17. Juni 2011

Der 15. Juni 2011 - ein "ereignisreicher Tag für Rußlands Strategie". BMD, die Nato und der russische Imperialismus

Vor zwei Wochen habe ich auf einen außenpolitischen Aspekt des deutschen "Ausstiegs aus der Kernenergie" aufmerksam gemacht: Er wird Deutschlands Abhängigkeit von Rußland erhöhen, auf dessen Erdgaslieferungen wir künftig mehr als bisher angewiesen sein werden. Das hat Konsequenzen für das geostrategische Gleichgewicht in Osteuropa (Russisches Erdgas statt deutscher Kernenergie. Wie der "Ausstieg" die geopolitische Lage verändert; ZR vom 2. 6. 2011).

Ich habe mich damals auf einen Artikel von Stratfor gestützt. Gestern ist dort ein weiterer Artikel zu diesem Themenkomplex erschienen (nur Abonnenten zugänglich). Er beleuchtet den militärischen Aspekt.

Rußland ist, seit es unter Putin seine Schwächeperiode der Jahre nach 1989 allmählich überwunden hat, entschlossen, seinen alten Machtbereich in Osteuropa in Gestalt einer Einflußzone zurückzugewinnen. Das ist eine langfristig angelegte Zielsetzung, die der russische einstige Spitzendiplomat und jetzige wissenschaftliche Berater des Kreml Prof. Dr. Igor Maximytschew vor drei Jahren ausführlich in einem Vortrag in Berlin dargelegt hat. Ich habe damals über diesen Vortrag in zwei Artikeln berichtet ("Mit dem Rückzug ist es vorbei". Igor Maximytschew stellt die Frage von Leben und Tod; ZR vom 10. 10. 2008 und Entkolonialisierung oder "Selbstverstümmelung"? Rußlands auf dem Weg zurück zu einer imperialen Politik; ZR vom 16. 11. 2008).

Damals, im Jahr 2008, hatte Wladimir Putin seine Rochade veranstaltet und war in das Amt des Ministerpräsidenten gewechselt. Ab Frühjahr kommenden Jahres wird er wieder Staatspräsident sein, wenn nicht etwas ganz Unvorhersehbares passiert. Die Konturen des neuen russischen Imperialismus in Osteuropa werden dann deutlicher zu sehen sein als jetzt unter dem zu leisen Tönen neigenden Interims-Staatspräsidenten Medwedew.



Eigentlich fiele Deutschland als dem größten und stärksten Land Mitteleuropas die Rolle zu, ein Gegengewicht gegen die russische Expansionspolitik zu bilden. Aber davon kann aus verschiedenen Gründen keine Rede sein; erst recht nicht in Zukunft, wenn wir zunehmend auf Erdgas aus Rußland angewiesen sein werden.

Schon unter Präsident Bush waren die USA deshalb das entscheidende - fast kann man sagen: das einzige - Hindernis für Rußland bei seinem Ziel gewesen, die Dominanz über Osteuropa zurückzugewinnen. Eine Schlüsselrolle kam dabei der Ballistic Missile Defense (Verteidigung gegen ballistische Raketen; BMD) zu; einem Programm, durch das die USA langfristig in Osteuropa gebunden worden wären.

Als es von Präsident Bush initiiert worden war, hieß dieses Programm noch National Missile Defense (NMD). Stammleser von ZR erinnern sich vielleicht, daß ich seinen strategischen Hintergrund Anfang 2007 beschrieben habe: Es folgt der Logik des Nato-Doppelbeschlusses von 1979, daß ein Land, auf dessen Boden ein amerikanisches System zur Raketenverteidigung errichtet ist, vor russischen (damals sowjetischen) Drohungen weitgehend sicher ist; denn jeder Angriff würde eine amerikanische Reaktion herausfordern (Schurkenstaaten, amerikanische Raketen, russische Interessen; ZR vom 25. 2. 2007). Das erklärt den heftigen Widerstand Moskaus gegen dieses System; es würde dem russischen Imperialismus in Osteuropa ein großes Hindernis entgegenstellen.

Das führte zu einem diplomatischen Hin und Her, das seit Jahren im Gang ist. Seit Barack Obama Präsident ist, hat sich dabei Moskaus Position deutlich verbessert. Obama kippte das ursprüngliche NMD und verfolgt jetzt eher lustlos die Pläne für den Nachfolger BMD (siehe Russisch-amerikanische Beziehungen: Vorteil Moskau. Afghanistan, Osteuropa und der Zusammenhang; ZR vom 31. 5. 2011).



Der vorgestrige Mittwoch nun war nach Stratfors Analyse "an eventful day for Russia's anti-BMD strategy" - ein ereignisreicher Tag für Rußlands Strategie gegen BMD.

Erstens traf an diesem Tag der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, Armeegeneral Nikolai Makarow, in Moskau mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, General Volker Wieker, zusammen.

Zweitens wurde am Mittwoch eine gemeinsame Erklärung der Shanghai Cooperation Organization (SCO) veröffentlicht; einer von Rußland und China dominierten Gruppe, der eine Reihe asiatischer Staaten angehören. In der Erklärung wird BMD als ein Plan verurteilt, der "die internationale Stabilität gefährden würde".

Und zum Dritten hat am Mittwoch die Tschechische Republik mitgeteilt, daß sie sich endgültig nicht an BMD beteiligen wird.

Zusammengenommen könnten - schreibt Stratfor - diese drei Ereignisse die Entwicklung der Sicherheitsinstitutionen in Europa und darüber hinaus grundlegend ändern.

Bisher spielte für die Sicherheit Europas die von den USA dominierte Nato die entscheidende Rolle. Rußlands Ziel (das übrigens schon die UdSSR mit ihrem Plan eines "kollektiven Sicherheitssystems in Europa" verfolgt hatte) besteht darin, die USA aus Europa herauszudrängen und an die Stelle der Nato ein europäisches Sicherheitssystem zu setzen, in dem Rußland entscheidenden Einfluß hätte. Moskau hat deshalb einen Sicherheitsvertrag (European Security Treaty) ins Spiel gebracht und strebt ein gemeinsames Sicherheitskomitee mit der EU an (EU-Russia Political and Security Committee); jeweils unter Ausschluß der USA.

Eine Schlüsselstellung bei diesen russischen Plänen nimmt Deutschland ein. Die Stärkung der Beziehungen zu Deutschland steht - meint Stratfor - im Mittelpunkt der russischen Europapolitik. Den Staaten des einstigen russischen Machtbereichs soll mit einer Annäherung Deutschlands an Rußland signalisiert werden, daß sie sich auf Hilfe aus den alten Nato-Staaten keineswegs verlassen könnten.

Moskau hält die Zeit für eine solche Politik für gekommen; denn unter Präsident Obama haben sich die außenpolitischen Schwerpunkte der USA verändert. Der Mittwoch dieser Woche hat ein Schlaglicht auf die wichtigsten Komponenten dieser Strategie geworfen: Deutsch-russische Militärgespräche zeigen die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten. Tschechien kehrt BMD den Rücken. Rußland ist es gelungen, China und andere Staaten Asiens für seine Ablehnung von BMD zu gewinnen. Dieser Tag zeigte, wie Stratfor schreibt, wie Moskaus "komplexe und facettenreiche Strategie, um BMD auszuhebeln, ihre Früchte trägt".
Zettel



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