24. Juni 2011

Präsident Obamas Afghanistan-Rede und der Niedergang der USA. Nation building

"America, it is time to focus on nation building here at home" (Amerika, es ist an der Zeit, uns auf das nation building hier zu Hause zu konzentrieren).

Das ist der Kernsatz der Rede, die Präsident Obama vorgestern zum Afghanistan-Krieg hielt; ihr offizieller Titel war "Remarks by the President on the Way Forward in Afghanistan" (Ausführungen des Präsidenten zum Weg nach vorn in Afghanistan). Sie können diese Rede auf der WebSite des Weißen Hauses nachlesen.

Es war der erstaunliche Kernsatz einer historischen Rede.

Historisch ist die Rede, weil sie den Rückzug der USA nicht nur aus Afghanistan markiert, sondern zugleich aus ihrer Rolle als Weltmacht. Obama hat nicht weniger verkündet als das Ende einer Politik, die seine Vorgänger seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt hatten. Der Präsident:
These long wars will come to a responsible end. As they do, we must learn their lessons. Already this decade of war has caused many to question the nature of America’s engagement around the world. Some would have America retreat from our responsibility as an anchor of global security, and embrace an isolation that ignores the very real threats that we face. Others would have America over-extended, confronting every evil that can be found abroad.

We must chart a more centered course. Like generations before, we must embrace America’s singular role in the course of human events. But we must be as pragmatic as we are passionate; as strategic as we are resolute. When threatened, we must respond with force –- but when that force can be targeted, we need not deploy large armies overseas.

Diese langen Kriege werden zu einem verantwortbaren Ende kommen. Dabei müssen wir die Lehren aus ihnen ziehen. Dieses Jahrzehnt der Kriege hat viele bereits veranlaßt, das Wesen des amerikanischen Engagements rund um die Welt in Frage zu stellen. Einige hätten gern, daß Amerika sich aus unserer Verantwortung als Anker der weltweiten Sicherheit zurückzieht und sich einer Isolation zuwendet, welche die realen Gefahren ignoriert, denen wir uns gegenübersehen. Andere wünschen eine Überdehnung Amerikas, bei der wir uns jedem Übel entgegenstellen, das irgendwo in der Welt zu finden ist.

Wir müssen einen Kurs mehr in der Mitte abstecken. Wie Generationen vor uns müssen wir die einmalige Rolle Amerikas im Gang der menschlichen Geschichte annehmen. Aber wir müssen ebenso pragmatisch sein, wie wir leidenschaftlich sind; ebenso strategisch, wie wir entschlossen sind. Wenn man uns bedroht, müssen wir mit unserer Macht reagieren - aber wenn diese Macht gezielt eingesetzt werden kann, dann brauchen wir in Übersee keine großen Armeen einzusetzen.
Das ist der Abschied von der Politik der Interventionen der USA, die mit dem Zweiten (im Grunde schon mit dem Ersten) Weltkrieg begannen und sich über den Koreakrieg, den Vietnam- und den Irakkrieg bis zum Afghanistankrieg fortsetzten. In diesen Kriegen erwarben, festigten und verteidigten die USA ihre Rolle als Weltmacht; gut vier Jahrzente lang in Konkurrenz mit der Sowjetunion, dann rund zwei Jahrzehnte als die, wie man sagte, "einzige verbliebene Supermacht".

Das waren mehr als sechzig Jahre, in denen die USA sich als Weltmacht definierten; das heißt als eine Macht, die weltweite Interessen hat und die diese, falls erforderlich, auch militärisch verteidigt. Im Korea- und im Vietnamkrieg ging es um die Abwehr kommunistischer Aggressionen; im Irak und in Afghanistan um die Wahrung amerikanischer Interessen im Nahen und Mittleren Osten im Zusammenhang mit der Bedrohung durch den militanten Islamismus.

