15. Januar 2012

Aufruhr in Arabien (24): Guido Westerwelle und "demokratisch-islamische Parteien". Die deutsche Nordafrika-Politik vor einer verhängnisvollen Wende?

Am Donnerstag habe ich eine Vorabmeldung in FAZ.NET kommentiert, die einen Artikel von Bundesaußenminister Westerwelle zur Entwicklung in den arabischen Ländern ankündigte; Überschrift in FAZ.NET: "Westerwelle fordert Islam und Demokratie zu vereinen" (Westerwelle tritt für islamisch-demokratische Parteien ein. Dazu vorerst nur einige Fragen; ZR vom 12. 1. 2012). Ich habe diesen Artikel jetzt gelesen und komme, nun besser informiert, noch einmal auf das Thema zurück.

Ich tat gut daran, mich am Donnerstag zunächst auf das Formulieren von Fragen zu beschränken und mit einer Stellungnahme zu warten, bis ich wußte, in welchem Kontext die Zitate in der Vorabmeldung stehen. Denn manches erscheint jetzt in einem anderen Licht.

Vielleicht mögen Sie noch einmal lesen, was ich am Donnerstag geschrieben habe. Ich beziehe mich jetzt darauf.

Meine erste Frage war, was Westerwelle damit meint, daß "islamische Orientierung nicht per se rückwärts gewandte, anti-moderne, anti-demokratische und unfreiheitliche Gesinnung" bedeute. Spricht er von einer hypothetischen Möglichkeit - einen liberalen, aufgeklärten Islam, wie man ihn sich ja ausmalen kann; wie es ihn in ferner Zukunft einmal geben mag? Oder meint er den real existierenden Islamismus?

Nicht das eine und nicht das andere, geht nun aus dem Artikel hervor. Etwas dazwischen. Westerwelle entwickelt nämlich die Theorie, daß es zwei Arten des politischen Islam gebe:
Wir müssen die Umbruchprozesse in Nordafrika und der arabischen Welt politisch und wirtschaftlich unterstützen. (...) Wir müssen lernen, genau hinzusehen und zu differenzieren. Natürlich sind auch fundamentalistische, also tatsächlich "islamistische" Gruppen in den politischen Wettbewerb eingetreten, mit denen ein Dialog keine Aussicht auf Erfolg hat. In Tunesien oder Marokko beispielsweise aber sehen wir, dass bislang eher gemäßigte, moderat-islamische Parteien Mehrheiten gewonnen haben.

Es ist notwendig, gerade mit diesen gemäßigten Kräften den Dialog über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Politik und Religion zu suchen. Denn von islamischen Werten und nationalen Traditionen inspirierte Parteien haben gegenwärtig die größte Chance, sich langfristig zu mehrheitsfähigen Volksparteien in der Region zu entwickeln.
Wer sind diese islamisch-demokratischen Kräfte, auf die Westerwelle seine Hoffnung setzt? Und setzt er auf sie seine Hoffnung zu Recht? Liegt es im deutschen Interesse, diese Kräfte zu unterstützen?

Zunächst fällt auf, daß der Minister nur zwei Länder nennt, Marokko und Tunesien. Von Libyen spricht er nicht; auch nicht von Ägypten, wo die Moslem-Bruderschaft zusammen mit den noch radikaleren Salafiten bei den Wahlen 62 Prozent der Stimmen geholt hat.

Die Entwicklung in Libyen ist völlig offen. Bisher regieren Milizen; niemand kann sagen, ob sich überhaupt eine Zentralmacht etablieren kann (siehe "Libyen ist von Waffen überschwemmt"; ZR vom 28. 11. 2011). Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen sind an der Tagesordnung; siehe zum Beispiel diese Meldung vom 3. Januar und diese Meldung vom vergangenen Freitag. Der Chef des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abdel Dschalil, nennt bereits öffentlich die Gefahr eines Bürgerkriegs.

Von einer islamisch-demokratischen Kraft, wie sie Westerwelle vorschwebt, ist in Libyen nichts zu erkennen, in dem sich ja überhaupt noch kein Parteiensystem gebildet hat. Der Nationale Übergangsrat hat jedenfalls in seiner Verfassungserklärung vom 31. August 2011 die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt; siehe Scharia im neuen Libyen; ZR vom 2. 9. 2011.

Und Ägypten? Gewiß wird man die Moslem-Bruderschaft nicht zu den "moderat-islamischen" Parteien rechnen können, von denen Westerwelle spricht. Ihr 2010 in dieses Amt berufene Führer, Dr. Mohammed Badie, hat gerade erst - am 29. Dezember 2011 - bekräftigt, daß das Ziel seiner Bewegung nach wie vor eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn des Islam, die Errichtung des Kalifats und schließlich die Weltherrschaft ist (siehe diesen Beitrag vom 12. 1. in Zettels kleinem Zimmer).



Es bleiben also, sucht man nach den demokratisch-islamischen Parteien, die Westerwelle im Auge hat, allein die beiden Länder, die er auch nennt: Marokko und Tunesien.

