päderasten. Sie wollten ihre Perversion veredeln. Sie wollten gar andere belehren, wie richtig es war, daß sie Päderasten sind.

    Das war das eigentlich Perverse. Nicht die sexuelle Perversion als solche, sondern die Unverfrorenheit, mit der sie propagiert wurde; nicht nur von Lehrern der Odenwaldschule.


    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    24. Januar 2011

    Gregor Gysi, ein großer deutscher Kommunist. War er IM? Was macht das für einen Unterschied? Nebst einer Linkliste

    Gregor Gysi ist einer der großen deutschen Kommunisten. Er steht auf einer Stufe mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Walter Ulbricht. Er überragt wie diese Ernst Thälmann und Erich Honecker; der eine mehr eine Symbolfigur als ein großer Politiker, der andere nur ein Verwalter der Macht. Luxemburg, Liebknecht, Ulbricht und Gysi aber haben den deutschen Kommunismus geprägt.

    Rosa Luxemburg hat ihm mit ihrer unerbittlichen marxistischen Orthodoxie den ideologischen Stempel aufgedrückt; Grundsatzdiskussionen wie zum Beispiel unter französischen und italienischen Kommunisten hatten in Deutschland nie Bedeutung.

    Karl Liebknecht hat dem deutschen Kommunismus seine organisatorische Struktur gegeben; Walter Ulbricht hat ihn, wenn auch nur in einem Teil Deutschlands, an die Macht gebracht und diesen ersten kommunistischen Staat auf deutschem Boden nach seinen Vorstellungen gestaltet. Gregor Gysi hat den deutschen Kommunismus im Herbst und Winter 1989, als er vor dem Untergang zu stehen schien, gerettet und die deutsche kommunistische Partei zur erfolgreichsten Europas gemacht.

    Rosa Luxemburg war Ideologin; taktisches Genie hat sie nie unter Beweis gestellt. Liebknecht und Ulbricht waren Ideologen und Taktiker zugleich. Gysi mag nur noch ein Taktiker sein. Seine Verdienste um den deutschen Kommunismus schmälert das nicht.

    Er hat dreierlei geleistet.

    Erstens hat er die SED vor der Auflösung bewahrt, die in der Wendezeit drohte. Auf den beiden Sonderparteitagen am 9. und 16. Dezember 1989 sorgte er dafür, daß die Partei unter dem neuen Namen SED-PDS weiterbestand. Das war der Beginn einer Serie von Umbenennungen: Aus der SED-PDS wurde die PDS, aus ihr die "Linkspartei.PDS", aus dieser die Partei "Die Linke". Es war und blieb die SED. Auch die heutige Partei "Die Linke" ist rechtlich identisch mit der SED; das hat ihr Schatzmeister an Eides statt versichert. Diese Partei verdankt es ganz entscheidend Gregor Gysi, daß sie überhaupt noch existiert.

    Dieses Fortbestehen der SED wurde allerdings - und darin liegt das zweite große Verdienst Gysis um den deutschen Kommunismus - seit der ersten Umbenennung camoufliert. Man blieb die alte Partei, aber man suchte den Eindruck zu erwecken, man sei eine neue Partei. Das war erforderlich, um die Partei an die neuen Kampfbedingungen nach der Wiedervereinigung anzupassen. Gysi hat seiner Partei diese Tarnung verordnet, und sie hat das umgesetzt.

    Gysi hat es verstanden, den deutschen Kommunismus durch den wiederholten Namenswechsel der Partei und durch eine geschickte Imagepflege sozusagen weichzuspülen. Er hat ihm ein völlig anderes Markenimage verpaßt, als es bis 1990 bestanden hatte: Wahrgenommen wird die Partei "Die Linke" heute überwiegend nicht mehr als eine kommunistische Partei; nicht als die Schwesterpartei der anderen kommunistischen Parteien in Europa, die sie ist (siehe "Die Linke" und die Kommunisten; ZR vom 18. 2. 2008, und Lothar Bisky, Vorsitzender zweier Parteien; ZR vom 1. 9. 2008).

    Man soll vielmehr die Partei "Die Linke" als eine Partei wie jede andere sehen, die nicht die Diktatur des Proletariats anstrebt, sondern soziale Gerechtigkeit und eine bessere Berücksichtigung der Interessen der ostdeutschen Bundesländer. Eine zweite SPD als Partei des kleinen Mannes; eine zweite CSU als Regionalpartei. Diese - wie der alte Insider Günter Schabowski es nannte - "Mimikry" war überaus erfolgreich.

    Drittens hat Gysi durch die Verbrüderung mit seinem Freund, dem SPD-Dissidenten Oskar Lafontaine, und durch die Aufnahme von dessen WASG in die kommunistische Partei die Westausdehnung ermöglicht. Ein mutiger Schritt, denn er bedeutete, daß der Partei fortan nicht nur linientreue Genossen, sondern auch allerlei Trotzkisten und freischwebende Linke angehören würden. Aber ein eminent erfolgreicher Schritt, der aus einer knapp oberhalb der fünf Prozent stagnierenden Partei eine Partei machte, die in derselben Liga spielt wie die Grünen und wie (jedenfalls bis vor kurzem) die FDP.

    Gregor Gysi ist jetzt seit mehr als 21 Jahren der - nominelle oder faktische - Vorsitzende der deutschen Kommunisten. Er hat damit nicht nur, selbstverständlich, in der Dauer seines Wirkens Rosa Luxemburg, Wilhelm Liebknecht und Ernst Thälmann hinter sich gelassen. Er hat auch Walter Ulbricht eingeholt, der von 1950 bis 1971 an der Spitze der SED stand; und er hat die 18 Jahre Erich Honeckers längst übertroffen.



    Dieser Mann nun muß sich immer wieder mit Vorwürfen herumschlagen, er sei ein Spitzel des MfS gewesen.

