4. März 2012

Europas Krise (10): Die Vision der Vereinigten Staaten von Europa und die deutsche Identität. Ein Gastbeitrag von Juno


In der politischen Elite Deutschlands gibt es heute ein parteiübergreifendes Bündnis für das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa. Diese große Allianz reicht von Gerhard Schröder und Joschka Fischer bis zu Guido Westerwelle und zur CDU-Reservekanzlerin Ursula von der Leyen. Allenfalls die CSU trägt stets eine gewisse Skepsis zur Schau.

Woher kommt diese außergewöhnlich breite Zustimmung zu einer Idee, die das deutsche Staatswesen letztlich grundlegend verändern – ja in gewissem Umfang wirklich "abschaffen" - würde? Und ist diese Vision überhaupt realistisch?

Beginnen wir mit einer psychologischen Vermutung: Viele Deutsche empfinden ihre nationale Identität seit der NS-Zeit mit guten Gründen als Belastung. Sie wollen Mustereuropäer sein, weil sie diese Last am liebsten loswerden und in einer europäischen Identität verdampfen lassen würden.

Im "deutsch-französischen Motor" finden sie dazu sogar den perfekten Partner, denn Frankreich ist davon überzeugt, dass es einen Identitätsbegriff hat, der auf ganz Europa erweitert werden könnte und sollte. Die Prinzipien der französischen Republik haben einen universalen Anspruch. Sie sind etatistisch, aber nicht auf eine bestimmte Völkerschaft begrenzt, und sie werden von einer hoch qualifizierten Elite selbstbewusst vertreten.

Um das deutsche Unbehagen an der eigenen Identität zu beobachten, reicht schon der Blick in den Alltag. "Typisch deutsch" ist unter Deutschen heute meist eine Schmähung. Erklärter Nationalstolz riecht nach Rechtsextremismus und kann deshalb jederzeit zu massivster sozialer Ächtung führen. Da sind die meisten lieber äußerst vorsichtig. Mit "deutschem Wesen", an dem gar die Welt genesen möge, möchte niemand in Verbindung gebracht werden. Allenfalls im Fußball und in der Industrie sind "deutsche Tugenden" unschuldig.

Nur mit Hilfe des Europagedankens lässt sich die Identitätsdebatte auf ein sicheres Terrain führen. Die deutsche Politik stützt sich dafür seit Jahrzehnten auf die Formel Thomas Manns: Lieber ein europäisches Deutschland als ein deutsches Europa.

Für die anderen Europäer ist diese Formel ein wichtiges und beruhigendes Signal. Es führt sie allerdings keineswegs logisch dazu, ihrerseit eine neue Identität in Vereinigten Staaten von Europa zu suchen. Wozu sollten sie das auch tun? Sie sind weder auf der Flucht vor sich selbst, noch verstehen sie sich – wie Frankreich - als zivilisatorisches Leitbild und geborene Führungsmacht.

Sie erhoffen sich von der engen europäischen Zusammenarbeit die unterschiedlichsten Vorteile, aber sie benötigen dieses Projekt doch nicht zur Definition ihrer nationalen Identität. Im Gegenteil: Diese Identität ist dadurch tendenziell sogar bedroht. Die Mittel- und Osteuropäer haben ihre Unabhängigkeit ja überhaupt erst vor Kurzem wiedererlangt, als sie das Projekt der sozialistischen Bruderschaft unter der Führung Moskaus abschütteln konnten.

Eine der unerquicklichsten Szenen der jüngeren Europapolitik spielte sich vor drei Jahren auf der Prager Burg ab, als die deutschen Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit (Grüne) und Gerd Pöttering (CDU) versuchten, den euroskeptischen tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus ins Verhör zu nehmen. Cohn-Bendit brachte eine Europafahne mit, die Klaus gefälligst auf seinem Amtssitz hissen sollte. Historisch instinktloser geht es kaum (siehe Ein Dialog zwischen dem Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit und dem Staatspräsidenten Vaclav Klaus; ZR vom 8. 12. 2009).

Neben den Deutschen sind es einzig noch die Belgier, die von Europa eine Lösung ihres Identitätsproblems erhoffen. Ihr Staat ist ein historisches Kunstprodukt, dessen ohnehin schwache Identität immer weiter zerfällt. Nebenbei profitiert die Region Brüssel natürlich ganz besonders von jedem Ausbau der Gemeinschaftsinstitutionen.



Die Verfechter der Vereinigten Staaten von Europa argumentieren, dass die weltpolitischen Sachzwänge trotzdem dazu führen müssten, dass alte "Kleinstaaterei" überwunden wird. Asien wird ja bekanntermaßen immer mächtiger, Amerika immer egoistischer - nur gemeinsam, so heißt es, könne Europa sich da überhaupt noch Gehör verschaffen.

In diesem Argument steckt allerdings einiges an ideologischer Selbsttäuschung und an Unaufrichtigkeit. Ideologisch erinnert es fatal an die marxistische Lehre von den angeblichen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. So wie einst der Sieg des Sozialismus notwendig und unvermeidlich war, so muss heute eben der Europa-Gedanke triumphieren; die Politik und ihre Apparatschiks haben nur das ohnehin Notwendige zu befördern.

