3. Oktober 2011

Zum Tag der Deutschen Einheit: Der Fall "Gänseblümchen". Eine Erinnerung an den Unrechtsstaat DDR

Vor einem Jahr, zum Tag der Deutschen Einheit 2010, zitierte die Partei "Die Linke" auf ihrer WebSite aus dem Ergebnis einer Umfrage: "Es wurde nachgefragt: War die DDR ein Unrechtsstaat? 72 Prozent der Westdeutschen bejahen das – im Lichte der Schlagzeilen. Aber nur 40,8 Prozent der Ostdeutschen bestätigen das – darunter die über 75-Jährigen, die das am besten beurteilen können, nur zu 26,9 Prozent! Sie sehen in dieser Phrase eine Abwertung ihrer Lebensgeschichte."

Phrase? Und wird die Lebensgeschichte derer, die unter den Nazis leben mußten, denn dadurch "abgewertet", daß man den Nazistaat ebenfalls als Unrechtsstaat bezeichnet?

Juristen mögen, wie es ihre Pflicht ist, die Frage nach dem Unrechtsstaat DDR und nach dem Unrechts-Charakter des Nazistaats abstrakt und allgemein disputieren und dabei zu unterschiedlichen Antworten kommen. Aber "Unrechtsstaat" ist ja keine originär juristische, sondern es ist eine politische Kategorie. Politisch gesehen ist ein Staat, in dem schreiendes Unrecht gesprochen wird, ein Unrechtsstaat.

Ich möchte Ihnen eine Sendung des WDR empfehlen, die heute um 12.05 auf WDR 5 ausgestrahlt wird; sie ist auf dessen WebSite auch zum Anhören verfügbar:
Fallbeil für "Gänseblümchen". Der Spionageprozess gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz im Originalton
Die Sendung besteht im wesentlichen aus Teilen des Mitschnitts eines Prozesses, der von der DDR-Justiz angefertigt wurde und der sich jetzt im Archiv der Behörde für Stasi-Unterlagen befindet. Der Mitschnitt umfaßt im Original rund fünf Stunden; daraus wurde die einstündige Sendung montiert.

Der Prozeß fand an einem einzigen Tag statt, am 23. September 1955. Angeklagt waren Dr. Karl Laurenz und Elli Barczatis.

Sie wurden beide zum Tode verurteilt und, nachdem ihr Gnadengesuch vom Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, abgelehnt worden war, am 23. November 1955 in der Untersuchungshaftanstalt Dresden I geköpft.



Worin hatten ihre Taten bestanden? Was war der Hintergrund dieser Urteile?

Elli Barczatis war Sekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl gewesen. Laurenz, der als Sozialdemokrat durch die Zwangsvereinigung SED-Mitglied geworden war, wurde 1950 u.a. wegen "mangelnder Wachsamkeit und kleinbürgerlicher Abweichungen" aus der Partei ausgeschlossen. Dieser Partei war zu Ohren gekommen, daß er sich beispielsweise dagegen ausgesprochen hatte, Kraftfahrern die Wochenendzulagen zu streichen.

Der promovierte Jurist kam vorübergehend als Rechtsanwaltsgehilfe unter und wurde 1951 wegen "Gefangenenbegünstigung" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In dem Prozeß sagte er dazu, daß er aus Gutmütigkeit Gefangenen geholfen habe.

Nach dieser Gefängnisstrafe fand Laurenz keine Arbeit mehr; laut seiner Aussage in dem Prozeß schrieb er mehr als hundert Bewerbungen. Dann sprach ihn bei einem Besuch in Westberlin ein alter Bekannter an, Clemens Laby. Laby war Agent der Organisation Gehlen, aus der später der BND hervorging. Ob Laurenz nicht "Berichte ... aus Politik, Wirtschaft, Kultur und so weiter, nicht Militär" liefern könne; so Laurenz in dem Prozeß.

Laurenz sagte zu. Er war mit Elli Barczatis liiert und erzählte ihr, daß er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Artikeln für westdeutsche Zeitungen verdiene. Er bat sie, ihm das eine oder andere aus dem Büro von Grotewohl zu berichten, das er dafür verwenden könne.

Elli Barczaitis, die von dem nachrichtendienstlichen Hintergrund keine Ahnung hatte, berichtete beispielsweise über Besuche westdeutscher Politiker bei Grotewohl; in dem Prozeß nannte sie u.a. Gustav Heinemann, Martin Niemöller und Klara Marie Faßbinder, die damals für eine Verständigung mit den DDR-Kommunisten eintraten.

Außerdem stellte sie Laurenz Dokumente zur Verfügung, in denen auf Mißstände in der DDR hingewiesen wurde. Ein Beispiel, das in dem Prozeß zur Sprache kam: In der Vorweihnachtszeit waren in den Bezirk, in dem Christstollen hergestellt wurden, nicht mehr Rosinen geliefert worden als in die anderen Bezirke, so daß nicht genügend Stollen gebacken werden konnten.



Das war die nachrichtendienstliche Qualität dessen, was Laurenz dem BND liefern konnte; keine einzige Information von politischer oder gar militärischer Bedeutung. Das war es, was die ahnungslose Elli Barczatis - von der Organisation Gehlen als Quelle "Gänseblümchen" geführt - ihrem Geliebten Karl Laurenz für seine, wie sie meinte, journalistische Arbeit mitgeteilt hatte.

Dafür wurden beide hingerichtet. Hören Sie sich das Tondokument an; das Dokument eines Prozesses im Stil Roland Freislers. Es ist teilweise schwer zu ertragen. Die Angeklagten hatten offenbar - wie anders angesichts der Schwere ihrer "Verbrechen" - nicht an eine mögliche Todesstrafe gedacht. Als der Staatsanwalt Lindner diese mit schneidender Stimme forderte, hört man auf dem Tonband einen Schrei von Elli Barczatis.

Der Vorsitzende Richter war Walter Ziegler; er wurde später zu einem der führenden Staatsrechtler der DDR. 1970 publizierte er ein Werk über das Oberste Gericht der DDR, in dem es heißt:
Der Klassenkampf, den die westlichen imperialistischen Kräfte in der Form des kalten Krieges in allen Verbrechensarten gegen die antifaschistische und sozialistische Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik entfachten, findet seine deutliche Widerspiegelung auch in der Rechtssprechung des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere auf dem Gebiet der Staatsverbrechen und der antidemokratischen Delikte.
Gerhard Niebling, der Laurenz in Hohenschönhausen verhört hatte, machte bei der Stasi eine steile Karriere und ging 1990 als Generalmajor des MfS in den Vorruhestand. Wegen seiner brutalen Verhörmethoden stand er 1997 vor Gericht, wurde aber freigesprochen. 1999 trat er in die DKP ein. 2002, ein Jahr vor seinem Tod, erschien von ihm ein Aufsatz mit dem Titel "Gegen das Verlassen der DDR, gegen Menschenhandel und Bandenkriminalität".



Ich berichte diese Details, weil von Seiten der Kommunisten immer wieder behauptet wird, Unrecht wie das des Todesurteils gegen Karl Laurenz und Elli Barczatis sei dem "Kalten Krieg" geschuldet gewesen. Es war aber dem Unrechtssystem geschuldet, das bis 1989 bestand und dessen Vertreter - viele von ihnen - auch danach unbelehrbar blieben und bleiben.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Paßbild von Elli Barczatis, archiviert und freigegeben von der BStU. Als amtliches Dokument gemeinfrei. Mit Dank an R.