    Das Thema wurde letzte Woche wieder aktuell, weil am Donnerstag (freilich eine halbe Stunde vor Mitternacht) eine Sendung lief, die noch einmal Gysis Tätigkeit als Rechtsanwalt in der DDR nachging: "Die Akte Gysi". Die Autoren Silke König und Hans-Jürgen Börner haben gute Arbeit geleistet und das zusammengetragen, was über diese Tätigkeit im Lauf der vergangenen beiden Jahrzehnte bekannt geworden war. In der Ankündigung des NDR wird das so beschrieben:
    Die NDR/ARD-Dokumentation "Die Akte Gysi" zeigt, wie aus einem willigen Helfer des DDR-Systems ein populärer, gesamtdeutscher Politiker wurde. Und wie er trotz aller Stasi-Vorwürfe immer noch als Stimme der Benachteiligten und Unterdrückten hofiert wird. (...) Er hatte beste Kontakte ins ZK der SED und auch zur Staatssicherheit. Original-Akten, die über das Wirken des Rechtsanwalts Gysi Auskunft geben könnten, wurden nach der Wende offenbar größtenteils vernichtet. Aber in den Akten seiner ehemaligen Mandanten finden sich die Kopien von Stasi-Berichten.
    Gysi wäre nicht Gysi, wenn ihn nicht diese Sendung - genauer: ihre Ankündigung - sofort zu einem juristischen Vorstoß veranlaßt hätte. Er möchte halt nicht in die Nähe von Spitzeln gerückt oder gar als ein solcher dargestellt werden (was die Sendung übrigens nicht explizit tat).

    Ich kann das verstehen. Gysi war schon vor der Wende einer der wichtigsten Leute des kommunistischen Regimes; wenn auch seine eigentliche Leistung erst nach der Wiedervereinigung liegt. Er verkehrte von gleich zu gleich mit den Leuten des ZK der SED; er tat einem von ihnen schon einmal einen Gefallen. Honecker lobte seine Arbeit und bat, ihm freundliche Grüße auszurichten.

    Gysi war in der DDR Koch und nicht Kellner. Ob er nun beim MfS etwas unterschrieben hat oder nicht; wie man ihn dort nominell geführt hat; auf welchem Weg seine Berichte in die dortigen Akten gelangten - was macht das für einen Unterschied? Daß dieser bedeutende deutsche Kommunist die Interessen seiner Partei vor der Wende ebenso vertreten hat wie danach, liegt doch auf der Hand.



    Wenn Sie schon längere Zeit ZR lesen, dann wird Ihnen das meiste, was die Sendung "Die Akte Gysi" berichtete, nicht neu gewesen sein. Hier sind einige der Artikel, in denen ich mich mit Gysis Tätigkeit zur Zeit der DDR und mit seinem Wirken in der Bundesrepublik befaßt habe:
  • Ein Mann tritt für die Freiheit ein; ZR vom 27. 9. 2006
  • Ein Insider über die PDS; ZR vom 13. 6. 2007
  • Warum zum Teufel Gregor Gysi?; ZR vom 12. 12. 2007
  • Gregor Gysi darüber, "in einer Bundesregierung mitzuwirken"; ZR vom 17. 4. 2008
  • Grüße des Genossen Honecker an den Rechtsanwalt Gysi; ZR vom 20. 5. 2008
  • Die Würde des Gregor Gysi; ZR vom 28. 5. 2008
  • Aus Vera Lengsfelds Bericht über ihre Erfahrungen mit dem Anwalt Gregor Gysi; ZR vom 29. 5. 2008
  • Robert Havemanns Verhältnis zu seinem Anwalt Gregor Gysi; ZR vom 30. 5. 2008
  • Warum versuchte Michael Gorbatschow die DDR nicht mit der Roten Armee zu retten? Über ein denkwürdiges Telefonat des SED-Vorsitzenden Gysi; ZR vom 6. 3. 2009
  • Gregor Gysi, eine Flucht aus der DDR, die Freiheit der Presse; ZR vom 20. 9. 2009
  • "Gerade dieser Zusammenhang ...". Dialektik im Bundestag. Der israelische Soldat Gilad Shalit und Gregor Gysis Wirken in der DDR; ZR vom 13. 11. 2010
  • Gregor Gysi schon wieder unter falschem Verdacht; ZR vom 20. 12. 2010



  • © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette vom Autor Regani unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später freigegeben.

    Aufruhr in Arabien (1): Die tunesische Revolution. Ankündigung einer Serie

    Wie immer sich die tunesische Revolution entwickeln wird: Es ist schon jetzt absehbar, daß sie eines der heraus­ragenden Ereignisse des Jahres 2011 sein wird; so jung dieses auch noch ist.

    Was aus einer Revolution wird, ist in der Regel ganz ungewiß; siehe Einige Anmerkungen zur tunesischen Revolution; zu revolutionären Situationen überhaupt; ZR vom 19. 1. 2011.

    Bei der Revolution in Tunesien kann man inzwischen eine der möglichen Entwicklungen einigermaßen ausschließen: Die Konterrevolution; eine Rückkehr des Clans von Ben Ali.

    Alle anderen Varianten sind möglich: Ein demokratischer Rechtsstaat; was unerhört wäre für ein Land des Maghreb, seit de Gaulle Algerien preisgab. Eine Militärdiktatur. Oder auch der erste islamistische Staat im Maghreb; ein Vordringen des Islamismus bis vor die Haustür Europas.

    Was auch immer sich am Ende als der stabile Zustand erweisen wird, der aus der jetzigen Instabilität hervorgeht: Dieses Ergebnis der tunesischen Revolution wird weitreichende Auswirkungen auf die arabische Welt haben; also auf den gesamten Nahen Osten und damit auf die Weltpolitik.

    Ich werde in dieser Serie über die Entwicklung in Tunesien berichten; so wie seinerzeit über den Irak. Die dortigen Ereignisse habe ich mit der Serie "Ketzereien zum Irak" begleitet. Wenig von dem, was Sie damals lesen konnten, hat sich als falsch erwiesen. Ich meine sagen zu können, daß Leser dieser Serie besser informiert waren als die meisten deutschen Zeitungsleser.

    Auch in der neuen Serie geht es mir darum, zuverlässige Informationen zu finden und aufzubereiten. Ich werde vor allem die tunesische, die französische und die amerikanische Presse verfolgen.



    Der tunesische Informationsdienst Business News.com.tn meldete gestern Abend:
    Larbi Nasra propriétaire de la chaîne "Hannibal TV" et son fils Mehdi Nasra ont été arrêtés, pour "haute trahison" et "complot" contre la sécurité de l'Etat, informe une source officielle. (...)