Die große Gefahr ist, dass eine solche Politik sich in ihren eigenen Glaubenssystemen verliert – und irgendwann brutal an einer widerspenstigen Realität zerschellt.

Unaufrichtig ist das Argument, weil die "Sachzwänge", die zu den Vereinigten Staaten führen sollen, von der Europapolitik ja oft selbst mit Absicht erzeugt worden sind. Es ist dies die funktionalistische Logik, die seit den Zeiten des Gründervaters Jean Monnet Europa immer enger zusammenschweißen soll: Bürokratische Integration auf dem einen Politikfeld erzeugt Probleme, die früher oder später auch Integration auf dem nächsten Politikfeld erzwingen – und so weiter und so fort.

Von provozierter Krise zu provozierter Krise wird das gemeinsame Europa stärker. Demokratische Legitimation ist für diese bürkratische Einigungsstrategie nicht nötig, ja sogar extrem hinderlich. Spätestens die Euro-Krise zeigt, wie brandgefährlich diese Strategie sein kann.

Die gewaltige Herausforderung in den kommenden Jahren ist, dass die "Sachzwänge" zur Integration in der Tat immer größer werden. Gleichzeitig werden aber die nationalen Identitäten eher wieder stärker. Auch und gerade in Deutschland.

Die Scham über die Nazi-Diktatur hat Deutschlands Identität ja in den vergangenen Jahrzehnten deshalb so stark geprägt, weil ihre extrem schmerzhaften Folgen für alle unübersehbar waren - menschliche, städtebauliche, weltpolitische Folgen. Bei allem Bestreben, nach 1945 schnell zu einer Normalität des Lebensalltags zurückzufinden, war es psychologisch und politisch schlicht unmöglich, einfach zu irgendeinem status quo ante zurückzukehren. Die Massengräber und die Invaliden, die Trümmer und die Sperrzonen waren ja überall – täglich greifbare Folge einer "Deutschland über alles"-Politik.

In der Nachkriegszeit mit dem Ost-West-Konflik bis 1989 wurde es dann ein Gebot der Vernunft, die Realität der nationalen Teilung zu akzeptieren und neue Formen der Identität wie den westdeutschen "Verfassungspatriotismus" zu entwickeln. Die SED ersetzte das "Deutschland einig Vaterland" durch das "sozialistische Vaterland DDR".

Europa war in dieser Zeit nicht nur ein psychologischer Sehnsuchtsort, sondern auch eine einzigartige realpolitische Chance für die Deutschen. Das moralisch so gründlich ruinierte Land konnte hier wieder in den Kreis der Weltgemeinschaft zurückfinden. Die europäischen Nachbarn ließen die Deutschen Schritt für Schritt wieder zu sich über die Grenze und an den gemeinsamen Tisch. Sie erlaubten ihnen schließlich sogar die Wiedervereinigung und die Rückgewinnung der vollen staatlichen Souveränität. Ein überdurchschnittliches Engagement der Deutschen für diese Gemeinschaft – und eine überdurchschnittliche Identifikation mit ihr - war da selbstverständlich.



Heute ist das Land allerdings auf dem Weg zu einer neuen Normalität. Die Generationen, die den Krieg und seine unmittelbaren Folgen erlebt haben, sterben langsam aus. Die Städte sind runderneuert und fast narbenfrei, das geeinte Deutschland hat seine Form gefunden und ist völkerrechtlich ein Staat wie jeder andere. Am Potsdamer Platz in Berlin gehen die Massen wieder ins Kino oder ins Restaurant (oder alle Jahre wieder zum Fußball-Public Viewing).

Für die jüngeren Deutschen ist es längst selbstverständlich, dass sie gleichberechtigt in aller Welt herumreisen, ohne wegen der Geschichte ihres Landes als moralisch aussätzig zu gelten. Für die vielen, deren Familie erst nach 1945 nach Deutschland eingewandert ist, gilt das natürlich erst recht. Was haben sie eigentlich mit den Nazis zu tun?

Die NS-Vergangenheit wird also für die Deutschen eine zunehmend abstrakte, eher verkopfte Angelegenheit. Es wäre fatal, sie zu vergessen. Aber die Probleme, denen die Deutschen in der politischen Realität begegnen, sind jetzt ganz andere: Von ihnen wird in der Euro-Krise plötzlich sogar ausdrücklich Führung erwartet – nicht nur Wirtschaftshilfe wie eh und je, sondern auch intellektuelle Führung.

Die neue Normalität wird sich also nicht darin erschöpfen können, dass sich die Deutschen unauffällig auf ein historisches Rollband Richtung Vereinigte Staaten von Europa einfädeln, wo dann - siehe Europahymne: "Alle Menschen werden Brüder" - die leidige Alt-Identität rückstandslos ins ewig Gute verdampft.

Sie wird sehr viel anstrengender. Der verunglückte Kauder-Spruch, in Europa werde jetzt "Deutsch gesprochen", zeigt schlaglichtartig das Problem: Wer führen soll, muss eigene Ideen entwickeln, für andere mitdenken und investieren; er muss zugleich damit leben können, ständig in der Kritik zu stehen. Die USA kennen diese Probleme nur allzu gut.

Die große Frage ist, ob die Deutschen dafür die richtige innere Gelassenheit aufbringen werden.
Juno



© Juno. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.