5. Juli 2011

Marginalie: Martenstein, der sanfte Unkorrekte. Kultivierte Kreative und ihre Gewaltphantasien

Wenn am Donnerstag die neue "Zeit" kommt, dann gibt es bei mir ein Ritual: Ich entnehme ihr das Magazin, schlage dort das Kreuzworträtsel auf und befestige das Heft auf dem für diese Handlung bereitliegenden Klemmbrett. Es ist auch mit einem Edding 140S ausgestattet.

Das ist eigentlich ein Folienschreiber, aber er eignet sich auch hier. Denn was eingetragen ist, das soll eingetragen bleiben; radiert wird nicht. Höchstens einmal übermalt, und diese Schande soll dann auch gut sichtbar sein. Diesmal ist es wieder passiert: Bei 4 senkrecht hatte zuerst FUCHS gestanden. Zwei Buchstaben mußten übermalt werden. Ärgerlich und unnötig, denn ich hätte ja mit dem Eintragen warten können, bis klar war, daß es DACHS sein mußte.



Diese Einleitung hat mit meinem Thema fast nichts zu tun. Denn es geht um die Kolumne von Harald Martenstein. Sie steht ziemlich weit vorn im Heft, und sie darf ich - so besagt es das Ritual - erst lesen, wenn hinten das Rätsel gelöst ist.

Martenstein nun beginnt gern mit einer Einleitung, die mit seinem Thema fast nichts zu tun hat. Oder irgendwie doch. Martenstein ist ein verschmitzter Autor. Einer, der harmlos tut, der es aber faustdick hinter den Ohren hat. Einer von den Leisen, die mit sanfter Stimme Skandalöses sagen.

Bei Martenstein ist das meist Wahres, denn er ist in dieser linksliberalen Umgebung des "Zeit-Magazins" ungefähr so sehr am richtigen Ort, wie Wolfram Siebeck es beim Erbsensuppenessen aus der Gulaschkanone wäre. Siebeck lese ich als nächstes, wenn ich Martenstein durchhabe. Sonst ist selten Lesenswertes im Heft.

Martenstein also ist so politisch unkorrekt, daß es eine wahre Wonne ist. Nur sagt er eben seine Unkorrektheiten so hinterhältig-naiv, daß man es ihm in der Redaktion irgendwie durchgehen läßt. Vielleicht merkt es auch keiner, oder man behält ihn als Zeichen der Liberalität des Blattes. Oder er hat einen Vertrag mit langer Laufzeit ausgehandelt; ich weiß es ja nicht.

Bei Martenstein weiß man im übrigen auch nicht, was er ernst meint und was nicht, was er sich ausgedacht hat und was erlebt. Es ist ein wenig wie einst bei Art Buchwald in der Washington Post; nur meist piano, pianissimo.



Diesmal allerdings haut er gleich mit der Überschrift auf die Pauke, der Harald Martenstein: "Über die Rache der Wohlhabenden: 'In den Unterschichtwohnungen die Fernseher kaputtschlagen!'". So steht es im gedruckten Magazin; für "Zeit-Online" hat man den Titel verdreht. Am Text wurde aber nichts geändert.