Was Marokko angeht, so wird es üblicherweise nicht dem "Arabischen Frühling" zugerechnet, um den es Westerwelle geht. Dort hat es keinen Regimewechsel gegeben; vielmehr hat König Mohammed auch 2011 seine Politik einer vorsichtigen Demokratisierung fortgesetzt (siehe Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 1: Ägypten und der Maghreb; ZR vom 19. 2. 2011). Im Juli 2011 fand ein Referendum statt, in dem mit großer Mehrheit eine neue Verfassung verabschiedet wurde; sie beinhaltet eine weitere Liberalisierung, läßt aber im Kern die Rechte des Königs unangetastet.

Auf der Grundlage dieser Verfassung wurde im November ein Parlament gewählt. Die meisten Stimmen erhielt die islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (JDP). Ende Dezember wurde eine Regierung gebildet, in der die JDP 12 von 31 Kabinettsposten innehat, darunter das Amt des Premierministers.

Die JDP, deren Führer und jetziger Premierminister, Abdelilah Benkirane, als Linkspolitiker begann, ist in der Tat gemäßigter als die Moslem-Bruderschaft in Ägypten. Das gilt auch für die Ennahda in Tunesien, die aus den Wahlen im Oktober 2011 als die stärkste Partei hervorging (siehe Eine Analyse des Wahlergebnisses in Tunesien; ZR vom 28. 10. 2011).

Wie ernst es der JDP und der Ennahda mit der Demokratie ist, weiß allerdings niemand. Sie haben - wollen sie überhaupt regieren - in beiden Ländern keine Wahl, als sich den in ihnen geltenden demokratischen Regeln zu unterwerfen. Die Ennahda begann in den achtziger Jahren als eine radikal-islamistische Partei, die von der Moslem-Bruderschaft beeinflußt war und die beispielsweise die Besetzung der US-Botschaft in Teheran verteidigte. Sie schlug dann moderatere Töne an; ob aus taktischen Gründen oder aufgrund eines Sinneswandels, ist kaum zu entscheiden.

Aber setzen wir einmal voraus, daß diese beiden Parteien tatsächlich nicht die Scharia einführen, daß sie die Gesellschaft nicht im islamischen Sinn umgestalten wollen - ist es dann aus deutscher Sicht klug, sie zu unterstützen; so wie Westerwelle das in Aussicht stellt?

Ich kann kein einziges Argument sehen, das für eine solche deutsche Haltung spräche. Denn in beiden Ländern sind diese Parteien zwar die stärksten, aber sie haben keineswegs eine Mehrheit; auch wenn der Minister das irrigerweise behauptet ("Da, wo gewählt wurde oder wird, zeichnet sich eine Mehrheit für islamisch-orientierte Kräfte ab").

In Tunesien erreichte die Ennahda 40 Prozent der Stimmen und 90 von 216 Sitzen. Sie regiert jetzt zusammen mit zwei säkularen Parteien, der sozialdemokratischen Ettakatol und der liberalen Menschenrechtspartei CPR. In Marokko kam die JDP auf 107 von 395 Sitzen; die übrigen Parteien sind liberal, nationalkonservativ oder sozialdemokratisch bzw. sozialistisch. Sogar eine Grüne Partei gibt es im Parlament von Rabat.

Wie will Westerwelle begründen, daß Deutschland nicht diese nicht-islamistische Mehrheit in den beiden Ländern fördert, sondern ausgerechnet die - wenn auch starke - Minderheit der Islamisten; ob nun "moderat" oder nicht?

Gerade weil - anders als in Ägypten und Libyen - die Islamisten sich (jedenfalls vorläufig) dort mit einer parlamentarischen Demokratie abgefunden haben, stehen sie im politischen Wettbewerb mit Kräften, die fast ausnahmslos unseren westlichen Werten weit näher stehen als sie. Bisher war es die deutsche Politik, diese wirklich demokratischen Kräfte zu fördern, soweit das unter den bestehenden Verhältnissen möglich gewesen war. Und zukünftig?



In dem Artikel vom Donnerstag hatte ich gefragt, ob der Artikel des Außenministers eine Neuorientierung der deutschen Politik hin zur Unterstützung von Islamisten signalisiert.

Man muß das nach der Lektüre des Artikels in der Tat befürchten. Von einer Unterstützung der westlich orientierten, der liberalen oder sozialdemokratischen Parteien in Marokko und Tunesien findet man darin kein Wort. Vielmehr schließt der Artikel so:
Es besteht die Chance, dass sich gemäßigt islamische Kräfte dauerhaft als islamisch-demokratische Parteien etablieren. Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich das Leitbild islamisch-demokratischer Parteien verfestigt. Deshalb sollten wir es nach Kräften unterstützen.
Falls dies (und es klingt leider so) die Ankündigung einer neuen deutschen Nordafrikapolitik sein sollte, dann ist es die Ankündigung einer verhängnisvollen Wende. Es ist deprimierend, daß sie ausgerechnet unter einem liberalen Außenminister vollzogen wird, vielleicht sogar von ihm persönlich initiiert wurde. Das Letztere ist wahrscheinlich; denn es ist ja kein sehr häufiger Vorgang, daß ein deutscher Außenminister persönlich zur Feder greift, um in einer Zeitung die deutsche Außenpolitik zu erläutern.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.