1. Juli 2011

Zitat des Tages: "Jeder Vorbehalt wurde als Parteinahme gewertet". Jean Daniel über die Diskussion zum Fall Strauss-Kahn

... on a idéologisé toutes les positions, et la moindre réserve était interprétée comme une mentalité de classe. Il y avait un homme et une femme, il y avait un riche et une pauvre, il y avait un juif et une musulmane, bref, toute réserve sur le bienfondé des charges du procureur était censée révéler un parti pris.

(... man hat alle Positionen ideologisiert, und selbst der geringste Vorbehalt wurde als Klassendenken interpretiert. Da waren ein Mann und eine Frau, da war ein Reicher und eine Arme, da war ein Jude und eine Moslemin; kurz, jeder Vorbehalt, ob die Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft denn auch wohlbegründet seien, wurde so gewertet, als sei er eine Parteinahme.)
Jean Daniel im Nouvel Observateur, in dem er heute die neue Entwicklung im Fall Strauss-Kahn kommentiert und an die Debatte zu dem Fall erinnert.


Kommentar: Jean Daniel, vielleicht der bedeutendste lebende französische Journalist und der Große Alte Mann des französischen Journalismus (er wird im Juli 91 Jahre), ist in Deutschland leider kaum bekannt; es gibt zu ihm noch nicht einmal einen Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia. Ausführlich können Sie sich über ihn in der französischsprachigen Wikipedia informieren; aber wer Französisch liest, dem ist sein Name wahrscheinlich ohnehin geläufig.

Ich habe ihn immer wieder einmal zitiert und dabei auch das eine oder andere aus seiner Biografie berichtet; zum Beispiel hier: Gedanken zu Frankreich (33): Die Debatte über nationale Identität wird heftiger. Eine kleine Hommage an Jean Daniel; ZR vom 11. 12. 2009; "Das Thema der nationalen Identität richtet sich gebieterisch an jeden von uns"; ZR vom 21. 2. 2010 und "Das Schlimmste kann kommen". Jean Daniel über die Lage in Tunesien. Die islamistische Gefahr; ZR vom 16. 1. 2011.

Auch zum Fall Strauss-Kahn gab es in ZR Zitate von Jean Daniel (Wie Dominique Strauss-Kahn im Augenblick als U-Häftling lebt. Rikers Island, die Justiz, die Medien; der Fall Kachelmann; ZR vom 17. 5. 2011). Damals vor sechs Wochen, unmittelbar nach der Festnahme von Strauss-Kahn, hatte Jean Daniel heftig gegen die Art protestiert, wie man den Festgenommenen behandelte - durch die amerikanische Justiz, in den US-Medien ("die publizistische Organisation einer Hinrichtung").

In seinem heutigen Kommentar schreibt er, daß dieser damalige Kommentar zu einer "sehr interessanten Korrespondenz" mit seinen Freunden bei der New York Times geführt hätte, die ihm eine besondere Gefälligkeit gegenüber den Mächtigen (complaisance avec les puissants) vorgeworfen hätten. Es sei ihm aber nur um Gerechtigkeit gegangen, nicht eine sentimentale Solidarität mit Strauss-Kahn.

Aber offenbar ist es schwer, bei einem solchen Fall emotional auf Distanz zu bleiben. Wir haben das gerade in Deutschland am Fall Kachelmann erlebt; die Emotionalisierung im Fall Strauss-Kahn in Frankreich und ist noch weit größer. Und auch in den USA hat der Fall hohe Wellen geschlagen.

Denn hier geht es nicht nur darum, daß - wie bei Kachelmann - Feministinnen wie Alice Schwarzer sich ohne Rücksicht auf die Fakten gegen einen beschuldigten Mann ins Zeug legen und auf der anderen Seite man felsenfest von dessen Unschuld überzeugt ist, nur weil er von einer Frau beschuldigt wird; sondern beim Fall Strauss-Kahn spielen noch die anderen von Jean Daniel genannten Momente eine Rolle: Er ist ein weißer Mann, die Beschuldigerin eine schwarze Frau; er ist reich, sie arm; und sie ist Moslemin, er Jude.

Das rührt einen ganzen Strudel an Emotionen auf; und in Frankreich kommt noch hinzu, daß ein dort hochgeschätzter Mann von der Justiz der USA wie ein gemeiner Verbrecher behandelt wurde. Sogar in Handschellen hat man ihn der Presse vorgeführt. In Frankreich ist es strafbar, einen mit Handschellen gefesselten Untersuchungshäftling auch nur im Bild zu zeigen.



Umso größer ist jetzt die Genugtuung der Franzosen. Es wird bereits diskutiert, ob man die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten nicht verschieben sollte, damit Strauss-Kahn noch ins Rennen gehen kann.
Zettel



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