Rache der Wohlhabenden? Nun, streng genommen eines einzigen Wohlhabenden. Den, einen "erfolgreichen Kulturmanager", läßt Martenstein drauflos phantasieren. Er, der Chronist, teilt uns das ja nur mit. Es geht um Rache dafür, daß in Berlin ständig Autos der Wohlhabenden angezündet werden und die Polizei nicht viel dagegen tun kann:
Wer sage denn, dass der Kampf der Armen gegen die Reichen eine Einbahnstraße sein müsse? Ihm sei aufgefallen, dass in seinen Kreisen, unter den wohlhabenden Kreativen, immer weniger Leute einen Fernseher besäßen. (...) Wer aber eine Unterschichtwohnung aufsucht, vielleicht, weil der eigene Sohn auf dem Schulweg verprügelt wurde oder weil man eine Rechnung, an der Steuer vorbei, in bar begleichen möchte, der stellt fest, dass dort immer, wirklich immer, ein riesiger und sehr neuer Fernseher steht.
Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Ich erinnere mich an einen Bericht über eine als besonders bedürftig geschilderte Familie; es war in der Zeit, als die Flachbild-Fernseher gerade aufkamen und noch sehr teuer war. Die Kamera blickte in die Wohnung der Armen, und dort prangte ein solches Objekt. Thilo Sarrazin berichtet in seinen Buch über eine interne Anweisung an Kameraleute, dergleichen nicht ins Bild zu setzen (siehe Notizen zu Sarrazin (4): "Mitleidslos"? Sarrazin über Armut und Sozialpolitik in Deutschland; ZR vom 19. 10. 2010).

Es hat sich halt manches umgedreht seit der Zeit von dem Zille seinem Milljöh. Damals waren die Armen verhärmt und die Reichen feist; heute sind die Übergewichtigen vorwiegend die Armen. Damals war Luxus eine Sache der Reichen; heute unterscheiden sich der Unterschichtler und der Kulturmanager in der Wahl dessen, was sie sich als Luxus leisten. Zum Beispiel einen überdimensionierten 3-D-Fernseher.

Unser - Martensteins - Manager also sinnt auf Rache für zerstörte Autos:
Er würde es gut finden, wenn kleine Gruppen, zwei oder drei Wohlhabende, tertiärer Sektor, nachts maskiert in die Unterschichtwohnungen einsteigen und dort die neuen, teuren Fernseher mit Eisenstangen kaputtschlagen. (...) Man müsse Farbdosen dabeihaben, und nach vollbrachter Tat müsse man an die Wand eine Parole sprühen, etwa: "Eure Armut kotzt uns an!" Oder: "Nie wieder Bauer sucht Frau!"
Naja, werden Sie vielleicht sagen. Ob sich das nun Martenstein bei einem Schwarzriesling ausgedacht hat oder ob es diesen Kulturmanager wirklich gibt und er auf einer Party nach reichlich Whisky seiner Gewaltphantasie freien Lauf gelassen hat - was soll dergleichen Alberei? So etwas Abwegiges?

Ja eben. Das ist es ja. Was dieser Kulturmanager sich überlegt, ist - als Phantasie - das Normalste von der Welt. Gar nicht abwegig. Wir Menschen sind so beschaffen, daß wir Aggression mit Gegenaggression beantworten möchten. Es denen heimzuzahlen, die einem Böses tun, ist ein gesunder Impuls.

Abwegig erscheint das den Meisten auch nicht, solange die Aggression von unten nach oben verläuft. Die Empörung über diese Kriminalitätsform des "Abfackelns" hält sich in Grenzen. Aber stellen Sie sich einmal vor, was in den Medien los wär, wenn des Kulturmanagers Phantasie in Realität umgesetzt würde - "Drei Söhne aus reichem Haus schlagen Fernseher von armen Familien kaputt!". Stoff für empörte Schlagzeilen und für ein halbes Dutzend Talkshows.



Auch da ist unsere Gesellschaft mit ihrer Moral halt sehr, sehr ungewöhnlich.

Früher einmal erwartete man Aggressivität bei den Oberen und unterband sie bei den Unteren. Über "the oppressor's wrong, the proud man's contumely" klagt Hamlet; von Schlegel recht frei mit "des Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen" übersetzt.

Heute gehört es zu unserer Moral, den Unteren viel nachzusehen; an die Wohlhabenden aber umso strengere Maßstäbe anzulegen. Quod licet bovi non licet Jovi. Daß auch ein Kulturmanager sich in seiner Phantasie Rache gegen "die da unten" ausmalt - nein, das geht doch nicht. Stoff also für Harald Martenstein.
Zettel



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