5. Juni 2011

Literarische Randnotizen (2): Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Günter Grass (1980) kommentiert Thilo Sarrazin (2010) (Teil 1)

Im Englischunterricht habe ich als Schüler den Begriff "rotten borough" gelernt. In England nannte man so Orte, die einmal von zahlreichen Menschen bewohnt gewesen waren, dann aber von vielen ihrer Einwohner verlassen wurden. Ihre Vertretung im Parlament behielten diese heruntergekommenen Orte aber, so daß mitunter - wie bei Plympton Erle in Devon - in 182 Häusern nur noch 40 Wähler lebten, die aber zwei Abgeordnete ins Unterhaus schicken durften.

Das war im 19. Jahrhundert. Es könnte im Deutschland des 21. Jahrhunderts, was die Bevölkerungsentwicklung angeht, ähnlich werden. Im "Spiegel" war kürzlich über das Dorf Nordhalben im bayerischen Frankenwald dies zu lesen:
85 von 820 Häusern stehen leer. Früher lebten hier 3000 Menschen, jetzt sind es 1900. Die alten Leute sind gestorben, niemand kam nach.(...) Die Großbäckerei ist in den Osten gezogen, vor der einstigen Gartenmöbelfabrik wuchert der Löwenzahn, im letzten Jahr hat Edeka dichtgemacht, die Bahnlinie gibt es seit 1994 nicht mehr.(...) Nordhalben ist ein sterbendes Gemeinwesen. Obwohl es in Bayern liegt.
Zum Teil liegt diese Entwicklung an Wanderungsbewegungen; Menschen ziehen aus den Dörfern und Kleinstädten dorthin, wo die Arbeitsplätze und die Unterhaltungsangebote sind.

Aber die Deutschen wandern nicht nur; sie werden auch weniger. Nach den letzten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamts wurden 2009 in Deutschland 651.000 Kinder geboren; es starben 842.000 Menschen. Die Bevölkerung schrumpfte also, betrachtet man nur Geburten und Sterbefälle, um 191.000 Einwohner. Dieses Negativsaldo wächst; 2008 hatte es noch –168.000 betragen.

Da es keine Indizien für eine Umkehrung des Trends gibt (die Geburtenziffer ist weiter leicht fallend), kann man davon ausgehen, daß Deutschland Jahrzehnt für Jahrzehnt um die zwei Millionen Menschen verliert; vielleicht bald mehr. Durch Zuwanderung wird das in keiner Weise kompensiert; auch hier ist die Bilanz mit der Abwanderung inzwischen negativ.



1980 publizierte Günter Grass das Buch "Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus". Ich schreibe "das Buch", denn welchem Genre man das Werklein (180 recht groß bedruckte Seiten) zurechnen sollte, ist nicht leicht auszumachen. Es ist eine Mischung aus einem Reisebericht, der Schilderung eines Filmprojekts, allerlei Essayistischem und einer Erzählung, die freilich nicht recht vom Fleck kommen will; oder sagen wir: die zu Ende ist, bevor sich so etwas wie eine Handlung entwickeln konnte.

Der Buchhandel nennt es heute einen Roman; aber meine Erstausgabe von 1980 trägt diese Bezeichnung nicht; der Klappentext verspricht ein "Buch voller Rollentausch, Ortswechsel und Zeitverschiebung, voller Luft- und Gedankensprünge".

In der Tat. Es geht recht durcheinander. Man hat ein wenig den Eindruck, daß Grass die Notizen, die er sich zu einem Buch gemacht hatte, einigermaßen lieblos aneinandergereiht und als just dieses Buch publiziert hat.

1979 reisten er und seine Frau Ute längere Zeit durch Indien, Indochina, Indonesien und China; zeitweise begleitet von dem Ehepaar Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta; beide Filmregisseure. Dabei entstand die Idee zu einem Film, für den Grass das Drehbuch schreiben sollte. Vielleicht aber schreibt Grass zum selben Thema auch ein Buch; er weiß das noch nicht, so erfahren wir.

Das Buch, das der Leser in Händen hält, handelt von dieser Reise, von diesem Film oder vielleicht auch Buch. Es handelt aber auch tagebuchartig von der politischen Lage in Deutschland; vom Sterben Nicolas Borns auch noch. Und es hat eine, nun ja, erzählerische Handlung; nämlich den Inhalt des geplanten Films, aus dem freilich nie etwas wurde. Aus dem Buch wurde hingegen etwas: Wir haben es ja vor uns. Als ein Buch, in dem geschildert wird, wie es selbst entstand, dieses Buch, als die Kopfgeburt des Autors Günter Grass.

Nicht wahr: So einfach drauflos erzählen kann man ja heutzutage nicht mehr; im Jahr 1980. Das muß schon gebrochen sein; dem Leser muß ein Spiel mit den Erzählebenen geboten werden.