    Il a ..., indiquent des sources officielles, diffusé de fausses informations sur sa chaîne dans l’objectif de créer un vide constitutionnel, faire entrer la Tunisie dans le chaos et faire revenir Zine El Abidine Ben Ali au pouvoir. L'enquête, actuellement en cours, devrait se pencher également sur le commerce d'armes de Larbi Nasra.

    Larbi Nasra, der Besitzer des Senders "Hannibal TV" und sein Sohn Mehdi Nasra wurden nach offiziellen Angaben wegen "Hochverrats" und eines "Komplotts" gegen die Sicherheit des Staats verhaftet. (...)

    Er hat ... laut diesen offiziellen Quellen über seinen Sender falsche Informationen verbreitet; und zwar mit der Absicht, ein Verfassungs-Vakuum herbeizuführen, Tunesien ins Chaos zu stürzen und Zine El Abidine Ben Ali zurück an die Macht zu bringen. Die Untersuchung, die jetzt im Gang ist, dürfte sich auch auf den Waffenhandel von Labri Nasra erstrecken.
    Es geht also alles seinen revolutionären Gang. Es wird verhaftet, es wird verboten, es wird beschuldigt; in jeder Revolution ist das so.

    Meist sind diejenigen, die heute verhaften und beschuldigen, zugleich diejenigen, die morgen selbst verhaftet und beschuldigt werden. Die Revolution frißt erst ihre Feinde, dann ihre Kinder, ihre Kindeskinder.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.

    23. Januar 2011

    Marginalie: Zuckerbrot und Peitsche à la Teheran. Anmerkung zum Fiasko von Istanbul

    Zur Zeit des legendären sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko - er amtierte nicht weniger als 28 Jahre; von 1957 bis 1985 - gab es das Wort vom Zuckerbrot und der Peitsche. Gromykos Taktik war es, Zusagen zu machen, sie dann aber wieder zurückzuziehen, anschließend vielleicht zu drohen, dann wieder überraschend kompromißbereit zu erscheinen und so fort.

    Mal winkte er mit dem Zuckerbrot, mal schwang er die Peitsche. Um einen Kompromiß in der Sache ging es ihm nie; die Gegenseite sollte nur verunsichert und von Entscheidungen abgehalten werden. Das war so bis zum Prozeß von Helsinki, in dessen Verlauf die UdSSR allerdings reale Zugeständnisse machte; sie läutete damit ihr Ende ein.

    Gromykos Taktik ist das offenkundige Vorbild für den Iran in den seit Jahren laufenden Verhandlungen über sein Nuklearprogramm. Zugeständnisse hat er nie gemacht und wird er vermutlich auch nicht machen; worin sollten sie auch bestehen? Teheran will die Atombombe, und es will sie so schnell wie möglich. Verhandlungen dienen ausschließlich dazu, das abzusichern. Man muß also erreichen, daß es nicht zu wirklich schwerwiegenden Sanktionen kommt. Man versucht die Sechsergruppe zu spalten, wenn irgend man das kann.

    Die Sechsergruppe: Jene sechs Staaten - nämlich die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats plus Deutschland -, die sich zusammengetan haben, um mit dem Iran über sein Nuklearprogramm zu verhandeln. Seit vorgestern saß man wieder am Verhandlungstisch, und zwar diesmal in Istanbul (siehe Der Iran, der Irak, die USA - und jetzt Tunesien; ZR vom 17. 1. 2011). Über den Verlauf und das abrupte Ende der Gespräche berichtet heute Andreas Ross in FAZ.Net.

    Das Bemerkenswerte ist, mit welcher Verve der iranische Verhandlungsführer Said Dschalili diesmal die Peitsche schwang; weit und breit kein Zuckerbrot. Das letzte Zuckerbrot hatte es in der, wie Ross schreibt, "kurze[n] Phase der Hoffnung vom Oktober 2009" gegeben, als Teheran sich mit einem "Tauschgeschäft" einverstanden erklärt hatte, bei dem die Perser einen großen Teil ihres schwach angereicherten Urans abgeben sollten; man wollte ihnen im Gegenzug (für die zivile, aber nicht eine militärische Nutzung geeignete) Brennelemente liefern.

    Jetzt also hatte sich Dschalili so stur gezeigt wie Gromyko in seinen "njet, njet, njet"-Phasen. Warum?

    Man kann das nur vermuten, aber es gibt eine naheliegende Vermutung: Die Revolution in Tunesien stellt eine akute Bedrohung für die arabischen Regimes dar, die Gegner des Iran im Machtpoker um den moslemischen Teil des Nahen Ostens sind (siehe Die Gefahr eines Kriegs im Nahen Osten wächst; ZR vom 21. 8. 2010, und "Wir geraten unter iranische Besatzung". Präsident Obama erhält die Quittung für seine Irakpolitik; ZR vom 19. 10. 2010). Der Iran ist damit so stark wie lange nicht.

    Er kann ruhig abwarten, wie sich die Dinge in den arabischen Ländern entwickeln. Der Westen und auch China sowie Rußland haben jeden Grund, in dieser Situation ein Hochschaukeln des Konflikts mit Teheran zu vermeiden. Also können sich die Iraner stur stellen. Ross zitiert eine Reaktion aus der europäischen Delegation:
    Unverständlich bleibt europäischen Diplomaten, dass Iran nicht die "historische" Gelegenheit nutze, die ihm die amerikanische Führung unter Präsident Obama biete. Aber alles Drängen half nicht: Ein Einzelgespräch mit dem amerikanischen Staatssekretär William Burns lehnte Dschalili ab.
    Die historische Gelegenheit. Sie besteht aus der Sicht des Iran aber nicht darin, daß Obama auch jetzt wieder offenbar bereit ist, die Hand auzustrecken. Sie besteht darin, daß es überhaupt den Präsidenten Obama gibt.

    Er will raus aus dem Irak; er will damit die bisherige amerikanische Machtposition im Nahen Osten aufgeben. Je näher die Präsidentschaftswahlen im November 2012 rücken, umso weniger wird er die USA in häßliche Auseinandersetzungen in dieser Region verwickeln wollen. Solange bleibt für den Iran die "historische Chance" somit nicht nur bestehen, sondern sie dürfte sich mehr und mehr vergrößern. Das Zuckerbrot kann eingepackt bleiben.