Als die Sowjetunion zusammenbrach, rechneten die meisten mit einer langen Periode amerikanischer Hegemonie, bis China so weit sein würde, als Konkurrent auf der weltpolitischen Bühne aufzutreten. Es ist anders gekommen: Der Aufstieg Chinas vollzieht sich schneller als erwartet, und die USA erleben unter Präsident Obama einen Niedergang, wie ihn kaum jemand für möglich gehalten hatte.

In der Washington Post kommentierte deren Kolumnist Richard Cohen die Rede Obamas unter der Überschrift "President Obama's speech confirms America's decline" (Die Rede Präsident Obamas bestätigt den Niedergang Amerikas):
The American Century just ended. This was the phrase coined by Henry Luce, which so aptly described America as the modern-day colossus, more powerful than any nation had ever been. Wednesday night, President Obama said that power had reached its limit. He was bringing 10,000 troops home from Afghanistan. The war was not finished, but we are.

"America, it is time to focus on nation building at home,” the president said.

There it was, the theme of the speech. We had done what we could in Afghanistan, and there was, of course, more to do. But the purse was empty and the nation was tired -- this is me, not Obama, talking, but he said much the same thing.

Das Amerikanische Jahrhundert ist soeben zu Ende gegangen. Dies war die Bezeichnung, die Henry Luce geprägt hatte und die so treffend Amerika als den Koloß der Gegenwart porträtierte, mächtiger als jede Nation zuvor. Mittwoch Nacht sagte Präsident Obama, daß die Macht ihre Grenzen erreicht habe. Er werde 10.000 Mann aus Afghanistan zurückholen. Der Krieg sei nicht am Ende, aber wir sind es.

"Amerika, es ist an der Zeit, uns auf das nation building hier zu Hause zu konzentrieren" sagte der Präsident.

Da war es, das Thema dieser Rede. Wir hätten in Afghanistan getan, was wir konnten, und natürlich sei mehr zu tun. Aber der Geldbeutel sei leer und die Nation müde - das sind meine Formulierungen, aber er sagte nahezu dasselbe.
So ist es; auch wenn Barack der Redner die Botschaft natürlich in schöne Worte verpackte. Aber da war es eben, das "Thema dieser Rede": nation building. Ich habe das unübersetzt gelassen, denn dieser Begriff bedarf der Erläuterung.

Er meint im üblichen Sprachgebrauch die Errichtung einer Nation dort, wo noch keine ist - weil eine abziehende Kolonialmacht eine Vielfalt von Stämmen, aber keine Nation hinterlassen hat; oder weil es an staatlichen Strukturen mangelt. Das Letzere wird auch als state building bezeichnet; siehe den Wikipedia-Artikel Nation-building.

Bis vergangenen Mittwoch ist wohl kaum jemand auf den Gedanken gekommen, daß die USA ein Land seien, das des nation building bedürfen könnte. Weder bestehen sie aus Stämmen oder Völkern, die sich nicht als Teile einer gemeinsamen Nation empfinden; noch mangelt es an staatlichen Institutionen. Was also meinte Obama mit diesem Satz?

Die Antwort hat schon vor dem Amtsantritt des gewählten Präsidenten Obama der Kolumnist der Washington Post Charles Krauthammer gegeben; im Dezember 2008. Ich habe das damals ausführlich zitiert und kommentiert; und wieder einmal hatte Krauthammer mit seiner bemerkenswerten Kraft der Analyse den Sachverhalt getroffen.

Ich war damals anderer Meinung als Krauthammer gewesen, aber er hatte Recht gehabt. Lesen Sie es bitte nach: Von Bush zu Obama (5): Mutmaßungen über Barack. Will Obama der große Transformator werden? Eine provokante These von Charles Krauthammer; ZR vom 16. 12. 2009. Wenn Sie Krauthammers Analyse gelesen haben, dann wissen Sie, was Obama mit nation building meint.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Titelvignette zeigt das offizielle Foto von Präsident Obama. Es wurde wenige Stunden vor seinem Amtsantritt von Peter Souza aufgenommen und ist unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported License freigegeben.