Literarisch ist diese Melange kaum von Belang. Interessant ist das alles allenfalls als Illustration einer der Schwächen von Grass, wie sie später auch in "Ein weites Feld" krass zutage trat: Er neigt zum Konstruieren; zum Herstellen künstlicher Bezüge und Zusammenhänge, deren Konstruiertheit so offen zutage liegt wie die Anatomie der von Gunther von Hagen Plastinierten.

In "Ein weites Feld" sind es die zahllosen gekünstelten Parallelen zwischen der in der Gegenwart spielenden Handlung und dem Leben und Streben Fontanes; von Grass mit erkennbarer Mühe gebastelt und dem bald ermüdenden Leser wieder und wieder dargeboten. Auch Aha-Erlebnisse verlieren beim siebenundzwanzigsten Mal ihren Reiz. In den "Kopfgeburten" ist es, wie anders, das Thema "Gebären", auf das wir ständig mit der Nase gestoßen werden.

Zum einen geht es um die Geburten - um die vielen, vielen Geburten - in den vom Ehepaar Grass bereisten Staaten Asiens. Wie wäre es, so denkt Grass ziemlich am Beginn des Buchs nach, wenn Deutschland so viele Einwohner hätte wie China?

Zum anderen geht es eben um "Kopfgeburten", also Produkte der Phantasie. Grass' Kopfgeburten sind hier die beiden Studienräte Harm und Dörte Petersen (wir merken: Norddeutsche!) aus Itzehoe; Achtundsechziger und jetzt in der SPD engagiert. Sie treten uns in dem Buch als handelnde Personen entgegen; aber nicht, ohne daß Grass mit seiner Rolle als Erzähler nach Kräften kokettiert. Zum Beispiel hält Harm auf Seite 172 einen Vortrag vor einem SPD-Ortsverein, "vergißt" aber, eine These des Autors Günter Grass vorzutragen, "so sehr ich ihn (vielleicht zu dringlich) darum bat". Autorenpech, sozusagen. Aber nein: Der Autor spielt souverän mit den Erzählebenen. Wie gesagt, das erwartete der moderne Leser anno 1980.

Diese Kopfgeburten von Grass - Harm und Dörte - nun reden so ziemlich das ganze Buch hindurch worüber? Natürlich über das Gebären. Wollen, sollten, dürfen sie ein Kind bekommen? Das quält sie; damit schlagen sie sich herum. Das Kind, die Frage des Kinderkriegens ist für sie (S. 108) auch wieder eine Kopfgeburt. Schafft sie es bis zur realen Geburt, diese Kopfgeburt? Wir erfahren es nicht. Die "Frage nach dem Kind Ja, dem Kind Nein" (S. 119) bleibt offen. Zu zahlreich sind die zu bedenkenden Gesichtspunkte, als daß unser Paar sich entscheiden könnte.



Und das nun, dieses Reden über die Gesichtspunkte, ist interessant. Das ist der Grund, warum ich dieses Buch nach dreißig Jahren wieder gelesen habe und warum ich jetzt darüber schreibe.

Denn das, was Harm und Dörte da beschäftigt, worüber sie räsonnieren und palavern - das ist, so behaupte ich, ein Schlüssel zum Verständnis des demographischen Niedergangs, auf den Deutschland zusteuert.

Dörte und Harm Petersen waren, als der Kopf des Autors Günter Grass sie gebar, die klischeehaften Repräsentanten einer kleinen Subpopulation der Deutschen - Akademiker, Achtundsechziger, Sozialdemokraten, in den Dreißigern. Wenn man so will, ist "Kopfgeburten" auch eine Milieustudie. Heute, dreißig Jahre später, ist aus dem Milieu das Ganze geworden.

Harm und Dörte, die heute frühpensioniert wären, würden sich umblicken und um sich herum lauter Harms und Dörtes sehen. Menschen nahezu jeden Alters, aus nahezu allen Schichten, die allesamt denken wie sie im Jahr 1980. Auch, was das Gebären angeht. Und die damit sozusagen die Träger der jetzigen demographischen Entwicklung sind.

Wie Harm und Dörte beratschlagen, hin- und herüberlegen, zwischen Ja und Nein zum Kind schwanken - das ist damit gewissermaßen ein präkognitiver Kommentar zum Buch von Thilo Sarrazin. Die Antwort nämlich auf die Frage, die Sarrazin ausklammert: Warum eigentlich hat Deutschland diese beklemmend niedrige Geburtenziffer?

Im zweiten Teil dieses Artikels geht es folglich noch einmal um das Buch von Sarrazin und zum anderen um die Essenz aus dem Buch von Grass: Wie denken sie, wie "ticken" sie (wie man inzwischen sagt), diese beiden Studienräte aus dem Jahr 1980? Und was will uns das heute sagen?
Zettel



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