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    Zitat des Tages: Die "gute Krise" der Renate Künast. Zynismus einer Volkserzieherin

    Die frühere Bundesverbraucherministerin und heutige Fraktionschefin der Bundestags-Grünen, Renate Künast, hat der derzeitigen Amtsinhaberin von der CSU, Ilse Aigner, angesichts des momentanen Dioxin-Skandals vorgeworfen, kein akutes Krisenmanagement zu betreiben und die Krise nicht als Chance für eine neue Verbraucherpolitik zu nutzen. (...) Künast erinnerte Aigner an "das schöne deutsche Sprichwort: 'never miss a good crisis'", also, man soll "das Gute, das in einer Krise steckt, nicht verplempern".

    Aus Pressemeldungen.com vom 11. 1. 2011.


    Kommentar: Das Zitat ist nicht mehr ganz frisch. Ich bin darauf aufmerksam geworden, weil es im "Hohlspiegel" des "Spiegel" der kommenden Woche steht (Heft 4/2011 vom 24. 1. 2011, S. 142).

    Es hat sich, dieses Zitat, einen Platz im "Hohlspiegel" verdient, weil Künast eine englische Redensart als ein "schönes deutsches Sprichwort" verkauft. Aber das scheint mir nicht das Bemerkenswerte zu sein.

    Das Bemerkenswerte ist die brutale Offenheit von Künast: Auch sie weiß natürlich, daß der jüngste "Dioxin-Skandal" nichts ist als heiße Luft; als eine Verhohnepiepelung der sich ängstigenden Verbraucher (siehe Viel Lärm um nichts; ZR vom 18. 1. 2011). Und sie sagt in diesem Zitat ganz offen, worum es ihr geht: Die "Krise" soll nicht "verplempert" werden. Man schürt die Angst der Menschen, um die eigenen politischen Ziele zu befördern.

    Zynismus derer, die uns erziehen möchten; selten so offen deklariert.



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    22. Januar 2011

    Marginalie: Extremisten und ihre Opfer am "Runden Tisch"? Eine (fast) wahre Geschichte aus einer deutschen Kleinstadt

    Der Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in der Kleinstadt X erhält im Internet eine Todesdrohung ("dreckiger Jude"; "Paß auf, daß wir dich nicht strafen mit dem Tod"). Unterschrieben ist sie von einem stadtbekannten Rechtsextremisten, der in einem ebenfalls stadtbekannten Treff einer rechtsextremen Vereinigung verkehrt.

    Zahlreiche dortige Besucher stammen aus einer Organisation, von der zuvor Gewalttaten ausgegangen waren. Beim Besuch eines Reporters sind die Verantwortlichen der Vereinigung nicht bereit, sich von Gewalt zu distanzieren.

    Die Bürgermeisterin von X wendet sich hilfesuchend an den Verfassungsschutz. Einem Reporter sagt sie "Eigentlich bin ich mit der ganzen Angelegenheit überfordert".

    So weit, so alltäglich. Jetzt kommt aber das nicht Alltägliche. Wie reagiert die Bürgermeisterin?

    So: Sie will den von der Gewaltdrohung betroffenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde sowie Sprecher der stadtbekannten Rechtsextremisten
    ... nun an einen „Runden Tisch" bitten, "um die Lage zu beruhigen". Der von dem Gewaltaufruf betroffene Vorsitzende der jüdischen Gemeinde muss dann mit den Vorständen der rechtsextremen Vereinigung diskutieren – mit den Leuten also, in deren Treff der Autor der Gewaltandrohung verkehrte.
    Das Zitat stammt aus dem Artikel in "Welt-Online", durch den ich von dem Fall erfahren habe. Ich habe es allerdings leicht verändert. Ich habe mich bei meiner Darstellung des kleinen Kunstgriffs bedient, etwas durch Verfremdung deutlicher zu machen.

    Die kleine Stadt X ist Pinneberg. Die Bürgermeisterin ist Kristin Alheit (SPD). Der Vorsitzende der dortigen jüdischen Gemeinde heißt Wolfgang Seibert. Soweit keine Verfremdung.

    Aber es handelt sich nicht um Rechtsextremisten, sondern um islamistische Extremisten. Derjenige, der die Todesdrohung gegen Seibert unterschrieben hat, ist Isa Al Khattab, ein Konvertit mit dem bürgerlichen Namen Harry M.; und der Satz in der Todesdrohung (begleitet von einem rot durchgestrichenen Foto von Seibert) lautet "Pass auf, dass Allah dich nicht schon im Diesseits straft mit dem Tod".

    Der Treff in Pinneberg, in dem Harry M. verkehrte, ist die Pinneberger Al-Sunnah-Moschee. Der Verfassungsschutz sieht in ihr laut "Welt-Online" einen der wichtigsten Treffpunkte der früheren Besucher der Taiba-Moschee in Hamburg. Das war die inzwischen geschlossene Moschee, in der
    ... schon die Attentäter des 11. September und auch eine Gruppe von Islamisten verkehrte, die vor rund eineinhalb Jahren in die Kampfgebiete ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet zogen, um den Märtyrertod zu sterben.
    Und mein erstes, verfremdetes Zitat lautet richtig und vollständiger so:
    Für Anfang Februar will die Bürgermeisterin Vertreter der in Pinneberg vertretenen Religionsgemeinschaften nun an einen "Runden Tisch" bitten, "um die Lage zu beruhigen". Der von dem Gewaltaufruf betroffene Vorsitzende der jüdischen Gemeinde muss dann mit den Vorständen der Al-Sunnah-Moschee diskutieren – mit den Leuten also, in deren Moschee der Autor der Gewaltandrohung verkehrte.

    Mit den Leuten, die es auf Nachfrage nicht schaffen, sich sich von Gewalt und Märtyrer-Verherrlichung zu distanzieren. Mit den Leuten, die einen Ex-Rapper bei sich willkommen heißen, der indirekt zum "Heiligen Krieg" aufruft. Auf das Ergebnis dieser Diskussion darf man gespannt sein.



    Kommentar: Mit Rechtsextremisten darf es keinen "Runden Tisch" geben und es hat so etwas (soweit mir bekannt) auch noch nie gegeben. Dasselbe muß für islamistische Extremisten gelten.

