7. August 2011

Zettels Meckerecke: Anonymität im Internet? Ja, selbstverständlich! Wollen wir denn totalitäre Verhältnisse?

Der Bundesinnenminister fordert laut "Spiegel-Online" ein "Ende der Anonymität im Internet". Und das soziale Netzwerk Google+ dekretiert:
13. Angezeigter Name
Verwenden Sie den Namen, mit dem Sie normalerweise von Freunden, Familie und Kollegen angesprochen werden. Dies dient der Bekämpfung von Spam und beugt gefälschten Profilen vor. Wenn Ihr voller Name beispielsweise Sebastian Michael Müller ist, Sie normalerweise aber Bastian Müller oder Michi Müller verwenden, sind diese Namen auch in Ordnung.
Immerhin, der Personalausweis wird offenbar noch nicht überprüft.

Auf den ersten Blick erscheint die Forderung nach Klarnamen im Internet vernünftig: Schließlich verwenden die meisten von uns ja auch im Leben außerhalb des Internet ihren richtigen Namen und kein Pseudonym. Der Arzt Dr. Quack hat diesen Namen auf seinem Praxisschild stehen, benutzt ihn, wenn er einen Flug bucht, wenn er im Hotel eincheckt, wenn er für seine heimliche Freundin Blumen kauft, wenn sich an den Tresen einer Kneipe stellt und mit jemandem über Politik diskutiert, wenn er in der Bahnhofsbuchhandlung ein Männermagazin kauft, wenn er das Grab seiner Mutter besucht, wenn er im Stadtpark spazierengeht.

Oh pardon, jetzt habe ich mich, glaube ich, vergaloppiert. Dr. Quack wird sich vermutlich weder der Blumenverkäuferin noch dem Mann am Bahnhofskiosk als Dr. Quack vorstellen, auch nicht dem Kneipenwirt und dem Mann, mit dem er am Tresen diskutiert; möglicherweise wird er sich noch nicht einmal als Dr. Quack im Hotel eintragen. Denn es muß ja nicht jeder immer gleich wissen, daß er es mit Dr. Quack zu tun hat.

Meist wird er übrigens ja auch gar nicht nach seinem Namen gefragt, der Dr. Quack. Es gibt gar keinen Anlaß, diesen zu nennen. Nur Soldaten und Teilnehmer wissenschaftlicher Konferenzen haben ein Namensschild angeheftet; und dieses verschwindet, wenn sie die Uniform ausziehen bzw. den Konferenzort verlassen.

Schon gar nicht käme Dr. Quack auf den Gedanken, alles das, was er in seiner Freizeit tut, zu protokollieren und in seiner Praxis auszuhängen, damit seine Patienten beim Warten etwas zu lesen haben. Und damit sie erfahren, was ihr Doktor für einer ist. Oder es in die örtliche Tageszeitung zu stellen, damit dieses Wissen nicht auf seine Patienten beschränkt bleibt. Oder in eine überregionale Zeitung. Oder gar ins World Wide Web.



Damit sind wir beim Punkt: Die simple Wahrheit ist, daß wir auch im Leben außerhalb des Inernet, im Real Life (RL), meist anonym sind. Niemand fragt mich nach meinem Namen, wenn ich in die Straßenbahn steige, wenn ich ein Buch kaufe, mit meiner Frau ins Theater gehe oder in einem Restaurant zu Abend esse.

Es kann sein, daß ich meinen Namen preisgebe - weil ich mit einer Kreditkarte zahle; weil ich die Karten für das Theater oder den Tisch im Restaurant auf meinen Namen bestelle. Aber das tue ich dann freiwillig.

Niemand würde es beanstanden, wenn sich herausstellt, daß Dr. Quack seine Theaterkarten auf den Namen "Mr. Quick" bestellt hat, oder den Tisch im Restaurant für "Dr. Sherlock Watson samt Gattin". Nur in relativ wenigen Situationen des RL sind wir verpflichtet, "uns auszuweisen". Vor allem aber: In der Regel gibt es keinen Ort und keine Instanz, wo die betreffenden Daten verknüpft und allgemein zugänglich gemacht werden.

Im Internet ist das aber so. Anders als in einer Buchhandlung kann Dr. Quack im Internet nicht einkaufen, ohne einen Namen anzugeben. Seinem Zechgenossen am Tresen kann er sein politisches Weltbild erläutern, ohne sich mit einem Namen vorgestellt zu haben. Will Dr. Quack aber auf einen Artikel bei "Spiegel-Online" oder in "Zettels Raum" reagieren, dann muß er das unter einem Namen tun.

Er tut es - bisher - meist unter einem Pseudonym, einem Nick. Er verhindert damit, daß via Internet etwas geschieht, das im RL als totalitärer Alptraum erscheinen würde: Daß alle seine Aktivitäten registriert, geordnet, miteinander verknüpft und derart veröffentlicht werden, daß sie jedem Menschen auf diesem Erdball, sofern er Zugang zum World Wide Web hat, uneingeschränkt zur Verfügung stehen.



Die simple Wahrheit ist, daß es eben nicht dasselbe ist, ob man sich im RL bewegt oder im Internet.

Auch im RL kann es gelegentlich sinnvoll sein, Pseudonyme zu verwenden. Schriftsteller zum Beispiel tun das seit eh und je. Aber meist schützt allein der Umstand, daß man sich eben im RL befindet, hinreichend die eigene Privatheit. Man stellt sich nur dann vor, wenn man das will. Man weist sich nur in den wenigen Fällen aus, in denen dafür ein Zwang besteht.

Im Internet liegt es in der Natur des Mediums, daß in viel größerem Umfang mit Namen operiert und hantiert werden muß. Aber es muß nicht der bürgerliche Name sein, der "Klarname". Und er sollte es in der Regel nicht sein; es sei denn, daß wir via Internet Zustände mangelnder Privatheit einführen wollen, wie sie sich nicht einmal George Orwell vorstellen konnte, als er "1984" schrieb.
Zettel



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