22. Dezember 2011

Zitat des Tages: "Jedes Modell stößt an seine Grenzen". Über Klimamodelle, eine kluge Doktorandin und Wissenschaft als Vereinfachung

Die Leistungsfähigkeit von Modellen kann sich allerdings leicht ins Gegenteil wenden, sobald die Modelle hinsichtlich ihres Verhältnisses zum modellierten Objekt oder Prozess nicht kritisch genug hinterfragt werden. Gefährlich ist, wenn eingehende Vereinfachungen, Auslassungen und Gültigkeits-beschränkungen nicht quantitativ auf ihren Einfluss geprüft oder im Grenzfall blinden Vertrauens vollständig missachtet werden.

Diese Gefahr falscher und daraufhin enttäuschter Erwartungen an Modelle ist in der Wissenschaft aber im Übrigen die gleiche wie im Alltag: Wenn Kinder vom Raumschiffmodell erwarten, dass es mit fast Lichtgeschwindigkeit fliegen kann, oder man sich frühzeitig für Weihnachten zum Schlittenfahren verabredet, weil Wettermodelle fest mit Schnee rechnen, dann kann man feststellen, dass jedes Modell die Möglichkeit beinhaltet, irgendwann an seine Grenzen zu stoßen.
Sibylle Anderl gestern in der Rubrik "Wissen" der FAZ in einem Aufsatz, der sich mit Modellen in der Wissenschaft befaßt; Titel "Wirklichkeit richtig simuliert? - Die Kunst modellhafter Welterkenntnis".

Kommentar: Ich empfehle Ihnen diesen Artikel aus drei Gründen:

Erstens gibt er einen ausgezeichneten Überblick über Modelle in den Wissenschaften - die unterschiedlichen Arten von Modellen in den einzelnen Disziplinen, ihre Funktionen, ihre Grenzen. Gut lesbar und dabei fachlich korrekt.

Zweitens geht Sibylle Anderl insbesondere auch auf Klimamodelle ein und schreibt dazu Kluges:
Besonders brisant ist hier, dass zum einen die Zuverlässigkeit der numerischen Vorhersagen von großer Relevanz ist und auf der anderen Seite das zu modellierende System eine derartige Komplexität aufweist, dass die Frage nach der Aussagekraft der Simulationsergebnisse mitnichten trivial ist.

Verschiedene Klimamodelle besitzen verschiedene raumzeitliche Auflösungen und berücksichtigen verschiedene klimatische Prozesse in verschiedener Beschreibung. Während die großräumige Dynamik der Atmosphäre weitestgehend verstanden ist, gilt dies lange nicht für alle Prozesse, die das Erdklima beeinflussen.

Insbesondere ist es problematisch, Prozesse zu berücksichtigen, die sich auf Skalen abspielen, die von heutigen Modellen nicht aufgelöst werden können, die aber trotzdem für die Klimaentwicklung relevant sein können.
Und drittens möchte ich auf den Artikel wegen seiner Autorin aufmerksam machen. Als ich ihn las, fand ich ihn so erstaunlich kenntnisreich - sowohl im naturwissenschaftlichen Bereich als auch auf dem Gebiet der Wissenschaftsttheorie -, daß ich mir nicht vorstellen konnte, daß das eine Journalistin geschrieben hat.

Also eine Professorin? Eine, deren Namen mir bisher entgangen war, obwohl sie Naturwissenschaftlerin ist und sich zugleich mit Philosophie befaßt; eine Verbindung, die mich eigentlich interessiert? Ein wenig Goggeln brachte eine Überraschung:

Sibylle Anderl ist 29 Jahre alt, hat Physik und Philosophie studiert und promoviert gegenwärtig in Bonn über ein Thema aus der Astrophysik!

Bei solchem Nachwuchs braucht sich Deutschland keine Sorgen um die Zukunft seiner Forschung zu machen.



Zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen gibt es (wenn sie nicht, wie Sibylle Anderl, beides studiert haben) häufig ein, sagen wir, angespanntes Verhältnis. Das gilt auch für den Begriff des Modells.

Naturwissenschaftler arbeiten ständig mit Modellen, auf eine sozusagen unschuldige Weise. Was ist eine Theorie, was ein Modell? Wen interessiert das schon. Manche nennen dasselbe geistge Gebilde, das sie sich ausgedacht haben, mal Modell und mal Theorie.

Jeder, der als Naturwissenschaftler arbeitet, weiß, daß man vereinfachen muß; immer und überall.

Der Experimentator vereinfacht, indem er im Labor möglichst alle diejenigen Variablen, die ihn nicht interessieren, konstant hält.

Wenn er ein Teilsystem untersucht, dann löst er es möglichst physisch aus dem Gesamtsystem heraus. Der Physiologe, der sich für Muskeln interessiert, experimentiert beispielsweise an einem "Nerv-Muskel-Präparat", das man, sagen wir, aus einem toten Frosch herausgelöst hat; nicht am heilen Frosch. Der Teilchenpyhsiker versucht mit großem Aufwand, alle Einflüsse entweder physisch auszuschalten oder ihre Wirkung aus den Daten herauszurechnen, die er nicht untersuchen möchte (siehe als Beispiel das jüngst weithin publizierte CERN-Experiment zur Geschwindigkeit von Neutrinos; Neutrinos, schneller als das Licht. Ist Einstein jetzt überholt?; ZR vom 25. 9. 2011).

Der Psychologe freilich hat das Problem, daß er es stets mit dem ganzen Menschen zu tun hat, aus dem er nicht diejenigen Teilsysteme herauslösen kann, die er untersuchen möchte. Er muß sich anders behelfen; etwa, indem er das Verhalten von Menschen in künstlich vereinfachten Situationen untersucht.

Das ist die Datenebene. Nicht anders ist es auf der theoretischen Ebene. Keine Theorie kann "alles" erklären, kein Modell "alles" modellieren, auch nicht in einem noch so eingeschränkten Bereich. Modelle sollen bestimmte Strukturen der Wirklichkeit wiedergeben; andere ausdrücklich nicht. Würden sie alle umfassen, dann wären sie keine Modelle, sondern gewissermaßen geklonte Wirklichkeit; der Erkenntnis-wert wäre null.

Das ist Naturwissenschaftlern in der Regel klar und für sie selbstverständlich. Sie wissen auch, daß jedes Modell sich als irrig, daß jede Theorie sich als falsch erweisen kann. Nachhilfe von Philosophen erbitten sie dazu eher selten. Philosophen andererseits wollen alles gern genau wissen. In welcher Beziehung stehen Modelle zur Wirklichkeit? Bilden sie diese ab, interpretieren sie sie? "Repräsentieren" sie die Wirklichkeit? Was ist das eigentlich, "Repräsentation"? Und so fort.

Viele Naturwissenschaftler zucken bei derartigen Problemen mit der Schulter. Ich habe einmal von jemandem auf solche ihn bedrängenden Fragen eines Philosophen die Antwort gehört: Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als wir wissen. Und wir wissen verdammt wenig.
Zettel



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