    Mit Islamisten zu diskutieren ist so abwegig, wie das mit Neonazis oder Linksextremisten tun zu wollen. Wer gegen den demokratischen Rechtsstaat eingestellt ist, wer gar Gewalt toleriert oder zu ihr aufruft, der ist kein Partner für eine Diskussion, sondern ein Fall für den Verfassungsschutz und gegebenenfalls die Justiz. Welche Spielart des Totalitarismus der Betreffende vertritt, die linksextreme, die rechtsextreme oder die religiös-extreme, ist dabei ohne Belang.



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    Marginalie: Unfälle bei der Bundeswehr und zwei ungeklärte Vorwürfe. Mehr nicht. Der Rest ist politische Propaganda

    Wie in jeder Armee der Welt kommen in der Bundeswehr Unfälle vor; leider. In Afghanistan hat ein Soldat versehentlich einen Kameraden erschossen. Auf der "Gorch Fock" hat eine Kadettin in der Takelage das Gleichgewicht verloren und ist abgestürzt.

    Solche bedauerlichen Unfälle müssen untersucht werden. Sie müssen untersucht werden mit dem Ziel, die Sicherheit zu verbessern; so, wie auch in einem Industriebetrieb Unfälle oft der Anlaß sind, die Sicherheitsvorschriften zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu verändern; oder auch Maßnahmen zur besseren Einhaltung der Vorschriften zu ergreifen.

    Wenn solche Unfälle zu Vorwürfen gegen den zuständigen Minister oder gegen "die Bundeswehr" führen (den aktuellen Stand der öffentlichen Diskussion kann man zum Beispiel in FAZ.Net nachlesen), dann ist das albern. Nein: Es ist unanständig. Es ist der offenkundige Versuch, aus dem Tod von Menschen politisches Kapital zu schlagen.



    Anders ist es bei zwei weiteren Facetten dessen, was die einschlägig einseitigen Medien bereits eine "Bundeswehr-Affäre" nennen: Erstens die Behauptung, auf der "Gorch Fock" habe es eine Meuterei gegeben. Zweitens Meldungen darüber, daß in Afghanistan Briefe von Soldaten unter Verletzung des Briefgeheimnisses geöffnet worden seien.

    Beides sind Vorkommnisse, die genauer untersucht werden müssen.

    Das Briefgeheimnis ist ein hohes Gut des demokratischen Rechtsstaats. Es gibt aber rechtliche Einschränkungen; beispielsweise erlaubt das Strafvollzugsgesetz mit bestimmten Ausnahmen die Überwachung des Schriftwechsels von Gefangenen. Ob das, was jetzt über das Öffnen der Briefe von Soldaten berichtet wird, ebenfalls rechtens war oder nicht, muß geprüft werden. Hat jemand gegen das Recht verstoßen, dann muß er bestraft werden.

    Ebenso steht es mit dem Vorwurf der Meuterei. Keine Marine der Welt kann Meuterei dulden. Wenn Seekadetten gemeutert haben, dann müssen sie bestraft werden. Wenn die Schiffsführung ihnen zu Unrecht den Vorwurf der Meuterei gemacht haben sollte, dann müssen die betreffenden Offiziere zur Verantwortung gezogen werden.

    Es ist deshalb richtig, daß der Verteidigungsminister den Kapitän der "Gorch Fock" abgelöst und das Schiff nach Deutschland zurückbeordert hat. Denn nur hier kann eine umfassende Klärung der Vorwürfe erfolgen.

    Mit einer "Affäre" hat das alles nichts zu tun. Wenn versucht wird, es zu einer Affäre hochzuschreiben, dann dient das der Verfolgung politischer Ziele: Der Agitation gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der Demontage des Minister zu Guttenberg.



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    21. Januar 2011

    Zitat des Tages: Das Dschungelcamp, der "perverse Parasit". Regietheater im TV

    Das Dschungelcamp von RTL ist nun mal nichts anderes als der perverse Parasit einer hervorragenden und sinnvollen Idee, die von den 68ern hervorgebracht wurde und wahrscheinlich zu einer ihrer besten gesellschaftlich konkreten Ideen zählt: die Idee der Wohngemeinschaft. (...) Und, fragt das Dschungelcamp, was ist aus dem hochfeinen deutschen Autorenfilm geworden? Wir zeigen es euch: ein abgemagerter, alternder Schauspieler ...

    Ursula März in der aktuellen "Zeit" (Heft 4/2011 vom 20. 1. 2011). Auf "Zeit-Online" war dies heute Vormittag der meistgelesene Artikel.


    Kommentar: Und was ist aus der angesehenen Autorin und Kritikerin Ursula März geworden, daß sie solch einen Stuß zu einer Sendung schreibt, über die kein Wort zu verlieren ist?

    Mit dem "abgemagerten, alternden Schauspieler" meint sie Matthieu Carrière. Dieser freilich dürfte von Regisseuren des "Regietheaters" auf der Bühne schon mehr zum Affen gemacht und mit Ekligem beauftragt worden sein als jetzt im Dschungelcamp.

    Zum Regietheater siehe Zettels Meckerecke: Was darf Regietheater?; ZR vom 18. 6. 2007. Die Variante des Regietheaters in "Ich in ein Star, holt mich hier raus" ist auch nicht schlimmer als das, was auf mancher deutschen Bühne an Ekelhaftem zu sehen ist und von den Schauspielern gespielt werden muß.

    Nur nehmen die "Dschungelcamp"-Macher sich wenigstens selbst nicht ernst; und die Zuschauer müssen nicht nach Sinn und tieferer Bedeutung forschen. Auch wird es im Dschungelcamp besser bezahlt, sich zum Affen zu machen.



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    Schrumpft die Mittelschicht? Geht die "soziale Schere immer weiter auseinander"? Nicht in Deutschland

    Sie werden das sicher schon oft gelesen und im TV oder Radio gehört haben: Die soziale Schere in Deutschland geht immer weiter auseinander. Die soziale Kluft wird immer größer. Die Reichen werden immer reicher. Die Armut wächst. Die Mittelschicht schrumpft.

    Was von derartigen Behauptungen zu halten ist, habe ich schon früher anhand der Fakten dargelegt: Nichts, schlicht nichts (Die soziale Kluft in Deutschland wird immer größer - stimmt's? Über Schlagworte und die Wirklichkeit; ZR vom 23. 10. 2008 und ein ähnlicher Artikel zu den USA: Die Reichen werden immer reicher. Wirklich? Eine Analyse aus den USA; ZR vom 13. 6. 2009).

