18. Juni 2011

Marginalie: Zwanzig Jahre "Hauptstadtbeschluß". Westerwelle, Wanderzirkus

Von Guido Westerwelle hört man derzeit nicht sehr viel. Fast könnte man den Eindruck haben, die Kanzlerin sei dem Vorbild Konrad Adenauers gefolgt, der mehr als vier Jahre lang sein eigener Außenminister gewesen war, bevor im Juni 1955 Heinrich von Brentano zum ersten Vollzeit-Außenminister der jungen Bundesrepublik Deutschland ernannt wurde.

Jetzt aber hat sich Westerwelle zu Wort gemeldet. Zu welchem Thema wohl? Griechenland? Nahostkonflikt? BMD? Nein, Bonn.

Gestern schrieb Daniel Friedrich Sturm in "Welt-Online":
Innerhalb der FDP ist es zum Streit über die Zukunft des Bonn/Berlin-Gesetzes gekommen. Während die Jungen Liberalen (Julis) einen Umzug aller Ministerien nach Berlin fordern, spricht sich Außenminister Guido Westerwelle für Beibehaltung des Status quo aus. (...) "Die Bundesregierung steht zur Zukunft der Bundesstadt Bonn", sagte Westerwelle "Welt Online". Er fügte hinzu: "Das vor 20 Jahren vom Deutschen Bundestag verabschiedete Bonn/Berlin-Gesetz und die dort vorgenommene Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn hat sich bewährt."
Ob da wirklich der Außenminister gesprochen hat, im Namen der Bundesregierung? Oder vielleicht doch eher der "Abgeordnete aus der Bundesstadt Bonn", der im Internet wissen läßt: "Meinen politischen Einfluss setze ich auch für die Interessen meiner Bonner Mitbürger ein"? Sein FDP-Kreisverband Bonn stellt ihn übrigens bis heute im Internet als Bundesvorsitzenden der FDP vor.

Westerwelle reagierte auf einen Vorstoß der Jungen Liberalen (Julis), der Jugendorganisation der FDP:
"Der teure und aufwendige Wanderzirkus zwischen Bonn und Berlin ist reine Steuermittelverschwendung und sollte umgehend eingestellt werden", sagte der Juli-Vorsitzende Lasse Becker "Welt Online". Er fügte hinzu "Im Rahmen der Haushaltskonsolidierung und Verwaltungsmodernisierung setzen wir uns dafür ein, die verbliebenen sechs Bundesministerien komplett von Bonn nach Berlin zu verlegen". (...)

"Es kann nicht sein, dass die FDP auf Europäischer Ebene zu Recht für einen einheitlichen Sitz des Europaparlaments in Brüssel eintritt, aber den deutschen Regierungswanderzirkus weiter mittragen will", sagte Juli-Chef Becker. Seine Organisation fordere die FDP auf, sich intensiv mit der Frage eines Umzugs der Bonn-Ministerien nach Berlin zu beschäftigen.



In der Tat ähnelt der doppelte deutsche Regierungssitz (Berlin ist die "Hauptstadt"; Bonn trägt den offiziellen Titel "Bundesstadt") mit seiner Aufteilung der Ministerien arg dem berühmt-berüchtigten Wanderzirkus des Europäischen Parlaments, dessen Plenarsitzungen in Straßburg stattfinden, während seine Ausschüsse in Brüssel tagen; und verwaltet wird das Ganze von Luxemburg aus.

Es ist ja nicht nur so, daß ein Teil der Bundesministerien seinen Sitz in Berlin hat, der andere nach wie vor in Bonn. Sondern der Versuch, das irgendwie zusammenzuhalten, hat zu der Absurdität des Erst- und Zweitsitzes geführt: Alle Ministerien, die nicht ohnehin in Bonn residieren (dort sind Verteidigung, Landwirtschaft, Entwicklungshilfe, Umwelt, Gesundheit und Forschung verblieben), haben einen Zweitsitz in Bonn; und umgekehrt hat zum Beispiel das Ministerium der Verteidigung einen Zweitsitz in Berlin: Von seinen rund 3000 Mitarbeitern wirken 2500 am Rhein und 500 an der Spree.

Deutschland leistet sich damit das Kuriosum, daß jedes seiner Bundesministerien sozusagen in zweifacher Ausfertigung existiert; mal in Bonn mit Außenstelle in Berlin, mal in Berlin mit einer Bonner Dependance.

Viele Beamte, Verwaltungsangestellte, Soldaten, sind damit das, was man mit einem in der DDR entstandenen Wort "Reisekader" nennen könnte. Wer am Rhein seiner Arbeit nachgeht, der hat manchmal auch einen Koffer in Berlin; die in Berlin tätigen Bediensteten des Bundes ihrerseits sind oft am schönen Rhein wohnen geblieben.

Sie pendeln natürlich auf Kosten des Steuerzahlers; zu Besprechungen ihrer Ministerien, zum heimischen Wochenende. Weitere Kosten enstehen durch den Transport von Akten, durch die elektronische Kommunikation innerhalb der geteilten Ministerien und zwischen ihnen. Nach einem Bericht der "Berliner Zeitung" vom 7. Mai 2011 werden dafür in diesem Jahr 9,2 Millionen Euro fällig; so hat es das Finanzministerium ausgerechnet. Rund die Hälfte (4,7 Millionen Euro) entfällt auf Dienstreisen zwischen dem Rheinland und Berlin; es sind überwiegend Flugkosten (3,3 Millionen Euro).

Eine sachliche Rechtfertigung für diese deutsche Seltsamkeit gibt es nicht. Die Aufteilung des Kabinetts zwischen Bonn und Berlin war der Preis dafür, daß 1991 eine knappe Mehrheit des Bundestags (338 Ja-Stimmen gegen 320 Nein-Stimmen) dem sogenannten Hauptstadtbeschluß zustimmte. Damit wurde der Sitz des Bundestags von Bonn nach Berlin verlegt; die Aufteilung der Ministerien wurde dann 1994 durch das Berlin/Bonn-Gesetz geregelt.

Man wollte nicht in Bonn bleiben und nicht nach Berlin ziehen; Beschluß und Gesetz illustrieren aufs Schönste das, was man einen faulen Kompromiß nennt. Sie glichen der Entscheidung eines Ehepaars, das sich nicht zur Scheidung, aber auch nicht zum weiteren Zusammenleben entschließen kann: Dann leben wir erst einmal getrennt. So etwas mag eine akzeptable, vielleicht eine notwendige Übergangslösung sein; eben ein mehr oder weniger fauler Kompromiß. Eine Dauerlösung ist es selten.

Vernünftig wäre es, so zu verfahren, wie die Julis es verlangen, und alle Ministerien nach Berlin umziehen zu lassen. Die Abstimmung über den Hauptstadtbeschluß fand am 20. Juni 1991 statt. Der Jahrestag könnte ein Anlaß sein, darüber zumindest ernsthaft zu debattieren.

Aber das wird wohl nicht geschehen. Nicht nur deshalb nicht, weil Bonn eine kräftige Lobby hat; Guido Westerwelle ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Sondern auch wegen des natürlichen Beharrungsvermögens, das jeder Bürokratie eigen ist.

Im Lauf von zwei Jahrzehnten hat sich doch alles "eingespielt". Zu Änderungen sind Bürokraten in der Regel nur dann bereit, wenn es gar nicht anders geht. Hier aber geht es ja, wie man sieht. Daß es auch besser ginge und vor allem billiger, wäre für ein Privatunternehmen ein Argument. Nicht für eine Verwaltung, die ja schließlich keinen Profit erwirtschaften muß.
Zettel



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