    Jetzt hat das Roman-Herzog-Institut, dessen Ehrenvorsitzender der Altbundespräsident ist, eine Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt, deren wichtigste Ergebnisse Sie in dieser Pressemitteilung lesen können. Die vollständige Untersuchung "Mythen über die Mittelschicht" von Dominik H. Enste, Vera Erdmann und Tatjana Kleineberg kann hier heruntergeladen werden. Über sie möchte ich berichten.



    Wer gehört zur Mittelschicht? Es gibt verschiedene Definitionen; zum Beispiel anhand der Bildung und der Stellung im Beruf. Am objektivesten ist eine Definition anhand des Einkommens. Die Autoren orientieren sich an der Definition im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und anderen offiziellen Definitionen. Danach
    .. wird die Mittelschicht durch die Haushalte gebildet, deren Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens (mittleres Einkommen aller Haushalte) betragen. (...)

    Dies entsprach im Jahr 2009 einem Nettoeinkommen zwischen monatlich 860 und 1.844 Euro für einen Singlehaushalt. Für Mehrpersonenhaushalte wird das Nettoäquivalenzeinkommen berechnet. Dazu wird das Haushaltseinkommen mit der Anzahl der Haushaltsmitglieder gewichtet. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verwendet dabei für den ersten Erwachsenen ein Gewicht von eins. Jedem weiteren Erwachsenen wird jedoch nur ein Gewicht von 0,5 und Kindern unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3 zugeordnet.

    Es wird also davon ausgegangen, dass der Bedarf eines zusammenlebenden Paares deutlich geringer ist als der von zwei Alleinstehenden. Diese Gewichtung ermöglicht den Vergleich von Haushalten mit verschiedenen Strukturen.
    Schrumpft nun die so definierte Mittelschicht? Keineswegs. Sie liegt seit 1993 ziemlich stabil bei 60 bis 67 Prozent aller Haushalte. Auch die untere Einkommensgruppe (um 20 Prozent) und die obere (16 bis 19 Prozent) haben sich kaum verändert; vor allem gibt es keinen Trend in eine bestimmte Richtung. Sie können sich diese Daten in der Pressemitteilung zu der Untersuchung oder im "ÖkonomenBlog" als Grafik ansehen.

    Nicht nur schrumpft die Mittelschicht nicht; auch die Behauptung, daß in Absetzung von der Mittel- und Unterschicht "die Reichen immer reicher" würden, ist ein Mythos (so die Untersuchung; man könnte auch sagen: Sie ist Agitprop). Die Autoren fassen den tatsächlichen Sachverhalt so zusammen:
    Die Einkommensunterschiede zwischen der Mittelschicht und niedrigeren beziehungsweise höheren Einkommen haben sich in Deutschland in der Vergangenheit insgesamt weder stetig vergrößert, noch gibt es einen Trend, der darauf hindeutet, dass dies zukünftig zu erwarten ist.
    Ein anderer Mythos, mit dem sich die Untersuchung befaßt, betrifft die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Hier zeigen die Daten eine bemerkenswerte Diskrepanz: In ihrer subjektiven Beurteilung sehen die Angehörigen der Unterschicht relativ wenige Aufstiegsmöglichkeiten für sich; tatsächlich liegt der Anteil der Aufsteiger aber international im Mittelfeld. Dazu schreiben die Autoren:
    Da die Bundesbürger ihre Aufstiegschancen pessimistisch einschätzen, fordern sie eine stärkere Umverteilung. Diese kann jedoch zu Fehlanreizen führen, die den Aufstieg durch harte Arbeit, Bildung und Engagement unattraktiver – und dadurch auch unwahrscheinlicher – machen. Der Verbleib im Transfersystem kann für manchen attraktiver erscheinen als der anstrengende Aufstieg in die Mitte. Somit würde die pessimistische Einschätzung der Aufstiegschancen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
    Eine einleuchtende Analyse. Und hinzu kommt aus meiner Sicht: Je attraktiver das Verbleiben in der Unterschicht durch Transferleistungen gemacht wird, umso mehr Menschen verbleiben in dieser Schicht. Je mehr Menschen in ihr verbleiben, umso stärker sieht sich "die Sozialpolitik gefordert". Und je mehr die Sozialpolitik tut, umso attraktiver ist das Verbleiben in der Unterschicht. Der perfekte Teufelskreis.



    Bei Untersuchungen wie der jetzigen fragt man natürlich, wer dahintersteht. Wer ist das Roman-Herzog-Institut? Wer neben Roman Herzog dem Vorstand angehört, können Sie hier lesen. Den Wissenschaftlichen Beirat bilden Professoren aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Träger sind die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und die Arbeitgeberverbände der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie.

    Also?

    Also kann man einer solchen Untersuchung nicht trauen, da das betreffende Institut doch von der Wirtschaft finanziert wird? Es ist seltsam: Die linke Propaganda hat es geschafft, diesen Einwand nachgerade reflexartig in den Köpfen entstehen zu lassen. Ich finde das bemerkenswert, und zwar aus zwei Gründen:
  • Erstens ist ein analoger Einwand kaum je zu vernehmen, wenn Untersuchungen zu derartigen Themen aus dem Bereich etwa der Gewerkschaften kommen oder von ausgewiesen linken Wissenschaftlern vorgelegt werden. Einer von ihnen, der Armutsforscher Christoph Butterwegge (einst als Stamokap-Theoretiker aus der SPD ausgeschlossen; dann wieder aufgenommen und wieder ausgetreten; kürzlich als Minister für die Partei "Die Linke" in NRW im Gespräch) war am vergangenen Sonntag bei Anne Will zu Gast.

  • Zum zweiten drückt das Mißtrauen gegen Forschung, die von der Industrie finanziert wird, einen im Grunde skandalösen Pauschalverdacht aus: Wissenschaftler würden nicht so forschen, wie es ihnen ihr Beruf gebietet, also voraussetzungslos und ergebnisoffen, wenn sie für ihre Projekte bestimmte Geldgeber haben.
  • Natürlich ist so etwas nicht ausgeschlossen; so wenig, wie es ausgeschlossen ist, daß gewerkschaftsnahe oder sonstige Forscher gegen ihren Berufsethos verstoßen. Aber das muß ja nun allerdings nachgewiesen werden.

    Im jetzigen Bericht habe ich keine Ungenauigkeit und nichts Einseitiges oder Propagandistisches finden können. Der Erstautor, Dominik H. Enste, ist ein ausgewiesener Wirtschaftswissenschaftler.

    Falls es wissenschaftliche Kritik an der Untersuchung geben sollte, wird diese anhand der üblichen wissenschaftlichen Maßstäbe zu prüfen sein. Allein der Hinweis auf die Geldgeber des Roman-Herzog-Instituts ist keine Kritik, die es verdienen würde, ernstgenommen zu werden.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Eigene Aufnahme. Mit Dank an den ÖkonomenBlog.

    20. Januar 2011

    Notizen zu Sarrazin (11): Ein Gespräch mit Thilo Sarrazin, das Sie anhören sollten (falls Ihr Englisch mindestens halb so gut ist wie das Sarrazins)

    Selten hat ein Autor so sehr von dem Verhalten seiner Gegner profitiert wie Thilo Sarrazin. Die Art, wie man ihn fertigzumachen versuchte (siehe zum Beispiel Sarrazin: Gibt es jetzt doch noch eine Diskussion?; ZR vom 19. 9. 2010), mag ein wesentliches Motiv für viele gewesen sein, sich mit seinen Thesen zu befassen und vielleicht sein Buch zu kaufen.

    So ist es auch jetzt wieder; eine weitere haltlose Kritik an Sarrazin dürfte dazu beitragen, die Kenntnisse über seine Auffassungen und auch über die Methoden vieler seiner Kritiker zu befördern.

    Das Gespräch mit Thilo Sarrazin, auf das ich Sie aufmerksam machen möchte, wäre mir wahrscheinlich entgangen, wenn nicht "Spiegel-Online" es nach den üblichen Regeln dieser Art von Journalismus verrissen hätte.

    Dort steht seit gestern Abend unter der Überschrift "I am Thilo Sarrazin from Börlin" dies zu lesen:
    Erst stürmte er die deutschen Bestsellerlisten, jetzt wendet sich Thilo Sarrazin ans Ausland. In einer weltweit gesendeten BBC-Talkshow verbreitete er seine Thesen auf Englisch - mit starkem Akzent. (...) Die meisten Anrufer konnten besser Englisch als Sarrazin.
    Dieses Gespräch habe ich mir inzwischen angehört. Tun Sie es bitte auch, wenn Sie ungefähr fünfundvierzig Minuten erübrigen können. Ich verspreche Ihnen: Es lohnt sich. Den Mitschnitt der Sendung finden sie noch in den nächsten sieben Tagen hier.



    Was zunächst die Albernheit mit dem Akzent angeht: Ja, Thilo Sarrazin hat einen starken deutschen Akzent, wie man ihn bei vielen findet, die nicht in jungen Jahren in einer englischsprachigen Umgebung gelebt haben; Henry Kissinger beispielsweise, der mit 15 Jahren in die USA kam, hat noch immer einen starken deutschen Akzent.

    Auf jeder größeren wissenschaftlichen Konferenz können Sie Deutsche bestes Englisch sprechen hören, aber mit einem starken Akzent. Thomas Mann hatte ihn auch noch nach Jahren des Aufenthalts in den USA; an seinen sozusagen souveränen Akzent fühlte ich mich sehr erinnert, als ich jetzt Sarrazin hörte.

    Sarrazins Akzent ist des weiteren so, wie man ihn häufig bei Menschen findet, die das Englische gut beherrschen, weil sie es viel lesen; die es aber selten sprechen. Da gibt es neben der schlechten Phonetik auch schon einmal eine falsche Aussprache (Sarrazin spricht zum Beispiel determine als "ditermein" aus statt "ditermin").

    Ansonsten ist - überzeugen Sie sich davon - Sarrazins Englisch zwar nicht glänzend, aber sehr gut.

    Es ist sogar angenehmer anzuhören als sein Deutsch, weil er im Englischen logischerweise diese störende Marotte ablegt, immer wieder "also" zu sagen. Sein Wortschatz ist ausgezeichnet, seine Grammatik weitgehend fehlerfrei, von gelegentlichen kleinen Unschärfen abgesehen.

    Wenn ihm einmal ein Germanismus unterläuft, dann korrigiert er das sofort; so etwa, wenn im Englischen das present perfect verlangt wird, während im Deutschen das Präsens richtig ist. Ein kurioser kleiner Versprecher unterlief ihm allerdings, als er statt des englischen thirteen französisch treize sagte.

    Natürlich passieren ihm Ungenauigkeiten und Schnitzer, wie sie nun einmal das Merkmal der freien Rede sind; das unterläuft fast jedem auch in seiner Muttersprache.

    Dem Autor des "Spiegel-Online"-Artikels hingegen - er heißt Carsten Volkery und ist Korrespondent in London - wären bessere Kenntnisse des Englischen in der Tat zu wünschen. Hätte er sie, dann wäre ihm schwerlich der nachgerade groteske Fehler unterlaufen, Sarrazins Satz "The brightest people get the fewest babies" (Die klügsten Menschen bekommen die wenigsten Babys) als "The whitest people get the fewest babies" (Die weißesten Menschen ...) zu transskribieren; inzwischen wurde das korrigiert.

    Sarrazin sagt diesen Satz ziemlich am Anfang der Sendung; Sie können sich leicht davon überzeugen, daß man schon sehr, sehr schlecht Englisch können muß, um ihn falsch zu verstehen. Von der inhaltlichen Absurdität der Variante Volkerys ganz abgesehen.

    Soviel zu diesem einigermaßen schäbigen Versuch, Sarrazin durch die Behauptung, sein Englisch sei schlecht, in ein ungünstiges Licht zu rücken (was natürlich prompt von Linken aufgenommen wurde; für einen von ihnen "stammelt" dann Sarrazin Englisch).



    Warum lohnt es sich, dieses Gespräch anzuhören? Aus meiner Sicht aus vier Gründen:
  • Erstens können Sie miterleben, was fairer Journalismus ist. Nach wie vor ist die BBC darin beispielhaft. Sarrazin wurde nicht (wie in den deutschen Talkshows, in denen er auftrat) mit einer Mehrheit von Gegnern konfrontiert - teilweise, wie bei Beckmann, überhaupt nur Gegnern -, sondern man hatte ins Studio in Berlin einen Gegner Sarrazins eingeladen, einen Befürworter seiner Thesen und den Berlin-Korrespondenten der BBC, der vorbildlich sachlich berichtete. Der Moderator enthielt sich jeder eigenen Stellungnahme, schritt aber rigoros ein, wenn ein Frager nicht zur Sache kommen wollte oder wenn Sarrazin eine Antwort schuldig blieb.

    Hören Sie sich das an; dann wissen Sie, welch einen miserablen Journalismus uns die meisten Sendungen des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens zumuten.

  • Zweitens wird in dieser Sendung, in der man ihn fair und mit Respekt behandelte, Sarrazins Denkweise deutlicher als in den Auftritten in den deutschen Medien, bei denen er sich meist gegen Anwürfe wehren mußte.

    Einen Schlüsselsatz sagt er ziemlich am Anfang des Gesprächs. Ein Gesprächspartner hielt ihm vor, daß er "das Land spalte". Sarrazin erwähnt daraufhin Zahlen zu dem Sachverhalt, daß die Probleme mit Einwanderern sich bei den Moslems konzentrieren, und sagt: "This is a statistical fact, and to call a fact a fact is not dividing people". Dies sei eine statistische Tatsache, und eine Tatsache eine Tatsache zu nennen bedeute nicht, die Menschen zu spalten.

    Immer wieder kommt Sarrazin in dem Gespräch auf diesen Punkt zurück, wenn er Kritik begegnet: Was er sage, das sei nun einmal so und keine Frage der Bewertung. Man hat ihm die Bezeichnung "Zahlenmensch" aufgeklebt. Das ist er so sehr und so wenig wie jeder Wissenschaftler, der in einer quantitativ forschenden Disziplin arbeitet. Aber er ist vor allem den Tatsachen verpflichtet.

    Das nehmen ihm diejenigen übel, die lieber "im Bauch" fühlen als klar denken; die lieber von einer schönen Welt träumen, als die Welt zur Kenntnis zu nehmen, so wie sie ist. Die beispielsweise ihre Augen davor verschließen, welchen radikalen Wandel es für Deutschland bedeuten wird, von Generation zu Generation ein Drittel seiner einheimischen Bevölkerung zu verlieren.

    Das nehmen ihm diejenigen übel, deren Denken von Empörtheit bestimmt ist. Der Sarrazin-Gegner unter den Eingeladenen, ein Deutscher türkischer Herkunft, warf Sarrazin vor: "You cannot divide people up into good people and bad people" - man dürfe Menschen nicht in gute und schlechte Menschen aufteilen. Eine Anruferin sprach gar von "stigmatisieren". Was soll Sarrazin darauf sagen? Daß er das natürlich nicht tut? Er wird das Gefühl seiner Gesprächspartner damit nicht erreichen. Sie fühlen sich verletzt, wenn über ihre Probleme gesprochen wird.

  • In einer Passage des Gesprächs wurde - wieder einmal - deutlich, wie schwer es ist, wissenschaftliche Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen. Es ging um die Stellungnahme einer wissenschaftlichen Vereinigung, in der festgestellt wurde, daß "die meisten Menschen dieselben Gene" hätten. Das hielt der Moderator Sarrazin entgegen.

    Nun stimmt das natürlich; aber es besagt überhaupt nichts zur Erblichkeit von Intelligenz; denn bei dieser Diskussion geht es nicht um Gene, sondern um Allele (siehe die zweite und dritte Folge der Serie in ZR "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft"). Aber das kann man in einem solchen Gespräch schwerlich so erklären, daß es die Hörer verstehen; also bleibt der Eindruck, Sarrazin hätte etwas behauptet, dem kompetente Wissenschaftler widersprechen würden. Was eindeutig nicht der Fall ist.

  • Viertens wurde in einer Passage des Gesprächs eine Schwäche von Sarrazins Argumentation deutlich. Eine Anruferin - eine deutsche Psychiatrin türkischer Herkunft - konfrontierte ihn mit einem Argument, das leider in der anschließenden Diskussion unterging: Sie hatte längere Zeit in den USA gelebt und sagte, daß dort die Moslems nicht generell schlechter integriert seien als andere Gruppen von Einwanderern; Integrationsprobleme hätten vielmehr die Latinos. Das stimmt; siehe Islam in den USA: Eine andere Bevölkerungsstruktur als in Europa und Ansätze zu einem modernen, liberalen Islam; ZR vom 19. 1. 2011.

    Mich hätte interessiert, wie Sarrazin auf diesen Einwand reagiert. Aus meiner Sicht dürfte die Antwort sein, daß der moslemische Glaube nicht generell ein Integrationshindernis ist; daß er aber dazu wird, wenn die aufnehmende Gesellschaft aufgrund ihrer Sozialleistungen keinen starken Anreiz setzt, sich in sie zu integieren.
  • Gegen Ende des Gesprächs kam das, worauf ich eigentlich von Anfang an gewartet hatte: Ein Anrufer aus London beschuldigte Sarrazin, ein Faschist zu sein. Der Moderator fragte ihn, wie er auf eine solche Sprache reagiere. Seine Antwort:
    Well, everyone has the responsibility for his own language. I am responsible for what I said. And what I said was said with care and with deliberation and after having done a lot of research, and it was said in a moderate way.

    And I am responsible for what I said. I am not responsible for the misreadings by people who do call me a fascist.

    Nun, ein Jeder trägt die Verantwortung für seine eigene Sprache. Ich bin für das verantwortlich, was ich sage. Und was ich gesagt habe, das habe ich mit Sorgfalt gesagt und mit Bedacht, und nachdem ich viel recherchiert hatte, und es wurde auf eine zurückhaltende Art gesagt.

    Und ich bin verantwortlich für das, was ich sage. Ich bin nicht verantwortlich für Fehlinterpretationen durch Leute, die mich in der Tat einen Faschisten nennen.
    Klare Worte. Gesagt in einem sehr passablen Englisch; in freier Rede mit einwandfreier Grammatik. Auch deshalb habe ich diese Passage wörtlich zitiert: Damit Sie sich davon überzeugen können, wie sehr Sie dem Artikel von Carsten Volkery vertrauen können.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.